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USA: #BaltimoreRising

Der Mord an Freddie Gray Mitte April in Baltimore offenbarte ein weiteres Mal den tief verwurzelten Rassismus in den USA und führte zu tage- und wochenlangen Aufständen in der ehemaligen Hafen- und Industriemetropole. (Red.)


von Imani Wadud und Sebastian Weier*; aus Analyse&Kritik
Der Aufstand von Baltimore steht für eine neue amerikanische Bürgerrechtsbewegung, deren Ursprünge tief in die Geschichte und Gesellschaft der USA hineinreichen und die doch zugleich Ausdruck einer für die globalisierte Weltwirtschaft wesentlichen Verschmelzung von Kapitalismus und Rassismus sind. Die Bewegung, die sich um den Ausruf »Black Lives Matter!« sammelt, wurde jedoch in den Massenmedien meist sehr verkürzt dargestellt. Denn diese interessieren sich nur wenig für die Missstände in mehrheitlich schwarzen Städten wie Baltimore und haben es bislang weitgehend vermieden, die Polizei der Stadt für ihren fortgesetzten Machtmissbrauch und die seit Jahren anhaltenden Übergriffe gegen Minderheiten verantwortlich zu machen.
Ganz gleich welcher politischen Ausrichtung, ob Web oder Print: Nichtalternative Medien überzeichneten immer wieder die gewalttätigen Aspekte jenes Aufstands, der am 27. April 2015 in Baltimore als Reaktion auf den Tod des 25 Jahre alten Freddy Gray stattfand, dem in Polizeigewahrsam das Genick gebrochen wurde. Zugleich mangelt es ihnen an Einfühlungsvermögen, um eine alternative Erzählung zu diesem »amerikanischen« Problem zu schaffen.
Dadurch entsteht der Eindruck, die in schwarzen Gemeinschaften überall im Land angeprangerten Übel seien diesen selbst zuzuschreiben. Ausschreitungen und Plünderungen der eigenen Nachbarschaft werden seit langem einer »Kultur der Armut« zugewiesen, anstatt sie als Ergebnisse von jahrzehntelanger, institutionalisierter Gewalt, von Vorurteilen, Vernachlässigung und Kriminalisierung zu analysieren.

Die Aufständischen finden kein Gehör

Die Forderungen von People of Color nach sicheren und erschwinglichen Wohnungen sowie nach Ausbildungsplätzen beantwortete die Polizei mit Straßenblockaden. Doch anstatt sich solidarisch mit den Anliegen der Aufständischen zu zeigen, reproduzierten die meisten Berichte die Erzählung, diese immer schon kriminalisierten Minderheiten seien besonders gewaltbereit.
Damit ermöglichen sie es dem Staat, die übermilitarisierte Überwachung und das folgenlose Schikanieren und Ermorden von Afroamerikaner_innen fortzusetzen. Statt auf die für die US-Gesellschaft wesentlichen strukturellen rassistischen Verwerfungen einzugehen, erschöpft sich die Berichterstattung zu den Aufständen in Baltimore und anderorts in der Quantifizierung von Sachschäden sowie der prinzipiellen Verurteilung dieser »Gewalt«.
Während nichtfriedliche Proteste von Minderheiten in der Regel als Beweis dafür gewertet werden, dass diese bedrohlich sind und polizeilich eingehegt werden müssen, werden die Übergriffe von Polizist_innen immer wieder als Unfälle oder Verfehlungen Einzelner verklärt. So geschah es etwa im Fall von Trayvon Martin in Florida, Michael Brown in Ferguson und Eric Garner in New York, aber auch bei den medial fast vollkommen verschwiegenen Morden an schwarzen Frauen wie der sieben Jahre alten Aiyana Stanley-Jones in New York, Tanisha Anderson in Cleveland oder Sheneque Proctor in Alabama.
Die Polizist_innen werden für ihre Taten fast nie belangt. Wie eine vor kurzem von der Washington Post veröffentlichte Studie zeigt, gab es in den letzten zehn Jahren in den USA nur 54 Prozesse zu Polizeimorden, von denen die meisten ohne Verurteilung endeten. Obwohl es keine offiziellen Zahlen zu tödlichen Zwischenfällen mit Polizeibeamt_innen gibt, geht man davon aus, dass es nur in einem von 1.000 Fällen zu einer Verurteilung kommt.

Rassismus und sozialer Ausschluss

In den USA wurde dieses Jahr im Durchschnitt alle acht Stunden eine Person von der Polizei getötet. Den US-amerikanische Blick auf die Ursachen der Neuen Bürgerrechtsbewegung – ebenso wie der diesen reproduzierende europäische Blick – verkörpert jene Polizeikamera, die seit Jahren durchgehend den Ort überwacht, an dem die Polizei Freddy Gray festnahm und in den Polizeiwagen sperrte, in dem er tödlich verletzt wurde. Nachdem diese Kamera über Jahre hinweg geholfen hatte, Einwohner_innen der Gilmore Homes Housing Projects[1] hinter Gitter zu bringen, funktionierte sie genau an dem Tag nicht, an dem sie zur Zeugin gegen den Staat geworden wäre.
Der Aufstand von Baltimore wird immer wieder mit den antirassistischen Aufständen und Protesten der 1960er Jahre verglichen – insbesondere jenen, die 1967 Detroit erschütterten und von konservativen Kommentator_innen gerne als Ursache für den Niedergang der Stadt mythologisiert werden. Doch in diesem Vergleich offenbart sich vor allem die historische Kontinuität dessen, wie sich in den USA Rassismus und kapitalistische Ausbeutung überschneiden.
Wie Detroit war auch Baltimore aufgrund seiner blühenden Industrie zu einer Metropole schwarzen Lebens geworden, bevor die Stadt außergewöhnlich hart von der Globalisierung und der damit einhergehenden wirtschaftlichen Umstrukturierung getroffen wurde. Bereits in den 1970er Jahren sang Nina Simone deshalb vom Leid der »hard town by the sea« und fragte: »Oh Baltimore, ain’t it hard just to live?«
Der wirtschaftliche Wandel hatte zur Folge, dass die oft schlecht ausgebildeten schwarzen Arbeiter_innen für die Wirtschaft immer unwichtiger und entbehrlicher wurden. Gleichzeitig führten Law-and-order-Politiken wie der »war on drugs« und die davon angetriebene Ausweitung und Militarisierung der polizeilichen Überwachung dazu, dass eine gigantische private Gefängnisindustrie entstand, in der People of Color auch heute noch überproportional stark vertreten sind.
Im Kontext dieses gefängnisindustriellen Komplexes wurden schwarze Körper – nicht schwarze Menschen – im engsten Sinne zu Kapital. Es ist hier nicht mehr die Ausbeutung einer nicht mehr relevanten Arbeitskraft, sondern die Verfügung über schwarze Körper, die in Form staatlich subventionierter Häftlinge Mehrwert produziert.
Der Aufstand von Baltimore und das verzerrende Medienecho sind als Kampf um diese Kommodifizierung[2] und die dafür notwendige Kriminalisierung schwarzen Lebens zu verstehen. Während sich die verfeindeten Gangs Crips und Bloods[3] zusammenschließen und in Fernsehinterviews für gewaltfreie Proteste argumentieren, beschreibt der konservative Fernsehsender Fox News dies als einen Bund zur Ermordung von Polizist_innen, und die New York Times bedauert vor allem das zerstörte Eigentum. Stets geht es darum, schwarzes Handeln und schwarzen Widerstand als Delikt zu beschreiben und den schwarzen Körper zu (re-)kriminalisieren.

Neue Bürgerrechtsbewegung versus schwarze Eliten

Das eigentlich neue Moment des Aufstands von Baltimore für die #BlackLivesMatter-Bewegung ist jedoch die Verschärfung der Gegensätze zwischen dieser neuen Bürgerrechtsbewegung und weiten Teilen der schwarzen Eliten. Letztere entstammen oft noch der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre. Sie besinnen sich lieber auf alte Erfolge und ihren Anteil daran, statt die aktuelle Notwendigkeit radikaler schwarzer Politik anzuerkennen oder gar zu unterstützen.
Baltimore hat eine schwarze Oberbürgermeisterin und einen schwarzen Polizeichef, die Stadt ist aufgrund ihrer großen schwarzen Bevölkerung eine beliebte Bühne für die Selbstinszenierung schwarzer Politiker_innen. Doch gerade dort hat die in den letzten Jahren stetig wachsende Wut gegen die Eliten – welche stets darauf erpicht sind, die durch die jüngsten Polizeimorde verursachte nationale und internationale Aufmerksamkeit zur eigenen Profilierung zu nutzen – Form angenommen und die Proteste mitgeprägt.
Gerne besuchen Abgeordnete und andere Personen des öffentlichen Lebens die Begräbnisse ermordeter Personen, um ihr Mitgefühl kundzutun und Kritik am strukturellen Rassismus der USA zu äußern. Doch keine dieser Reden kommt ohne Formeln aus, die nicht gewaltlose Protestformen verurteilen und kriminalisieren.
Angesichts der anhaltenden Polizeigewalt gegen Schwarze empfnden immer mehr Menschen den Aufruf zum friedlichen Widerstand als Hohn – vor allem, wenn sie nicht in ruhigen Villenvierteln leben, sondern dieser Gewalt permanent ausgesetzt sind. Diese Menschen sind es, die auf den Straßen demonstrieren und die Sit-ins und Die-ins veranstalten, um ihre Freiheit, um ihren Stolz und ihre Selbstbestimmung zu demonstrieren – etwa indem sie sich weigern, die Einschränkungen der Demonstrationsrechte in Ferguson oder die in Baltimore verhängte Ausgangssperre hinzunehmen.
Doch Baltimore ist mehr als das Symptom eines rein amerikanischen Dilemmas. Auch in Europa vermischten und vermischen sich weiterhin die Mechanismen kapitalistischer Ausbeutung und Rassismus. Auch in Europa ist die Kriminalisierung und Kommodifizierung schwarzer Körper gang und gäbe – etwa durch die Gleichsetzung schwarzer Menschen mit Drogenhandel oder in den Kostenabwägungen bei den Entscheidungen zur Seenotrettung im Mittelmeer. Europas schaulustiger Blick auf die brennenden Städte der USA ist zugleich ein Blick weg vom eigenen Rassismus, weg von den eigenen brennenden Vorstädten.
#BaltimoreRising meint nicht nur Widerstand gegen antischwarze Polizeigewalt in den USA. Vielmehr zeigt sich hier Widerstand gegen transnationale Verhältnisse, in denen Leben kriminalisiert und Menschen auf Körper reduziert und kommodifiziert werden. Der Aufstand in Baltimore wird nicht das letzte Ereignis dieser Art sein. Vielmehr dürfen wir in den kommenden Jahren zwei, drei, viele Baltimores erwarten.
[1] Gilmore Homes ist ein sozialer Wohnungsbau im Stadtteil Sandtown-Winchester, der von strukturellem Rassismus und Vorurteilen geplagt ist. Dies zeigt sich unter anderem an viel Leerstand, einem schlechten Gesundheitssystem sowie einem hohen Maß an Arbeitslosigkeit, Drogenkonsum und Gewalt.
[2] Als Kommodifizierung bezeichnet man den Prozess der Kommerzialisierung bzw. des »Zur-Ware-Werdens«. Mit der Kommodifizierung geht die Privatisierung von Dingen und Gütern einher.
[3] Die Crips und die Bloods sind zwei der drei großen US-Gangs. Beide kommen aus dem Gebiet von Los Angeles, Kalifornien. Die drittgrößte Bande ist die Mara Salvatrucha, diese steht jedoch weder zu Bloods noch zu Crips in einer ähnlich feindlichen Beziehung wie diese zueinander.

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Imani Wadud kommt ursprünglich aus Washington D.C. Sie studiert an der Universität Regensburg und arbeitet vor allem zu Performance, Memory und Visual Culture Studies. Sebastian Weier promoviert an der Universität Bremen zu den Zusammenhängen zwischen Rassekonstruktionen und Technologie als Grundlage einer Kritik von White Supremacy.

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