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8 Fragen und Antworten zur «Schuldenkrise» in Europa

Was zurzeit in Europa stattfindet, kommt einer riesigen Enteignungswelle gleich, in deren Zuge sich die internationalen Finanzinstitute und grossen Industriefirmen auf Kosten der Bevölkerungen Europas bereichern. Nachstehend acht Fragen und Antworten zum Thema „öffentliche Schulden und private Bereicherung“. (Red.)

Warum haben Staaten Schulden?

Im Unterschied zu den meisten privaten Haushalten kann der Staat in gewissen Grenzen seine Einnahmen selbst bestimmen: Er kann Steuern und Abgaben erhöhen oder senken. Ein Staat hat auch andere Aufgaben als ein privater Haushalt: Er muss für wirtschaftliche Entwicklung sorgen, die Infrastruktur ausbauen, die Daseinsvorsorge regeln. Daher ist Angelas Merkels Vergleich mit der «schwäbischen Hausfrau» Unsinn. Schulden entstehen, wenn die Steuereinnahmen zu gering ausfallen. Das kann aus konjunkturellen (Wirtschaftskrise) oder strukturellen (Steuersenkungen für die Reichen) Gründen geschehen. Staatsschulden sind nicht per se negativ: Sie sind gerechtfertigt, wenn das Gemeinwesen oder die soziale Sicherheit dadurch gefördert wird oder wenn damit Zukunftsinvestitionen wie eine Umstellung auf fossilarme Produktion oder die Umstellung der Rüstungsindustrie auf zivile Produktion finanziert werden.

Warum hat Deutschland Schulden?

Deutschland war im 20.Jahrhundert «Schuldenkaiser»: Zwei verlorene Weltkriege wurden auf Schuldenbasis finanziert, dafür haben die Bürger mit Inflation und Währungsreformen bezahlt. Erst der Schuldenerlass der Alliierten und der Nachkriegsboom haben Deutschland erlaubt, von den Schulden runter zu kommen. Den niedrigsten Schuldenstand hatte Deutschland 1970: 18%, gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP). Die tiefe Krise der Weltwirtschaft 1973/74 und das Konjunkturprogramm der sozialliberalen Regierung führten zu einem ersten Schuldensprung. Die sich entwickelnde Massenarbeitslosigkeit riss sodann Löcher in die Sozialkassen. Der Anschluss der DDR 1990, der bis heute netto etwa 1,6 Billionen Euro kostete und der in erheblichem Maße aus den Sozialkassen bezahlt wurde, brachte den nächsten Defizitschub. Sodann stabilisierte sich der Schuldenberg auf hohem Niveau, bis die Regierung Schröder/Fischer 2000 den Unternehmern ein großes Geschenk machte: Senkung des Spitzensteuersatzes und Abschaffung der Besteuerung von Gewinnen aus Unternehmensverkäufen. Daraus ergaben sich Mindereinnahmen von jährlich über 50 Mrd. Euro. Den (vorläufig) letzten Schuldensprung bewirkte die Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008: Die Abwrackprämie kostete fünf Milliarden, das Kurzarbeitergeld gut eine – aber die Bankenrettung über den Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung (Soffin) bereits 22,1 Mrd. Euro. Die wahrscheinlichen Verluste der «Bad Banks» HRE und WestLB liegen jedoch beim Zehnfachen!

Deutschland hat aber auch Europa geholfen!

Zum ersten Rettungspaket für Griechenland 2010 steuerte die BRD 22,4 Mrd. Euro bei, zwei Drittel davon als Kredite der bundeseigenen Förderbank KfW, die mit Aufschlag an Griechenland weitergereicht wurden. Der Bundesregierung hat dieses erste Rettungspaket also Einnahmen gebracht.Weil das nicht reichte, wurde im selben Jahr der Europäische Stabilisierungsfonds (EFSF) eingerichtet; er bekam kein Geld von den Regierungen, sondern nahm Anleihen am Kapitalmarkt auf, mit denen er wiederum Anleihen notleidender Staaten kaufte. Der Zweck der Übung war, die Anleihen billiger zu machen. Für die Rückzahlung haftet Deutschland mit bis zu 211 Mrd. Euro. Der EFSF war befristet. Deshalb wurde er vom Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM) abgelöst – eine Art europäischer Währungsfonds, der Notkredite und Bürgschaften vergeben kann, nicht nur an Staaten, sondern auch an Banken. Deutschland haftet hier mit maximal 190 Mrd. Euro. Werden die Anleihen zurückgezahlt, gibt es kein Problem. Die Sorge ist, dass Länder, die unter den Rettungsschirm müssen, ihre Schulden nicht zurückzahlen können. Griechenland wird das nicht können. Die «Hilfe» ist nämlich zu teuer, zum einen wegen der Zinsen, zum anderen wegen der damit verbundenen Sparpakete: Sie sind so drakonisch, dass die griechische Wirtschaft zerstört wurde. Aus diesen Gründen steigt der griechische Schuldenberg auch weiter: Der Anteil der Staatsschulden am BIP lag 2010 bei 142,8%, inzwischen bei 160%.Die «Hilfsgelder» für Griechenland gehen auf ein Sperrkonto, von dem sie direkt an die Gläubiger fließen, die griechische Regierung sieht davon kaum etwas. So wird Griechenland in die Schuldknechtschaft getrieben. Bei Italien, Spanien, sogar Portugal ist ein Zahlungsausfall aber gar nicht zu befürchten. Diesbezüglich ist Griechenland wirklich eine Ausnahme. Ultraliberale und rechte Populisten wie Hans-Werner Sinn erwecken den Eindruck, als seien Bürgschaften der Bundesregierung oder gar Verrechnungskonten der Bundesbank dasselbe wie ein realer Kredit. Mit falschen Zahlen schüren sie Angst und Entsolidarisierung und heizen den Sparwahn an.

Bei wem hat Deutschland Schulden?

Bund, Länder und Kommunen hatten 2010 zusammengenommen 2000 Mrd. Euro Schulden, über 60% entfallen auf den Bund, nur 7% auf die Kommunen. Nach Schätzungen der Bundesbank ist das Ausland mit 1000 Mrd. Euro der größte Gläubiger, es folgen mit 560 Mrd. die Kreditinstitute, mit 400 Mrd. Bausparkassen, Versicherungen, Privatleute u.ä., 1% liegen bei Sozialversicherungen und der Bundesbank. Für jede Milliarde Euro Schulden müssen 45 Mio. Zinsen gezahlt werden – im Jahr 2011 war das soviel wie die Neuverschuldung (62 Mrd. Euro). Am spürbarsten wirkt sich die Staatsverschuldung bei den Kommunen aus. Sie wurden schon vor der Einführung der Schuldenbremse eng an die Kandare gelegt, viele Ruhrgebietsstädte stehen seit der De-Industrialisierung unter Haushaltskuratel. Während der Bund die Forderungen der Banken bedient, halst er den Kommunen Aufgaben auf, die, wie die Übernahme der Wohnungskosten für Hartz-IV-Bezieher, nicht in ihren Aufgabenbereich gehören. So verwahrlosen die Städte und die Privatisierungsorgie wird immer weiter getrieben. Wie in Griechenland wird auch hier am falschen Ende gespart.

Schulden muss man zurückzahlen.

Das sieht Deutschland, wenn es um seine eigenen Schulden geht, nicht so. Nach dem Ersten Weltkrieg, den Deutschland mit angezettelt hat, war es über beide Ohren verschuldet. Aber Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht erklärte: «Ich will nicht zahlen, und deshalb akzeptiere ich keine Theorie, dass ich zahlen muss.» Alle Krisen der Weimarer Republik, angefangen von der Hyperinflation bis zum Aufstieg der Nazis, dem Ausscheiden aus dem Völkerbund und dem Krieg für ein großdeutsches Reich hängen mit dieser Weigerung zusammen. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam Deutschland nur deshalb wieder auf die Beine, weil die Alliierten, vornehmlich die amerikanischen Steuerzahler, einen großen Teil der deutschen Schuldenlast übernahmen. Der Rest hätte nach der deutschen Wiedervereinigung gezahlt werden sollen. Doch obwohl Deutschland da wieder satt und reich war, hat es sich geweigert zu zahlen. Selbst Griechenland gehört zu Deutschlands Reparationsgläubigern. Die Rechtsnachfolger der deutschen Unternehmen und Institutionen, die Griechenland ausgeplündert haben, schulden dem Land (ohne Zins und Zinseszins) 79 Mrd. Euro. Jetzt ist die Zeit, die Schuld zurückzuzahlen.

Frau Merkel hat doch recht, wenn sie sagt: Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt…

Wenn sie damit meint, wir hätten zuviel konsumiert im Vergleich zu dem, was wir produzieren, stimmt das glatte Gegenteil: Wenn überhaupt, haben wir unter unseren Verhältnissen gelebt. Den öffentlichen Schulden (2000 Mrd.) standen im Jahr 2010 viermal soviel private Vermögen (10.100 Mrd.) – 1980 entsprachen die Finanzvermögen noch dem Sozialprodukt! Die öffentlichen Haushalte sind auch nicht deshalb hoch verschuldet, weil die Staatsausgaben ins Unermessliche gestiegen wären – zwischen 1998 und 2008 sind sie sogar zurückgegangen, wenn man die Preissteigerung berücksichtigt –, sondern weil seit den 80er Jahren staatliche Einnahmequellen durch Privatisierung öffentlichen Eigentums, Abschreibungen und Steuersenkungen für Unternehmen und Besserverdienende systematisch trockengelegt wurden. Dadurch haben sich die privaten Vermögen sehr ungleich verteilt: Die obersten 10% der Bevölkerung (8 Millionen) haben dreimal soviel Vermögen wie der Staat Schulden. Am unteren Ende der Einkommensskala hingegen sind 6,4 Millionen Menschen überschuldet, über die Hälfte von ihnen kommt selbst in guten Zeiten nicht mehr von den Schulden runter.

Dann ist Umverteilen die richtige Losung?

Richtig, aber nicht hinreichend. In einem Sinn leben wir nämlich tatsächlich «über unsere Verhältnisse»: Wir produzieren seit Jahrzehnten weit über unseren Bedarf und haben damit nicht nur einen enormen Exportüberschuss aufgebaut, sondern auch eine enorme Kreditblase, die jetzt anfängt zu platzen. Die starke Exportorientierung und die Öffnung der Einkommensschere erlauben, Gewinne zu machen, die in keinem Verhältnis mehr zur heimischen Kaufkraft stehen. Immer mehr davon fließt in den Finanzsektor statt in produktive Investitionen. (Im übrigen ist das Finanzvermögen der Industrie- und Handelskonzerne inzwischen fast so groß wie ihr Realvermögen, einige unterhalten sogar eigene Banken.) Der Finanzsektor muss das Geld verleihen, sonst trägt es keine Zinsen. So entstand die Praxis, Geld auch an Menschen oder Firmen zu verleihen, die nicht solvent sind bzw. kein seriöses Geschäftsmodell haben. Die Ursache der Krise liegt nicht in der «Gier» einzelner, sondern in der Tatsache, dass es wegen der starken Anhäufung von Vermögen in den letzten zwanzig Jahren, die am anderen Ende zunehmend Armut produziert, zuviel anlagesuchendes Kapital gibt. Produktiv investiert wird dieses nur noch, wenn Renditen wie in der Finanzwirtschaft erreicht werden; der öffentliche Sektor, wo die Renditen mager, der Bedarf der Gesellschaft aber umso größer ist, geht leer aus. Die Investitionen werden immer stärker fehlgeleitet. Es gibt also einen Zusammenhang zwischen der öffentlichen und der privaten Verschuldung. Von allen Schuldnern ist der Staat dabei der kleinste, auf ihn entfallen etwa 23% der Gesamtverschuldung, auf die privaten Haushalte 25% und auf die Unternehmen (wozu auch die Finanzindustrie zählt) das meiste, nämlich 52%.

Wer soll das bezahlen?

Trotz der Billionen, die den europäischen Banken in den Rachen geschoben wurden, hat sich ihr Volumen an faulen Krediten in den letzten vier Jahren verdoppelt: von 500 Mrd. Euro auf über 1 Billion. Hinzu kommen 1500 Mrd. Euro an verbrieften Krediten, die zwar nicht notleidend sind, die die Banken dennoch abstoßen wollen, weil sie niemand mehr haben will. Zusammen macht das ein Fünftel des europäischen BIP. Und es wird immer neues Geld nachgeschoben! Ein Ende ist nicht absehbar, zumal jetzt, wo die Weltwirtschaft in eine Rezession umschlägt. Das kann niemand mehr bezahlen. Früher oder später wird es einen radikalen Schnitt geben müssen. Die gesellschaftlich entscheidende Frage ist nur: Wer bezahlt das? Darum ist in Europa jetzt ein Klassenkrieg entbrannt. Das jetzige Schuldenregime läuft auf einen Generalangriff auf Löhne, Renten, Sozialsysteme, Bildungschancen und gewerkschaftliche Rechte hinaus. In Deutschland dauert der Prozess länger, bleibt uns aber nicht erspart. Die Entwicklung wird zu autoritären Verhältnissen führen, wenn es nicht gelingt, sie zu stoppen.

Deshalb sagen wir:

Mit den Rettungspaketen für die Banken muss Schluss sein! Der Kredit- und Schuldensumpf muss trockengelegt werden. Das heißt:

  • Kein Eigenhandel der Kreditwirtschaft mehr! Gesetzliche Verpflichtung der Kreditwirtschaft auf die alleinige Aufgabe, die wirtschaftliche Entwicklung nach sozialen und ökologischen Maßstäben zu fördern!
  • Öffentliche Prüfung der Schulden (Schuldenaudit) und Streichung der illegitimen Schulden (das sind diejenigen, die durch das Gewinnstreben der Finanzinstitute entstanden sind). Gläubiger, die Spareinlagen oder Altersrücklagen kleiner und mittlerer Einkommensschichten sammeln, sind davon auszunehmen.
  • Überführung der privaten Geldinstitute in öffentliches Eigentum und unter öffentliche Kontrolle! Dann lassen sich die Kollateralschäden eines radikalen Schuldenschnitts am besten im Zaum halten.
  • Abschaffung der Steueroasen und Angleichung der Steuersätze in der EU.
  • Wiedereinführung der Steuern, die abgeschafft wurden (vor allem der Vermögen- und der Kapitalertragsteuer).
  • Flächendeckende, europaweite Einführung eines Mindestlohns und einer Einkommenshöchstgrenze!

Aus: „SoZ“, Oktober 2012

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