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Keine Linkskoalition in Ägypten

Artikel aus Telepolis von Raoul Rigault

• Wie neu, zivil und offen für die Anliegen der Bevölkerung ist die von den Streitkräften eingesetzte Exekutive in Kairo tatsächlich?

Joel Beinin: Ich würde nicht sagen, dass die neue Regierung zu großen sozialen Zugeständnissen bereit ist, um die Folgen der schweren Wirtschaftskrise mit den massiven Preiserhöhungen für Grundnahrungsmittel für die breite Masse abzumildern. Hasim Beblawis Kabinett scheint eher in der politischen Mitte angesiedelt zu sein.
Es ist das Ergebnis einer Übereinkunft zwischen Teilen der jungen Bewegungsaktivisten, der liberalen Dostour-Partei von Mohammed El-Baradei und den Nasseristen von Hamdin Sabahi, dem mit 21 Prozent der Stimmen überraschenden Drittplazierten der Präsidentschaftswahlen vor einem Jahr. Das kann man nicht gerade als eine Linkskoalition bezeichnen.

• Gerade von der Ernennung des Vorsitzenden der Föderation der unabhängigen Gewerkschaften, Kamal Abu Eita, zum Arbeitsminister haben sich viele allerdings so einiges versprochen…

Joel Beinin: Eita ist ein Nasserist und kein Sozialist. Da man muss sich nur seine erste Äußerung anschauen, nachdem ihm das Ressort angeboten worden war. Sie lautete: “Die Arbeiter werden zu Helden der Produktion werden.” Nach Ansicht der Nasseristen darf es keine Streiks mehr geben. Die Lage der Nationalökonomie müsse sich erst einmal verbessern, damit dann irgendwann alle einen angemessenen Lohn erhalten, von dem sie gut leben können.
Deshalb wurde Eita von der Linken bereits scharf kritisiert. Zum Beispiel von Fatma Ramadan, einer Führerin der Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes und Vorstandsmitglied des unabhängigen Gewerkschaftsbundes EFITU.

• Glauben Sie, dass die Moslembruderschaft die Unterstützung unter den Lohnabhängigen nach der desaströsen Regierungszeit eingebüßt hat?

Joel Beinin: Dort besaß sie niemals größeren Rückhalt. Die Industriearbeiter haben ihre Opposition gegen die Bruderschaft deutlich zum Ausdruck gebracht. Das war zum Beispiel im Dezember 2012 beim Votum gegen den Verfassungsentwurf in Kairo und den Regionen des Nildeltas als den beiden großen Industriegebieten des Landes zu sehen.

• Haben die Linksparteien durch ihre Unterstützung der Tamarod (Rebellion)-Kampagne, bei der 22 Millionen Unterschriften für die Absetzung Mursis gesammelt wurden, profitiert und an Anhängerschaft gewonnen?

Joel Beinin: Die tatsächlichen Linksparteien, wie die Bewegung der Revolutionären Sozialisten, verfügen nach wie vor nicht über eine nennenswerte Wählerbasis. Sie sind nicht in der Lage die Arbeiter zu mobilisieren. Vor und nach dem Sturz von Mubarak spielten sie eine Rolle, doch die Wirtschaftskrise hat sie der Unterstützung durch die Arbeiterbewegung beraubt. Tamarod dagegen hat sich als ein breites Bündnis präsentiert. Von den gesammelten Unterschriften kam vielleicht ein Fünftel von links.
Diese Komponente verliert sich allerdings im Nationalismus. Die Kampagne, die zu Mursis Absetzung führte, richtet sich an die Nation. Genau die ist ihr positiver Bezugspunkt. Klassenforderungen der Lohnabhängigen kommen in diesem Diskurs nicht vor.

• Gibt es innerhalb des Offizierskorps noch eine nasseristische Fraktion, die im weiteren Verlauf eine Rolle spielen könnte?

Joel Beinin: Nein, die echten Nasseristen wurden schon vor Jahren von den Kommandoposten der Armee entfernt. Die Streitkräfte haben Nasseristen und Islamisten immer politisch bekämpft. Das erklärt auch, warum der ehemalige Feldmarschall Hussein Tantawi eine Woche brauchte, um einzugestehen, dass Mohammed Mursi die Präsidentschaftswahlen vor einem Jahr gegen den Mubarak-Mann Ahmed Shafiq gewonnen hat.

• Warum hat Mursi das nach den Revolten gebilligte Gesetz über die Zulassung der unabhängigen Gewerkschaften und ihre Rechte eigentlich niemals in Kraft gesetzt?

Joel Beinin: An den letzten Gewerkschaftswahlen 2006 konnten Moslembruderschaft und linke Bewegungen nicht teilnehmen, weil die Aktivisten dieser Gruppen identifiziert, rausgeworfen oder von der Staatssicherheit verhaftet wurden. Die Militärjunta hat den Regierungen nach Mubaraks Sturz im Februar 2011 die Inkraftsetzung dieses Gesetzes nicht erlaubt, weil es die ägyptische Gewerkschaftsbewegung wieder belebt und den zahlreichen isolierten Streiks mehr Rückhalt und Koordination verschafft hätte. Das 2012 gewählte Parlament debattierte dann über das neue Gewerkschaftsgesetz, von dem es drei Versionen gab. Mit der Auflösung der Abgeordnetenkammer war aber alles vorbei.
Außerdem gab es innerorganisatorisch eine Änderung der Taktik. Im August 2011 zogen Vertreter der Moslembruderschaft, Männer des alten Regimes (die so genannten Feloul) und unabhängige Linke ins Zentralkomitee des alten, staatstragenden ägyptischen Gewerkschaftsbundes ein. An diesem Punkt begannen die Islamisten mit den Feloul zusammenzuarbeiten. Im letzten Jahr wurden die allgemeinen Gewerkschaftswahlen immer wieder verschoben. Das geht bis heute so. In der Zwischenzeit haben Moslembrüder und ehemalige Exponenten von Mubaraks Nationaldemokratischer Partei (NDP) die Kontrolle vieler Gewerkschaftsapparate übernommen.

• Welche Rolle spielen die Arbeiter der Industriestadt Mahalla, die in der Vergangenheit häufig Vorhut und Hochburg der sozialen Proteste waren, heute?

Joel Beinin: Das Problem ist die Repräsentationskrise. Man weiß heute nicht mehr, wer was vertritt. Die Arbeiter in Mahalla sind eine Kraft, die die Bewegung führen kann. Im Augenblick sind die Parteien unfähig, ihre Forderungen und Anliegen aufzugreifen und zu organisieren. Die echten sozialistischen Parteien sind von der Macht weit entfernt, während die Sozialdemokraten als ein Teil des arabischen Nationalismus nun in die neue Regierung kooptiert und zum Teil des Regimes werden.

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