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Türkei: Resistanbul!

Was als lokaler Protest gegen die Zerstörung eines Parks begann, hat sich zu einem Massenaufstand gegen die türkische Regierung entwickelt. Die Unzufriedenheit über deren autoritäres Vorgehen hatte sich schon lange angestaut.
Von Erkin Erdoğan*
Die brutalen Angriffe der Polizei auf die friedlichen Umweltproteste in Istanbul haben eine Welle des Widerstands gegen die neoliberale Politik der regierenden AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) ausgelöst. Allein an den ersten sechs Tagen fanden 252 Demonstrationen in 67 türkischen Städten statt. Inspiriert von dem Aufstand auf dem Tahrirplatz in Kairo und der Occupy-Bewegung organisierten die Demonstranten Sit-ins auf zentralen Plätzen. Neben einem Ende der Polizeigewalt verlangt die Bewegung, dass der Gezi-Park in Istanbul nicht einem Einkaufszentrum geopfert wird. Wie Amnesty International berichtete, wurden in der ersten Woche über 2000 Protestierende von der Polizei verletzt, zwei davon tödlich.
Vom Widerstand zur Massenbewegung
Als die Zerstörung des Gezi-Parks am 28. Mai begann, veranstaltete eine Initiative ein Sit-in mit mehreren Hundert Beteiligten. Obwohl die Polizei das Camp angriff und die Zelte beschoss, räumten die Protestierenden nicht das Feld, sondern blockierten, unterstützt von Sırrı Süreyya Önder, einem Parlamentsabgeordneten der sozialdemokratischen und prokurdischen BDP (Partei des Friedens und der Demokratie), die Baumaschinen. Als die Regierung am vierten Tag die Proteste zerschlagen wollte, kam es zur entscheidenden Wendung: Aus dem Widerstanbeginn 1d wurde eine Massenbewegung. Die Angst wechselte die Seiten. Mehrere Zehntausend Menschen versammelten sich in der Istanbuler Haupteinkaufsmeile İstiklal Caddesi nahe dem Taksim-Platz aus Protest gegen das Vorgehen der Polizei. Nach 27 Stunden zog sich die Polizei zurück. Dieser Sieg verwandelte den Taksim-Platz in einen festlichen Ort und verlieh der Bewegung neues Selbstbewusstsein.
Umbau der Städte
Der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdoğan kündigte am nächsten Tag im Fernsehen an, dass er seine Pläne für den Bau des Einkaufszentrums nicht aufgeben werde und beschimpfte die Demonstranten als »Plünderer«. Doch das machte die empörte Masse im ganzen Land nur noch entschlossener. Das Fass war nun endgültig übergelaufen und die Bewegung, die den Rücktritt Erdoğans fordert, breitete sich im ganzen Land aus: Die türkische Bevölkerung hat genug von der konservativ-neoliberalen Politik der Regierung, dem eingeschränkten Alkoholverkauf, der Verletzung des Demonstrationsrechts und des Rechts auf freie Meinungsäußerung, genug von den Versuchen, Abtreibung zu verbieten und den neoliberalen Umbaumaßnahmen in den Städten.
Besonders diese wurden in den letzten Jahren oft kritisiert. Hier richtet sich die Wut der Bevölkerung vor allem gegen Bauvorhaben, die ohne die Zustimmung der Kommunen und ohne Berücksichtigung der möglichen Auswirkungen auf die Umwelt durchgesetzt wurden. Die AKP ließ keine Abstimmungen in den jeweils betroffenen Kommunen zu und Erdoğan verhielt sich stur und ablehnend gegenüber sozialen Bewegungen. So werden gerade beispielsweise der Bau einer dritten Brücke über den Bosporus und eines dritten Flughafens in Istanbul geplant, was eine der letzten Waldflächen der Stadt zerstören wird.
Verdrängung der Armen 2 räimung
Auch bei dem, wie Erdoğan es sogar selbst nennt, »verrückten Vorhaben«, einen großen Kanal parallel zum Bosporus zu bauen, wurden lokale Behörden und Interessenvertreter nicht gefragt. Stattdessen hielt die Regierung die Pläne lange geheim und stellte die Öffentlichkeit dann vor vollendete Tatsachen. In den letzten Jahren wurde in Istanbul eine »urbane Umstrukturierung« ohne Rücksicht auf ökologische Konsequenzen und die ablehnende Haltung der Bevölkerung durchgesetzt. Vor allem in ehemals armenischen und griechischen Vierteln stiegen die Mieten drastisch an, die ärmeren Bewohnerinnen und Bewohner, oft Angehörige von Minderheiten, wurden vertrieben.
Beispiele für diese Politik der AKP gibt es überall. Mittlerweile wurden fast alle Flüsse des Landes für die nächsten 49 Jahre an Bauunternehmen verpachtet, damit sie Tausende von Staudämmen bauen. Den Protest der Menschen vor Ort gegen diese Dämme übergeht Erdoğan oder diffamiert ihn.
AKP gegen Minderheiten
Ein weiterer Grund für die Wut auf die AKP-Regierung ist deren Vorgehen gegen Minderheiten. So soll beispielsweise die bereits erwähnte dritte Brücke über den Bosporus nach Yavuz Sultan Selim benannt werden. Im 16. Jahrhundert richtete dieser Sultan ein Massaker an der alevitischen Bevölkerung an. Heute stellen die Aleviten 30 Prozent der Bevölkerung. Auch die verantwortlichen Generäle für das »Massaker von Uludere« im Dezember 2011, bei dem vierzig kurdische Zivilisten von der türkischen Luftwaffe ermordet wurden, mussten bis heute nicht vor Gericht. Darüber hinaus wurden nicht alle am Mord an dem armenischstämmigen Journalisten Hrant Dink Beteiligten verurteilt. Gerade hochrangige Personen wurden durch fadenscheinige Ermittlungen gedeckt und am Ende gar befördert.
Gesellschaftliche Ungleichheit wächst
Die Rechte von Homosexuellen und Transgendern werden von der Regierung Erdoğans ebenso wenig respektiert wie die Rechte von ethnischen oder religiösen Minderheiten und der Gewerkschaften. Ferner führte die harte neoliberale Linie der AKP zu Unmut in der Bevölkerung. Sie war von Anfang an die Partei der Entscheidungsträger und der Wirtschaft und nicht die Partei der »kleinen Leute«. Die gesellschaftliche Ungleichheit wuchs in den vergangenen Jahren stetig und gerade der ärmere Teil der Bevölkerung litt unter der Ausweitung neoliberaler Politik.
Kampf um die Führung
Die landesweiten Proteste und deren Erfolg müssen als Resultat all dieser Missstände und Unzufriedenheiten angesehen werden. Die aktuelle Widerstandsbewegung könnte durchaus der Startschuss für eine breitere Bewegung werden, die die Interessen aller Unterdrückten aufgreift. Doch ist auch Vorsicht geboten, denn viele verschiedene politische Gruppen versuchen bereits Einfluss auf die Bewegung zu nehmen. Am sichtbarsten und gefährlichsten sind die Anhänger der kemalistischen CHP (Republikanische Volkspartei) und die türkischen Nationalisten. Sie missbrauchen die antikapitalistische Revolte für ihre protürkischen, nationalistischen Ziele, um Friedensgespräche mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu torpedieren. Bisher ist es ihnen aber nicht gelungen, die Führung der Bewegung an sich zu reißen.
Erste große Niederlage der AKPpyro
Der Widerstand im Gezi-Park ist die erste große Niederlage der AKP. Die Regierung hat die Wut und Entschlossenheit der Bevölkerung schlichtweg unterschätzt und muss nun dafür zahlen.vWenn es der Bewegung gelingt, ihre Breite und Offenheit beizubehalten, wenn sie es schafft, Teile der AKP-Basis für sich zu gewinnen, und wenn sie weiterhin furchtlos Widerstand leistet, wird die Regierung weitere Niederlagen hinnehmen müssen. Mit Sicherheit hat diese neue Massenbewegung einen Teil der Wählerschaft der AKP beeinflusst oder sogar mobilisiert. Es könnte der Anfang vom Ende der gegenwärtigen türkischen Regierung sein.
Der Widerstand vom Gezi-Park stellt den Beginn eines neuen Abschnitts im Kampf für die Freiheit in der Türkei dar. Der Taksim-Platz ist nicht der Tahrir-Platz. Aber etwas Revolutionäres liegt bereits in der Luft.
*Erkin Erdoğan ist Mitglied der sozialistischen Partei DSIP und hat lange in Istanbul gelebt. Er ist aktiv in der LINKEN in Berlin. Der Artikel wurde zuerst auf marx21.de publiziert.

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