Menu Schließen

Schweiz 1914: Die Sozialistische Partei und der Erste Weltkrieg

Dieses Jahr jährt sich die “Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts” zum hundertsten Mal. Der Kriegsausbruch stelle für die ArbeiterInnenbewegung weltweit ein bisher unbekannter Einschnitt in ihre Geschichte dar. In einer losen Serie von Artikeln berichten wir aus sozialismus.ch über einzelne Ereignisse rund um den Ersten Weltkrieg. Im folgenden Artikel wird die Rolle der Sozialistischen Partei der Schweiz (SPS) zwischen 1912 und 1917/18 thematisiert . Es wird aufgeziegt, wie sich die Parteiführung trotz Widerstand der Basis hinter die helvetische Bourgeoisie stellte (Red.).

von Rolf Krauer; aus: SoZ

Im November 1912 fand in Basel ein internationaler sozialistischer Kongress statt, dessen Ziel die Verurteilung der imperialistischen Politik und des sog. Marschs in den Krieg war. Einige Tage nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs brachen auch die politischen und organisatorischen Schwächen der II.Internationale hervor. Die Führungen der Sozialdemokratie waren gewissermaßen überrascht vom Zeitpunkt des Ausbruchs des Krieges.
Eine Sache war es, die Möglichkeit eines Krieges ins Auge zu fassen, eine andere, eine konkrete Aktion gegen ihn vorzubereiten und dies auch auf die Tagesordnung zu setzen.
Angesichts ihrer besonderen Einspannung in die internationale Arbeitsteilung und ihre auf die großen imperialistischen Mächten verteilten Interessen – Kennzeichen einer «Neutralitätspolitik» – entging die imperialistische Schweiz dem Krieg. Aber die bürgerliche Regierung ergriff die Gelegenheit, einen Nationalismus, eine nationale Einheit herzustellen, die ihr die Eindämmung des Aufschwungs der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften ermöglichte, welcher sich seit dem Ende des 19.Jahrhunderts abgezeichnet hatte.
Die spezifischen Merkmale des Schweizer Imperialismus und die sehr reaktionäre Ausrichtung der herrschenden bürgerlichen Parteien führten bei einigen anerkannten Führern der Sozialdemokratie zu radikaleren Reaktionen.
So machte Robert Grimm (1881–1958, siehe Bild) vor dem Krieg kritische Bemerkungen über die Idealisierung der Schweizer Milizarmee durch Jean Jaurès in dessen Werk L’armée nouvelle (1911). Jaurès meinte, dieser Typ Armee sei eine wirksame demokratische Antwort auf das System des französischen Militarismus.
Grimm hingegen beschrieb in seinem Artikel «Erfahrungen mit dem schweizerischen Milizsystem» (Die Neue Zeit, 1912, Nr.37 und 38) präzise die Rolle der Schweizer Armee. Er wies den maßgeblichen Einfluss der Bourgeoisie auf die Milizarmee, vermittelt durch die Offizierskaste, nach. Er warnte seine sozialistischen Genossen vor ihren Einsätzen gegen die Arbeiterklasse – das sollte sich vor allem im November 1918 beim ersten und bislang einzigen Generalstreik in der Schweiz bewahrheiten.
Grimm fasste seine Position in der Formel zusammen: «Wie die Demokratie, so ist auch die Miliz unter der Einwirkung der fortschreitenden kapitalistischen Entwicklung ein ausgezeichnet funktionierendes Werkzeug in den Händen der Reaktion geworden.»
Trotz seiner treffenden Analyse musste Grimm jedoch anerkennen – und zwar umso mehr er sich gezwungen sah, die militaristischen Strukturen in Deutschland zur Kenntnis zu nehmen –, dass die Milizarmee ein «kleineres Übel» ist, das ein Eingreifen der Sozialdemokratie eher ermöglicht als andere Militärsysteme, vor allem dort, wo die Sozialdemokratie stark ist.
Die Losung für «allgemeine Abrüstung», die Grimm vertrat, kann angesichts des historischen Kontextes und der beschränkten Dynamik des gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Aufschwungs in der Schweiz nicht hoch genug geschätzt werden.

Die helvetisch-preußische Armee

Als am 1.August 1914 der Krieg ausbrach, mobilisierte auch die Schweizer Regierung. Sie hatte die einstimmige Unterstützung des Parlaments, 15 sozialistische Abgeordnete eingeschlossen, außer zwei, die sich enthielten: Robert Grimm und Charles Naine (1874–1926). Eine Konstellation, die der der Sozialdemokratie in anderen Länder sehr ähnlich war.
Auf der Sitzung der Bundesversammlung (der gemeinsamen Versammlung der beiden Kammern Nationalrat und Ständerat) am 3.August 1914 wurden dem Bundesrat (der Regierung) und dem Oberbefehlshaber der Armee «Sondervollmachten» erteilt; die Sozialisten stimmten dagegen.
Die Ernennung des in Deutschland geborenen Ulrich Wille zum General in Kriegszeiten verstärkte ihre Ablehnung noch. Wille war durch Heirat mit der Familie des früheren deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck verbunden. Er hatte sich nach seinem Jurastudium in der Schweiz niedergelassen und eine militärische Laufbahn eingeschlagen. Von deutschen Militärakademien ausgebildet, führte er in den Kasernen den Drill, die elitäre Hierarchie und die preußische autoritäre Disziplin ein. Dies brachte ihm nur wenig Sympathien unter den Wahlbürgern – bis 1971 nur Männer! – ein, dreimal lehnten sie Gesetzesvorlagen über die autoritäre Umstrukturierung der Armee ab.
Willes Kontakte zu hohen deutschen Offizieren und ultrakonservativen Verbänden bestätigen, dass er und ein Teil der Schweizer Bourgeoisie dem deutschen Imperialismus zuneigten.
Im Jahr 1912 hatte Oberst Wille Manöver der Milizarmee und ein Volksfest anlässlich des offiziellen Empfangs für Kaiser Wilhelm II. organisiert. Mit dem deutschen Generalstab fand ein Austausch über die Möglichkeit der Umgehung der französischen Festungen im Kriegsfall (Schlieffen-Plan) statt.
Wille hatte bei dieser Gelegenheit, zusammen mit den politischen Machthabern, die Zusicherung erhalten, die Schweizer Neutralität würde respektiert werden. So konnte er sich mit Beginn der Mobilmachungen im August 1914 auf die Sicherung der Grenzen zu Frankreich im Schweizer Jura konzentrieren. Sein rechter Arm, Oberst Theophil von Bernegg – Willes Konkurrent bei der Ernennung zum General in Kriegszeiten –, hatte 1907 Österreich-Ungarn der Neutralität der Schweiz versichert, ohne dasselbe gegenüber Frankreich zu tun.
Die Politik eines bedeutenden Teils der Sozialdemokratie während des Weltkriegs muss deshalb auch im Lichte der Optionen der konservativsten Fraktionen des politisch-militärischen Komplexes gesehen werden.
Außerdem wurden die Lebensbedingungen der Soldaten rasch schwierig, wenngleich sie mit denen der Soldaten in den Schützengräben nicht vergleichbar waren. Sie waren Opfer des Drills und der Verachtung der Offizierskaste. Obgleich im Frieden lebend, starben 4200 Soldaten durch Unfälle oder Krankheiten.
Noch bedeutender war, dass die Unzufriedenheit der Soldaten die Militärjustiz zwang, 21000 Verfahren durchzuführen. Ein Teil der Sozialdemokratie stellte sich daher gegen die Offizierskaste und die Armee von Wille.

Ein kleiner Hafen des Internationalismus

Nach dem Einfall in das neutrale Belgien – Reichskanzler Bethmann-Hollweg erklärte das Protokoll von 1831 zum «Fetzen Papier» (das den jungen Staat Belgien als neutralen Staat anerkannt hatte und von Großbritannien, Preußen, Österreich, Russland und Frankreich unterzeichnet worden war) – reagierten die Schweizer Sozialisten. Sie stimmten nicht mehr für den Militäretat. Das Schweigen der Schweizer Regierung und der Presse in der deutschen Schweiz, wo die Sozialdemokratie sehr stark war, über die Invasion in ein «kleines neutrales Land» weckte deren Identifikation mit diesem Land und führte zu oben erwähnter Reaktion.
In dieser Situation organisierte ein bedeutender Teil der Schweizer Sozialisten mehrere internationale Zusammenkünfte von Parteien oder Fraktionen der zusammengebrochenen II.Internationale.
– Mit italienischen Sozialisten fand am 27.September 1914 in Lugano eine Versammlung zur Vorbereitung einer internationalen Konferenz für den Frieden statt.
– Dies mündete in die erste internationale sozialistische Konferenz von Zimmerwald, einem Dorf im Kanton Bern (5.–8.9.1915). Sie versammelte eine Delegation von 37 Personen aus 11 Ländern und fand unter dem Vorsitz von Robert Grimm statt. Lenin vertrat den linken Flügel der Konferenz. Seine Position, wenngleich in der Minderheit, wurde zu einer programmatischen Prämisse der III.Internationale. Trotzki entwarf das «Zimmerwalder Manifest» (veröffentlicht am 15.9.1915). Lenin unterzeichnete den Text mit gewissen Vorbehalten. Die Teilnehmer nahmen sich vor, sich erneut zu treffen.
– Sie taten dies, als die Soldaten und die Bevölkerungen verschiedener Länder die Auswirkungen des Krieges zu spüren bekamen. So kam es zur Konferenz von Kienthal (im Berner Oberland, 24.–30.April 1916). Die Schweizer Delegation aus sieben Mitgliedern vertrat verschiedene Tendenzen der sozialdemokratischen Partei. Die Delegierten verabschiedeten eine gemeinsame Linie, die in der Losung zum Ausdruck kam: «Dieser Krieg, Arbeiter, ist nicht der eure, ihr seid seine Opfer.» Die Zimmerwalder Linke verteidigte die «Umwandlung des imperialistischen Krieges» in den «revolutionären Krieg» und vertrat die Notwendigkeit des Aufbaus einer neuen Internationale. In der Schweizer Delegation vertrat Fritz Platten, der die kommunistische Strömung seit Gründung der III.Internationale vertrat und 1942 in der stalinistischen UdSSR ermordet wurde, die Position der Linken in der Schweizer SP und schloss sich Lenins Haltung an.
– Diese Dynamik mündete in die SP-Konferenz vom Juni 1917, deren Zustandekommen von der Parteirechten durch bürokratische Manöver lange hinausgezögert worden war. Die Basis der Partei stimmte mit großer Mehrheit gegen die Landesverteidigung und den Sozialpatriotismus und wandte sich damit gegen die Mehrheitsfraktion der Parteiführung, die sich dem in der Partei vorherrschenden Antimilitarismus, der aus den in Kienthal verabschiedeten Positionen folgte, widersetzt hatte. (Die Resolution gegen die Landesverteidigung wurde allerdings nach dem Krieg revidiert!) Ab 1917 fand in der Schweiz eine soziale und politische Radikalisierung statt. Im Oktober 1918 feierten in Zürich etwa 40000 Arbeiteraktivisten den ersten Jahrestag der russischen Oktoberrevolution.

Verwandte Artikel

1 Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert