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Frankreich: Die Pariser Attentate und ihre Konsequenzen

Die grauenhaften und tragischen Attentate vom 13. November 2015 in Paris werden weitreichende politische und gesellschaftliche Verschärfungen mit sich bringen.
von Bernard Schmid; aus LabourNet
Von dem deutschen Maler Max Liebermann (1871-1935) stammt das berühmte Zitat, das sich zu seiner Zeit auf den Aufstieg der Nazibewegung bezog: „Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte.“
Auch wenn die Situation anders gelagert ist, möchte man das Zitat gerne auf die Pariser Attentate vom Freitagabend, 13. November 2015 sowie auf ihre erwarteten und erwartbaren Auswirkungen beziehen. Zunächst einmal natürlich wegen der Opfer: 132 Tote waren (nach dem Ableben von drei zunächst Schwerverletzten) am Montag [16. September 2015] früh zu verzeichnen, und 350 Verletzte. Es hätte, betrachtet man die angegriffenen Örtlichkeiten – vom Fußballstadion bis zum Restaurant und Café – buchstäblich fast jede und jeden treffen können.
So war es auch gemeint. Ein Bekennerschreiben des so genannten, Islamischen Staats’ (IS), das am Sonnabend publik wurde, enthält eine doppelte Dimension. Einerseits werden die angegriffenen Gaststätten und Amüsier-Örtlichkeiten als Sündenpfuhl und Orte der Verderbnis für die Jugend beschrieben. Zum anderen wird behauptet, es handele sich um Racheakte für Frankreichs militärisches Eingreifen in Syrien. Seit dem 27. September 2015 bombardierte Frankreich erstmals Stellungen des IS auch in Syrien; bis dahin hatte Frankreich zwar an der 2014 gegründeten internationalen Anti-IS-Koalition teilgenommen, jedoch nur im Irak Luftangriffe geflogen (weil die irakischen Behörden solche anforderten, während das syrische Regime sich gegen die Anwesenheit westlicher Truppen in seinem Luftraum aussprach – dagegen seit dem 30. September 2015 selbst russische Luftangriffe anforderte). In der Nacht von Sonntag auf Montag flog Frankreich nun verstärkte Luftangriff auf die Provinzhauptstadt Raqqa in Nordost-Syrien, die vom IS kontrolliert wird – aber auch eine Zivilbevölkerung zählt. Es ist damit zu rechnen, dass die aktuelle Situation zu einer verstärkten Annäherung des offiziellen Frankreich an das Folterregime Baschar Al-Assads führen wird, wie es etwa der konservative Ex-Außenminister (und frühere Premierminister) Alain Juppé am Wochenende forderte.
Die üblichen Verschwörungstheorien – auch wenn sie jedes Mal noch übler werden – müssen natürlich auch wieder dabei sein. Manche Irren und geistig Verwirrten mögen sich am Datum (13. September) aufhalten, andere hängen sich daran auf, dass der angegriffene Konzertsaal Le Bataclan (dort, wo es die meisten Toten gab) „ausgerechnet“ am 11. September 2015 verkauft worden sei. Am übelsten ist klar die Verschwörungstheorie, die seit Montag früh auf Mailinglisten kursiert und durch das Netzwerk Egalité & réconciliation (E&R, ungefähr „Gleichheit und Aussöhnung“, gemeint ist die nationale Versöhnung) des Berufs-Antisemiten Alain Soral in die Welt gesetzt wurde. Demnach wurde „die jüdische Gemeinschaft vor den Attentaten vorgewarnt“. Die Behauptung bezieht sich auf ein Interview, das der rechtszionistische Aktivist Jonathan-Simon Sellem – politisch eher ein übler Zeitgenosse – am Freitag, einige Stunden vor den Attentaten, in englischer Sprache gegeben hatte. Darin spricht er von Vorwarnungen an die französischen Jüdinnen und Juden vor Attentaten, die es für den laufenden Tag gegeben habe, an welchem er selbst dennoch ins Flugzeug gestiegen sei. Die Aussage, dass es solche Warnungen gegeben hat, ist plausibel und unterfüttert zugleich keinerlei Verschwörungstheorie. Dass etwas in der Luft lag, darüber waren die Ermittlungsbehörden aller Wahrscheinlichkeit nach informiert. Am Freitagnachmittag, wenige Stunden vor den Terrorattacken, musste etwa die deutsche Fußballnationalmannschaft ihr Hotel in Paris aufgrund eines Bombenalarms räumen, und am selben Nachmittag wurde der Lyoner Bahnhof (in Paris) wiederum wegen eines Bombenalarms evakuiert. Allgemeine Informationen über bevorstehende Terrorangriffe dürften sich also wohl im Besitz der Behörden befunden haben. Nur waren sie nicht in der Lage, dies zu verhindern. Auch dies ist weder ein Wunder noch ein Geheimnis: Selbst ein diktatorischer Staat wie NS-Deutschland konnte bekanntlich Attentate auf seinen „Führer“ nicht in Gänze verhindern. Es gibt einfach keine Möglichkeit zur lückenlosen Verhinderung solcher Angriffe, sofern nicht detaillierte Angaben zu Ort und Zeitpunkt eines geplanten Verbrechens vorliegen. Die Jihadisten, die am vergangenen Freitag mordeten, gingen jedoch einfach nach dem Trial-and-Error-Prinzip vor; schossen aus fahrenden Autos auf Ziele, die wohl nicht vorher genau definiert worden waren (Terrassen von Cafés und Restaurants), und einer von ihnen versuchte vergeblich, Einlass ins Fußball-Nationalstadion zu bekommen. Was ihm nicht gelang, woraufhin mehrere Selbstmordattentäter sich auf einem Trottoir vor einem Café in Hörweite des Stadions in die Luft jagten.

Unklare politische und gesellschaftliche Folgen

Die erste Reaktion der Gesellschaft war ein Schock, der die Leute 24 Stunden lang zu Hause bleiben ließ. Am Freitagabend selbst hatte die Pariser Polizeipräfektur zunächst die Menschen dazu aufgefordert, „außer bei dringlicher Notwendigkeit“ dort zu bleiben, wo sie sich gerade befanden. Zu dem Zeitpunkt waren mehrere der Täter mutmaßlich noch im Pariser Stadtgebiet flüchtig: am Wochenende wurde dann ein Fluchtauto, mit drei Kalaschnikows im Kofferraum, in der Pariser Vorstadt Montreuil aufgefunden.
Im Laufe des Samstag [14. November 2015] waren Teile des Pariser Zentrums, insbesondere das 10. und das 11. Arrondissement, erstaunlich menschenleer. Auch die Métrozüge waren für einen Samstagabend bemerkenswert und ungewohnt leer. In der Nähe des Konzertsaals Le Bataclan, wo der mörderischste unter den Angriffen stattgefunden hatte, drängten sich Dutzende von Kamerateams mit Übertragungswagen (niederländische, belgische, deutsche…), während die Örtlichkeiten weiträumig abgesperrt waren und ansonsten kaum Menschen auf der Straße waren. Auch die Straßenterrassen waren weitgehend leer, und an den (milden) Temperaturen lag es nicht. Doch im Laufe des Sonntags waren die Menschen wieder auf der Straße. An Spontankundgebungen auf der Place de la République, bei den angegriffenen Gaststätten im 11. Pariser Bezirk und anderswo nahmen Tausende Menschen teil. Auf der Place de la République kam es am Sonntagabend [15. November 2015] kurzzeitig zu einer Massenpanik, weil irgendwelche Schlaumeier glaubten, Sylvesterkracher anzünden zu müssen (ihr Geräusch klingt ähnlich wie Schüsse aus der Ferne).
Inhaltlich waren diese Aktivitäten von viel Emotionen und Solidarität geprägt, jedoch politisch eher hilflos. Das Pariser Stadtwappen (ein auf den Wellen treibendes Schiff) und der dazu gehörige Wahlspruch „Fluctuat nec mergitur“ – also in Latein: „Es treibt, doch geht nicht unter“ – wurden ebenso für den Versuch, eine kollektive Solidarität zu begründen und zu symbolisieren, herangezogen wie der Hashtag #PrayForParis. Die meisten Menschen gaben ihrer Trauer oder Solidarität jedoch eher individuellen Ausdruck, mit Kerzen, Blumen, Gedichten…

Ausnahmezustand & Klimakonferenz

Diese Spontankundgebungen für Trauer und Gedenken konnten ansonsten ungehindert stattfinden, auch wenn aufgrund des seit Samstag Null Uhr verhängten Notstands theoretisch ein allgemeines Versammlungsverbot unter freiem Himmel herrscht. Für andere Arten von Kundgebungen oder Demonstrationen wird dies sicherlich nicht gelten. Gar zu gelegen dürfte es der Regierung kommen, dass dadurch auch ein Großteil der zwischen dem 28./29. November und dem 12. Dezember 2015 geplanten Protestaktivitäten „von unten“ rund um den Klimagipfel COP21 zwangsweise ausfallen dürften. Schon VOR den Pariser Attentaten hatte die Regierung eine Wiedereinführung von Grenzkontrollen und Grenzschließungen angekündigt – am Freitag früh, wenige Stunden vor den Attentaten, wurde die Zahl von 30.000 dafür an den Grenzen mobilisierten Polizisten bekannt gegeben – und hatte zahlreichen Aktivist*innen aus dem globalen Süden bereits in den letzten Wochen Visa verweigert. Es war allgemein erwartet worden, dass Zehntausende an Demonstrationen, einem Gegengipfel und anderen Aktivitäten (wie Debatten), eine kleinere Zahl wohl auch militanten Aktiönchen teilnehmen dürften. Dies Alles ist nun bedroht. Nachdem am Wochenende zunächst über einen Ausfall der internationalen Klimakonferenz spekuliert worden war, kündigte Premierminister Manuel Valls am Montagvormittag an, diese würde abgehalten, doch „in abgespecktem Format“. Nur die Verhandlungen unter den Staatschefs sollen demnach stattfinden, nicht die zahlreichen „Begleitaktivitäten“, darunter (bis dahin laut offizieller Planung in den Gipfel integrierten) Foren mit NGOs und zivilgesellschaftlicher Beteiligung. Wie praktisch für die Regierung, wenn solcherart öffentlich geäußerte Kritik ausbleibt, und die Staatschef unter sich bleiben, wenn sie faktisch über die Zukunft unseres Planeten (oder jedenfalls einige wichtige Aspekte von deren Ausgestaltung) entscheiden.
Die Verhängung des Notstands basiert auf einem Gesetz vom 3. April 1955, das also während des Algerienkriegs verabschiedet worden war. Es sollte damals sowohl erlauben, die „Heimatfront“ im Kolonialkrieg zu stabilisieren, also auch in den darauffolgenden Jahren Rechtsputsche aus dem Militär (von dem Teile gegen den schließlich beschlossenen Rückzug aus Algerien meuterten) abwehren helfen. In jüngerer Vergangenheit wurden die Notstandsgesetze 1984 in der französischen de facto Noch-Kolonie Neukaledonien im Westpazifik, und im November 2005 anlässlich der Revolten in einigen französischen Trabantenstädten (Banlieues) in Kraft gesetzt.
Nun wird, erstmals seit Jahrzehnten, wieder auf dem gesamten Staatsgebiet oder beinahe (europäisches Festlandfrankreich plus Korsika, also ohne die Überseegebiete) wieder von dem Notstandsgesetz Gebrauch gemacht. Auf seiner Grundlage kann der Notstand durch Beschluss der Exekutive für eine Periode von bis zu zwölf Tagen verhängt werden, nach dem Ablauf der zwölftätigen Dauer ist eine gesetzliche Basis durch Verabschiedung eines speziellen Sondergesetzes erforderlich.
Am Sonntagabend [15. November 2015] wurde bekannt, dass Präsident François Hollande vom Notstand gleich für drei Monate Gebrauch machen möchte. Darüber werden die Parlamentarier*innen beider Kammern (Nationalversammlung und Senat) zu befinden haben, die an diesem Montag zum „Kongress“ – ungefähr vergleichbar mit einer deutschen Bundesversammlung aus Bundestag und Bundesrat; „Kongresse“ werden normalerweise für verfassungsändernde Beschlüsse einberufen – in Versailles einberufen wurden. Es ist aber wohl nicht damit zu rechnen, dass sie in konträrem Sinne entscheiden werden. Im Herbst 2005 war der Notstand für einige spezielle Zonen in den Banlieues ab dem 8. November jenes Jahres für die Dauer von drei Monaten verhängt, doch am 5. Januar 2006 wieder außer Kraft gesetzt worden.
Die Notstandsgesetzgebung (also das Gesetz zum ,état d’urgence’, das noch eine Stufe unter dem Staatsnotstand/Belagerungszustand oder ,état de siège’ liegt, welcher die Verhängung von Kriegsrecht beinhalten kann) erlaubt es der Regierung, auf einen Katalog von einem Dutzend Vollmachten zurückzugreifen. Dazu gehört das Verbot von Versammlungen unter freiem Himmel, die Verhängung von Ausnahmesperren in bestimmten Zonen und/oder zu bestimmten Zeiten, oder die Schließung von kulturellen und anderen Veranstaltungsräumen. Nicht Gebrauch macht die Regierung hingegen derzeit (auch nicht 2005) von einem anderen Passus, welcher die Einfuhr einer Pressezensur erlauben würde – in den Zeiten von Internet wäre sie allerdings möglicherweise schwerer durchzuführen als 1955 oder 1984.
Ebenfalls möglich ist auf Grundlage des Gesetzes von 1955 die Internierung von Personen, die mutmaßliche Gefährder „für die öffentliche Sicherheit“ darstellen – auch ohne vorherige strafrechtliche Verurteilung. Die konservative Rechte fordert nun die vorübergehende Internierung von 4.000 „Jihad-Sympathisanten“, die in Dateien mit den Namen „radikalisierter“ Personen eingespeichert sind (am Montag früh präzisierte Sarkozy, er verlange eher Hausarrest und den Einsatz von elektronischen Armbändern/elektronischen Fußfesseln für diesen Personenkreis). Premierminister Manuel Valls erklärte, die Forderung „zu prüfen“.

Missbrauch der Attentate durch Rassist*innen

„Natürlich“ ist ebenfalls damit zu rechnen, dass Rassismus und Abwehrwünsche gegen Migrant*innen und Geflüchtete durch die aktuelle Debatte befeuert werden. Nahrung erhält sie sicherlich auch durch das Gerücht, wonach der syrische Reisepass eines der Attentäter in der Nähe des Fußballnationalstadions aufgefunden worden sei. Die britische Presse und Experten erklärten ihn im Laufe des Wochenendes zu einer möglichen Fälschung. Dies ist derzeit noch unklar, fest dürfte hingegen stehen, dass der so genannte Islamische Staat den Pass (ob echt oder unecht) aus absichtlicher Provokation dort hinterlegt haben könnte. Anfang September 2015 hatte der IS versucht, im Zuge der aktuellen Migrationswelle den Menschen aus Syrien die Flucht nach Europa zu untersagen – eine solche Auswanderung in einen nicht-islamischen Sündenhort sei Verrat und „eine schwere Sünde“.
Selbstverständlich ist damit zu rechnen, dass der IS dadurch, objektiv oder auch absolut gewollt, den antidemokratischen Kräften, Rassist*innen und Faschist*innen anderswo in Europa quasi in die Hände arbeitet. Die neue, national-reaktionäre Regierung in Polen – frisch gewählt – hat bereits angekündigt, die bescheidenen Pläne für die EU-weite Umverteilung von Geflüchteten für ihr Land auszusetzen, unter Berufung auf die Pariser Attentate und Terrorgefahr.
Am Samstag [14. November 2015] wurden bei ersten spontanen (und polizeilich geduldeten) Solidaritätskundgebungen im nordfranzösischen Lille und in Metz/Lothringen rechtsextreme Aktivisten u.a. von der „identitären“ Bewegung gesichtet, die jedoch durch die Menge ebenfalls spontan verjagt wurden. Nicht überall, so ist zu befürchten, steht die Massenstimmung ihnen allerdings derart eindeutig entgegen. Und während im Januar 2015, nach den Attentaten auf die Zeitungsredaktion von ,Charlie Hebdo’ und eine koscheren Supermarkt an der Pariser Porte de Vincennes, eher eine Konsens- und Schulterschlussstimmung unter den etablierten politischen Kräften herrschte (mit einem Sonderstatus für den Front National, den man nur halb mitspielen ließ), ist derzeit eher Übersteigerung und Übertrumpfen im politischen Diskurs angesagt. Sowohl die Konservativen unter ihrem Parteichef, Ex-Präsident Nicolas Sarkozy, als auch die parlamentarisch orientierten Neofaschist*innen unter Marine Le Pen [Front National] schossen schon ab den ersten Stunden nach den Attentaten auf die amtierende Regierung ein: zu laxe Sicherheitspolitik, zu viele Migrant*innen ins Land gelassen. Mit weiteren Radikalisierungen im politischen Diskurs ist wahrscheinlich zu rechnen.
Paris, 16. November 2015

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