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Griechenland: Wer wird in die Villa Maximos einziehen?

Alexis Tsipras, der Anführer von Syriza, und damit derjenigen Partei, die das dritte Memorandum durchgebracht hat, geht als Sieger aus den vorzeitigen Wahlen vom 20. September 2015 hervor.


von Charles-André Udry; aus À l’Encontre
Und dennoch hat Jon Henley im Guardian vom 18. September Maarten Verwey als eigentlichen Hauptmieter oder zumindest als „Mitbewohner“ im Amtssitz des griechischen Ministerpräsidenten bezeichnet. Doch wer ist dieser Maarten Verwey? Nun, das ist ein niederländischer Funktionär aus der Finanzabteilung der Europäischen Kommission. Er war bereits während der Krise in Zypern tätig und leitet nun die Task Force der Europäischen Union in Athen. Und diese Position ist ausgesprochen mächtig. Denn das Memorandum (Memorandum of Understanding MoU), welches Tsipras am 13. Juli 2015 unterzeichnet hat und welches von einer grossen Mehrheit des griechischen Parlaments gebilligt wurde (Abgeordnete von Syriza, von den Unabhängigen Griechen, von der ND, von Pasok und von To Potami haben dafür gestimmt), zwingt die Regierung dazu, zuerst die Zustimmung der Europäischen Kommission, der europäischen Zentralbank und des IWF einzuholen, bevor Gesetze zur Durchsetzung des neuen Sparprogramms beschlossen und durchgesetzt werden können. Maarten Verwey wurde damit zum Prokonsul der Gläubiger und ihrer Institutionen.
So bezeichnete denn auch Romaric Godin, in der französischen Zeitung La Tribune vom 21. September, das Wahlbündnis zwischen Syriza und den Unabhängigen Griechen als „Mehrheit für die Anwendung eines Memorandums, welches von Alexis Tsipras unterzeichnet wurde. Aber diese Übereinkunft zeichnet sehr genau die Aufgabe der nächsten Regierung vor und gewährt dieser nahezu keinen Ermessensspielraum. Im Oktober, in Einklang mit dem Punkt 2.1 des Memorandums, muss Alexis Tsipras ein Haushaltsbudget für 2016 vorlegen und ein ‚Budget-Pfad’ bis 2019, welcher von ‚umfassenden und glaubwürdig begleitenden Massnahmen und Strukturreformen unterstützt wird. Der Wortlaut der Vereinbarung beschreibt dabei einen großen Teil dieser Maßnahmen, insbesondere eine zweite Rentenreform und die Streichung verschiedener Subventionen.“
Mit einem Wort: Die demokratischen Rechte der Bürgerinnen und Bürger von Griechenland haben den Status derjenigen eines neokolonialisierten Landes.

Tsipras, der Delegierte

Alle Kommentare zu den vergangenen Wahlen haben auf die vielen Enthaltungen von 43.43% hingewiesen. Dieser Wert ist der höchste seit dem Ende der Diktatur im Jahr 1974.
-Syriza hat 35.46% der Stimmen erreicht. Das ergibt 145 Sitze, unter Berücksichtigung des 50-Sitze-Bonus, welchen die erfolgreichste Partei erhält.
-Nea Dimokratia erreichte 28.10% (75 Sitze),
-Goldene Morgenröte (Neonazis) haben 6.99% (18 Sitze),
-Pasok-Dimar 6.28% (17),
-KKE (KP) 5.55% (15),
-To Potami 4.09% (11),
-Die Unabhängigen Griechen (ANEL) 3.69% (10),
-Die Union des Zentrum 3.43% (9).
Die Volkseinheit – die Partei welche von Mitgliedern der Linken Plattform und von Red Network [ehemals linker Flügel von Syriza] gegründet wurde und die von der Kandidatin Zoé Konstantopoulou, der Expräsidentin des Parlaments unterstützt wurde – hat nicht mehr als 2.86% erreicht und ist damit nicht im Parlament vertreten, da sie die 3%-Hürde nicht überwinden konnte. Der unerwartete Einzug ins Parlament der Union des Zentrums von der Politiker-Karikatur Vassilis Leventis, welcher im Januar nur 1.79% der Stimmen holte, ist ein Anzeichen für ein politisch-mediales Abdriften: Auf seiner Liste hatte Leventis 6 direkte Mitglieder seiner Familie und andere komplett unerfahrene KandidatInnen vereinigt. (El Pais, 21. September 2015)
Eine ‚Soziologie’ der Wahlergebnisse zu erstellen – ein Gebiet, in das sich einige PolitologInnen jeweils wagen – ist ausserhalb unserer momentanen Möglichkeiten. Eine Sache ist für die AktivistInnen der Volkseinheit aber sehr deutlich geworden: Die 180 Grad-Kehrtwende durch die Führung von Syriza nach dem Referendum vom 5. Juli 2015 [61.3% der Bevölkerung – vor allem ArbeiterInnen, Junge und Arbeitslose – haben damals Nein zur Weiterführung der Sparpolitik gesagt] hat eine ausgeprägte Orientierungslosigkeit in den Reihen der Lohnabhängigen und jenen, welche sich mit der von Syriza vorgeschlagenen Perspektive – nämlich eine weitere Sparpolitik zu verhindern – identifiziert haben, ausgelöst. Und dies, obwohl sich diese Kehrtwende schon am 20. Februar 2015 abzeichnete [damals einigten sich die Eurogruppe und die Syriza-Regierung auf die Verlängerung des Kreditprogramms und der Sparmassnahmen um vier Monate]. Innerhalb der Volkseinheit wurde, zum Teil unter der Schockwirkung des überwältigenden Neins vom 5. Juli, unterschätzt, als wie schwierig die ArbeiterInnenklasse die Aufgabe wahrnehmen würde, der Sparpolitik tatsächlich etwas entgegenzusetzen. Doch wie schon in anderen Artikeln erwähnt wurde, haben die sozialen Mobilisierungen ab dem Ende des Jahres 2012 bereits ihren Höhepunkt erreicht. Es folgte ein Delegations-Reflex, welcher die Blockierung weiterer tödlicher sozialer Effekte der ersten beiden Memoranden (2010 und 2012) dem charismatischen Alexis Tsipras zu übertragen versuchte. Hinzu kamen noch die Mühen, welche die Reorganisation des eigenen Lebens, in all seinen Dimensionen, für die Menschen in Griechenland verursacht hat. Der Exodus von 400’000 bis 500’000 gut ausgebildeten Personen zeigt auch das Auseinanderfallen des sozialen Gefüges und die Schwierigkeit sich eine Zukunft in und für Griechenland vorzustellen. Dies wurde einzig für 15 Tage unterbrochen, als 61.3% am 5. Juli Nein gestimmt haben.
Es gibt zusätzlich sicherlich noch einige weitere Elemente, welche die hohe Enthaltung bei den jetzigen Wahlen erklären können. Die Führung von Syriza hat gleichzeitig die Trägheit des Delegationsprozederes und die bereits vorhandene Ablehnung der „Parteien des alten Systems“ [ND und Pasok] für sich zu nutzen gewusst. Deshalb hat sich auch in der vom Syriza-Apparat geführten Kampagne ein zentrales Thema herauskristallisiert: Wenn wir schon dem Diktat der Gläubiger ausgeliefert sind, so sind wir doch die einzigen, welche in der Lage sind, die sozialen Effekte davon zu mindern und eine Umstrukturierung der Schulden auszuhandeln.
Diese Botschaft ist angekommen, wie die Resultate bestätigen. Die Abwendung verschiedener auch wichtiger AktivistInnen von Syriza hat sich nicht auf die Wahlresultate ausgewirkt, wie das gewisse Analysen im Vorfeld noch vermuten liessen. Wenn also die Hinwendung zu einer Sparpolitik vollzogen werden konnte, mitsamt des daraus entstehenden Auseinanderfallens der AktivistInnenbasis, dann konnte dies durch den institutionellen und klientelistischen Apparat kompensiert werden.
Im herrschenden sozio-politischen Klima in Griechenland muss man schon Akademiker und Verfechter einer ‚rational-voting’-Theorie sein, um zu glauben, dass ein starker sozialer Sektor, entsprechend einer klaren Erwartung der konkreten Effekte aller aus dem Memorandum resultierenden Massnahmen, wählen gehen würde. Ausserdem war die Festlegung des Zeitpunkts der Wahlen in den Händen der Syriza-Regierung, so dass die Volkseinheit sich in grosser Eile organisieren musste und ihre Möglichkeiten zur Aufklärung ihres sozialen, aktiven Netzes sehr gering waren. Die Komitees für das Nein beim Referendum [vom 5. Juli] haben keine längerfristig wirksame Form angenommen. Die Verbreitung der Botschaft der Volkseinheit war abgesehen von wenigen Ausnahmen damit nicht fassbar.

Zu den Gesamtergebnissen

Die schematische Übersicht über einige Ergebnisse in den Wahlbezirken könnte hilfreich sein, um die Wahlen etwas besser zu verstehen und einordnen zu können. In den beiden Bezirken von Athen (A und B) können folgende Ergebnisse, jeweils in Prozenten, festgehalten werden:
– Syriza: 31.55 und 35.21 (im Januar 2015 haben sie 33.61 und 37.09 erreicht)
– Volkseinheit: 3.58 und 3.77
– KKE: 5.83 und 6.80 (im Januar: 6.04 und 6.93)
– Goldene Morgenröte: 6.91 und 5.64 (im Januar: 7.05 und 5.73)
In den beiden Bezirken von Piräus (A und B):
– Syriza: 33.62 und 42.05 (im Januar: 34.40 und 42.06)
– Volkseinheit: 2.95 und 3.77
– KKE: 5.14 und 7.94 (im Januar 5.27 und 8.18)
– Goldene Morgenröte: 7.83 und 8.40 (im Januar 7.44 und 7.80)
Auf den ersten Blick fällt auf, dass, obwohl keine Daten zu den Stimmen-Transfers vorliegen, die Verteilung der Stimmen durch die neue Anwesenheit der Volkseinheit nicht durcheinandergebracht wurde. Sicherlich erklärt im Athener Distrikt A die Kandidatur der bekanntesten VertreterInnen der Volkseinheit – unter anderem Zoé Konstantopoulou – den relativen Rückgang der Stimmen für Syriza.
Die Neonazis der Goldenen Morgenröte sind die drittstärkste politische Kraft, welche im Parlament präsent ist. Ihr Anführer, Nikos Michaloliakos, hat auf die Bedeutung dieses Resultats für seine Organisation hingewiesen. Denn diese ist einem sich seit April 2015 hinziehenden Gerichtsprozess ausgesetzt, in dem sie berechtigterweise der „krimineller Aktivität“ beschuldigt wird. Deshalb meint er auch: „Wir haben das gesamte System gegen uns.“
Die von Michaloliakos und den Sprechern der Goldenen Morgenröte hervorgebrachten Parolen im Wahlkampf drehten sich ausschliesslich um zwei Themen: „Nein zum Memorandum. Nein zur illegalen Immigration, wir erlauben nicht, dass sie uns zu einer Minderheit im eigenen Land machen.“ Die Goldene Morgenröte hat sich damit auf nationaler Ebene von 6.28% der Wählerstimmen (17 Abgeordnete) im Januar, auf 6.99% (18 Abgeordnete) in den jetzigen Wahlen steigern können. Dieser Anstieg ist insbesondere in den Grenzbezirken des Nordens wie Evros (von 7.5% auf 8.71%), oder auf Inseln wie Lesbos (4.66% zu 7.78%) noch deutlicher zu erkennen.

Die sparpolitischen Zurechtweisungen

Kurze Zeit nach der Ankündigung von Tsipras, wieder eine Koalitionsregierung mit den Unabhängigen Griechen (ANEL) bilden zu wollen – also eine Wiederholung der bisherigen Formel anzustreben – hat Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, einen Angriff gegen Tsipras gestartet: „Ich habe mit Tsipras ein zweites Mal telefoniert, um ihn zu fragen, wieso er eine Koalition mit dieser Partei der extremen Rechten eingeht.“ Der Prokonsul Maarten Verwey ist also scheinbar noch zu wenig. Schulz und andere Eurokraten wollen eine Koalition von Syriza mit Pasok und To Potami, um eine grössere Stabilität der Regierung zu erreichen. Die institutionellen und politischen Vertreter der Gläubiger kennen die politische und rechtliche Agenda, die mit dem Memorandum entsteht. Jede Entscheidung wird „beaufsichtigt“ und die Frage der „Restrukturierung der Schulden“ dient als Instrument zur ständigen Zurechtweisung der Regierung.
Und jetzt wird es sehr bald darum gehen, das Haushaltsbudget für 2015 zu überarbeiten und die Hauptlinien für das Budget bis 2019 festzulegen. Ende Oktober und Anfang November werden die Inspektoren dieses Budget absegnen, nachdem sie schon seine Ausarbeitung beaufsichtigt haben. Dann werden die Rentenreform mit einer ersten Frist im Januar 2016 sowie eine drastische Reduktion der Finanzierung von öffentlichen Spitälern um 22% folgen.
Für die Gläubiger und die herrschende Klasse Griechenlands wird die Hauptaufgabe während des Herbstes darin bestehen, die griechischen Banken zu rekapitalisieren und einen „Bail-In“ [Beteiligung der Gläubiger einer Bank an den Verlusten bei allfälliger Zahlungsunfähigkeit] zu verhindern. Dies bedeutet aber auch, dass wenn diese Rekapitalisierung nicht gelingt, die Einlage-Garantie auf Summen von 100’000 Euro und darunter nicht mehr weiter aufrechterhalten werden kann. Dabei muss man gar nicht mehr erwähnen, dass Sparguthaben von über 100’000 Euro zwischen 2010 und 2015 praktisch komplett verschwunden sind. Beträge von 100’000 Euro und mehr sind für die Transaktionen von mittleren und kleinen Firmen aber sehr entscheidend.
Die Koalitionsregierung und ihr Chef Tsipras werden also keine Kontrolle über die Banken haben. Es ist dabei nicht ausgeschlossen, dass, je nach den aus dieser sehr ungünstigen Konstellation resultierenden sozio-politischen Unruhen, die Koalition vergrössert werden muss, oder gar eine Regierung der „nationalen Einheit“ angestrebt wird.

Ein erster Schritt für die Volkseinheit

Man kann in Gedanken auch einmal die Stimmen, welche verschiedene Parteien links von Syriza gesammelt haben, addieren (KKE, Volkseinheit, Antarsya). Eine solche Berechnung kann dabei zurzeit nur zu einem Schluss führen: Es gibt heute in Griechenland eine signifikante Zahl an AktivistInnen, die eine soziale Verankerung aufweisen. Diese Verankerung wird dabei in den nächsten Monaten getestet werden. Während der gerade abgelaufenen Wahlphase konnte das „Nein“ vom 5. Juli nicht politisch verwertet und konkretisiert werden. Die Gründe dafür müssen unbedingt analysiert werden. Für die Volkseinheit wird eine gemeinsame Bilanz sicherlich erstellt werden.
Die Argumentationslinie einiger SprecherInnen der Volkseinheit, die ihren Schwerpunkt auf die Währungsfrage (Rückkehr zur Drachme) gelegt haben, scheint eher der Offensive der Syriza-Führung in die Hände gespielt zu haben. Für die arbeitenden Klassen waren die Auswirkungen der Sparpolitik die unmittelbarsten und am einfachsten verständlichen Probleme. Deshalb ist es politisch sicherlich am glaubwürdigsten, den Ausstieg aus dem Euro als notwendiges Übel zu präsentieren, wenn es darum geht, wichtige Forderungen zu politischen und sozialen Bedürfnissen wieder erfüllen zu können. Den Grexit zum zentralen Punkt einer politischen Kampagne zu machen, bedeutet schlussendlich, den Klassenkampf gegen das politisch-ökonomische System und die Institutionen des Euro zum Ausgangspunkt eines neuen Programms zu machen. Wir können uns aber Fragen, wie effizient diese Art der Vermittlung eines Programm sein kann, insbesondere wenn es darum geht, die sozialen Kräfte zu stärken.
Auch deshalb ist es notwendig, wenn schon die Schulden als illegitim, abscheulich und nicht nachhaltig bezeichnet werden, dass die Verbindung zu den sozialen Bedürfnissen gelingt. Nur so kann das Bewusstsein entstehen, dass zwischen der Ablehnung der Rückzahlung der Schulden und den grundlegenden Forderungen nach Gesundheit, Schulen etc. ein fundamentaler Zusammenhang besteht.
In den kommenden Wochen wird die Volkseinheit ihre politische Struktur ziemlich sicher als politische Aktionsfront definieren. Es wird die Aufgabe ihrer ExponentInnen sein, die Fähigkeit zur Verbindung mit sozialen Widerständen, die aus den brutalen Einschnitten erwachsen könnten, welche mit der Umsetzung des dritten Memorandums einhergehen, zu erweitern.
In diesem Sinne ist die europäische Dimension des in Griechenland geführten Kampfes eine Herausforderung, der sich alle Kräfte der radikalen Linken auf dem Kontinent stellen müssen.
[1] Eine Einführung zum Programm der Volkseinheit wurde am 16. September auf französisch auf der Website alencontre.org veröffentlicht.
Übersetzung: BFS

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