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Ökosozialismus: Eine Perspektive für die revolutionäre Linke?

Die Bewegung für den Sozialismus hat sich in jüngster Zeit immer wieder mit Fragen der Ökologie auseinandergesetzt. Dazu gehören etwa die Teilnahme an der Anti-AKW-Bewegung nach der Katastrophe von Fukushima, verschiedene Debattebeiträge und Interventionen zu Themen wie Decroissance, EcoPop, Gentechnik und Agrarökologie sowie die aktuellen Veranstaltungen und Mobilisierungen gegen TTIP und den Klimagipfel COP21. Der folgende Artikel versucht, das Verhältnis der „revolutionär-sozialistischen Linken“ zu ökologischen Fragen und Bewegungen zu diskutieren und die Idee des Ökosozialismus vorzustellen.

David Ales, BFS Basel

Es gibt Begriffe, die im Verlaufe der vergangenen Jahrzehnte derart häufig, unterschiedlich und irreführend verwendet wurden, dass sich die Frage stellt, ob sich deren Weiterführung oder Wiederbelebung für eine antikapitalistische Theorie und Praxis überhaupt lohnt. „Vernunft“, „Freiheit“ oder „Demokratie“ sind solche Begriffe. Oder eben „Sozialismus“. Vereinnahmt und diskreditiert einerseits durch eine Vielzahl autoritär-stalinistischer Regime („Realsozialismus“ in der ehemaligen Sowjetunion, früheres China usw.) während des 20. Jahrhunderts, verwässert und bis heute ad absurdum geführt durch die internationale „Sozialdemokratie“ und New Labour. Während das stalinistische Spektrum wichtige Grundgedanken des Sozialismus, wie etwa Basisdemokratie sowie gleiche politische und soziale Rechte für alle, von Beginn an negiert hat und die Verfolgung politisch anders Denkender gutheisst, sieht ein Grossteil der heutigen Sozialdemokratie keinen Widerspruch zwischen der kapitalistischen Barbarei, die sie selbst mitverwalten, und dem, was sie selbst für „sozialistisch“ oder „sozialdemokratisch“ hält. Wenn wir heute also ernsthaft in Erwägung ziehen, mit dem Begriff Ökosozialismus zu operieren, müssen wir uns erstens darüber klar werden, wer in unserer Gesellschaft die Definitionsmacht über derartige Begriffe ausübt, und zweitens, was wir zunächst mit dem Begriff „Sozialismus“ meinen.

Demokratie und Sozialismus

Wer beim Wort „Sozialismus“ noch nicht genervt die Augen verdreht und sich in weniger verstaubte Konzepte flüchtet, tut dies spätestens dann, wenn Ewiggestrige es wagen, gar von der „Diktatur des Proletariats“ zu sprechen. Das ist insofern verständlich, als dass der Begriff „Diktatur“ spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg in der Regel mit Faschismus oder zumindest sehr autoritären und menschenfeindlichen Herrschaftsformen assoziiert wird. Hingegen gehört die (im 19. Jahrhundert entwickelte) Idee der „Diktatur des Proletariats“ – genauso wie diejenige des Sozialismus – zu denjenigen, die historisch bis heute noch nie und nirgends umgesetzt werden konnten. Tatsächlich verbirgt sich hinter dieser Formel kein demokratiefeindliches Konzept, sondern die Absicht, eine Gesellschaft aufzubauen, in der die Arbeiter*innenklasse oder das Proletariat (auch diese Begriffe sind leider definitionsbedürftig geworden) in ihrer Gesamtheit über alle gesellschaftlichen Entwicklungen befindet. Die Diktatur des Proletariats meint also gerade nicht die Machtausübung einer Minderheit, sondern das genaue Gegenteil. Schon vor knapp 100 Jahren kommentierte Rosa Luxemburg das Verhalten der Bolschewiki während der Russischen Revolution mit folgenden Worten:

„Der Grundfehler der Lenin-Trotzkischen Theorie ist eben der, daß sie die Diktatur (…) der Demokratie entgegenstellen. „Diktatur oder Demokratie“ heißt die Fragestellung sowohl bei den Bolschewiki wie bei Kautsky. Dieser entscheidet sich natürlich für die Demokratie, und zwar für die bürgerliche Demokratie, da er sie eben als die Alternative der sozialistischen Umwälzung hinstellt. Lenin-Trotzki entscheiden sich umgekehrt für die Diktatur im Gegensatz zur Demokratie und damit für die Diktatur einer Handvoll Personen, d. h. für bürgerliche Diktatur. Es sind zwei Gegenpole, beide gleich weit entfernt von der wirklichen sozialistischen Politik. Das Proletariat kann, wenn es die Macht ergreift, nimmermehr nach dem guten Rat Kautskys unter dem Vorwand der „Unreife des Landes“ auf die sozialistische Umwälzung verzichten und sich nur der Demokratie widmen, ohne an sich selbst, an der Internationale, an der Revolution Verrat zu üben. Es soll und muß eben sofort sozialistische Maßnahmen in energischster, unnachgiebigster, rücksichtslosester Weise in Angriff nehmen, also Diktatur ausüben, aber Diktatur der Klasse, nicht einer Partei oder Clique, Diktatur der Klasse, d. h. in breitester Öffentlichkeit, unter tätigster ungehemmter Teilnahme der Volksmassen, in unbeschränkter Demokratie.“ (Rosa Luxemburg: Zur russischen Revolution, Teil 3)

Luxemburgs Kritik an „Lenin-Trotzki“ ist bis heute eines der besten Dokumente, wenn es darum geht, das Verhältnis einer sozialistischen Perspektive gegenüber den „bürgerlichen Freiheiten“ zu klären. Sozialismus bedeutet keinen Abbau bürgerlicher Freiheiten (Meinungsäusserungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Glaubensfreiheit), sondern verlangt, über die „süsse Schale der formalen Gleichheit und Freiheit“ moderner kapitalistischer Gesellschaften hinauszugehen, ja diese mit „neuem sozialen Inhalt zu füllen“. Luxemburg weiter:

„Es ist die historische Aufgabe des Proletariats, wenn es zur Macht gelangt, an Stelle der bürgerlichen Demokratie sozialistische Demokratie zu schaffen, nicht jegliche Demokratie abzuschaffen. Sozialistische Demokratie beginnt aber nicht erst im gelobten Lande, wenn der Unterbau der sozialistischen Wirtschaft geschaffen ist, als fertiges Weihnachtsgeschenk für das brave Volk, das inzwischen treu die Handvoll sozialistischer Diktatoren unterstützt hat. Sozialistische Demokratie beginnt zugleich mit dem Abbau der Klassenherrschaft und dem Aufbau des Sozialismus. Sie beginnt mit dem Moment der Machteroberung durch die sozialistische Partei. Sie ist nichts anderes als die Diktatur des Proletariats.“ (ebd.)

Damit ist unmissverständlich ausgedrückt, dass eine sozialistische Perspektive zu keiner Zeit im Widerspruch zu einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung stehen darf. Auch nicht in einer wie auch immer verfassten „Übergangsphase“. Noch heute finden sich leider in grossen Teilen der sozialistischen Linken relativierende Haltungen gegenüber Pluralismus, Demokratie und vor allem der Frage der Gewalt. Die damit verbundenen Phrasen beginnen meist mit Formulierungen wie „In bestimmten Situationen ist es nun mal notwendig…“ und münden schlussendlich in einer pragmatischen Haltung, die es erlaubt, die eigenen Prinzipien bei Bedarf auch über Bord zu werfen. Für Luxemburg und andere Vertreter*innen eines demokratischen Sozialismus war hingegen klar: Mit Ausnahme des Rechts auf Privateigentum an den Produktionsmitteln bedeutet Sozialismus eine Ausweitung politischer und sozialer Rechte sowie eine umfassende Demokratisierung und Vergesellschaftung aller Lebensbereiche (Arbeit, Wohnen, Freizeit). Eine herablassende und relativierende Haltung gegenüber „bürgerlichen Freiheiten“ kann sich eine emanzipatorische, antikapitalistische und geschichtsbewusste Linke nicht mehr leisten.

Sozialismus als Projekt einer Massenbewegung

Während wir uns also auf eine Handvoll Grundsätze und Prinzipien berufen können – Antikapitalismus, Internationalismus, Vergesellschaftung aller Lebensbereiche, Basisdemokratie und Freiheit – stellt Sozialismus aber keine Blaupause und schon gar keine fixfertige Anleitung für das konkrete politische Handeln dar. Gerade weil ein sozialistisches Projekt immer das Ergebnis von Massenbewegungen und demokratischen Aushandlungsprozessen ist, macht es für die heute kleine marxistische Linke keinen Sinn, einen Stufenplan oder ein detailliertes Programm zur Erreichung des Sozialismus zu entwerfen. Damit ist auch klar, dass „der Weg dorthin“, solange es keine Massenbewegungen und Organisationen mit antikapitalistischer Ausrichtung gibt, unklar ist und bleiben wird. Gedankenspiele, Überlegungen und Utopien sind dabei ausdrücklich erwünscht, sollten zum jetzigen Zeitpunkt aber das bleiben, was sie sind.

Ökosozialismus – eine Weiterentwicklung der marxistischen Tradition?

Sozialist*innen engagieren sich seit jeher in verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Bereichen. Dass nicht nur Arbeitskämpfe, sondern beispielsweise auch antirassistische und feministische Kämpfe zu unserer politischen Praxis gehören, muss heute den wenigsten Aktivist*innen erklärt werden. Etwas uneindeutiger und komplizierter gestalten sich die Diskussionen, wenn es um Fragen der Ökologie geht. Zwar ist sich die Linke schnell darüber einig, dass die heutige kapitalistische Produktionsweise menschenfeindlich und umweltschädigend ist. „Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“ (Karl Marx, Kapital I.: 530) Wir wissen, dass die dem Kapitalismus inhärente Notwendigkeit der ständigen Ausweitung und Intensivierung der Produktion zwangsläufig mit der Funktionsweise unseres Ökosystems kollidiert. Doch wie das Verhältnis der antikapitalistischen Linken zur industriellen Massenproduktion und Landwirtschaft, zum Wachstumsparadigma, zu Produktivitätssteigerung und Industriegesellschaft an sich ist bzw. sein sollte, darüber finden wenig Diskussionen statt.

Gross ist auch die Skepsis gegenüber echten oder vermeintlichen Versuchen bestimmter gesellschaftlicher Milieus, die Lebensweise des Menschen im Rahmen der bestehenden Verhältnisse naturverträglicher zu gestalten (Biologisch produzierte Lebensmittel, Veganismus, Ökologischer Fussabdruck, Urban Gardening usw.) Abgesehen des unsympathischen Spotts, den wir „echte Linke“ oft für andere „nicht linke“ Kreise übrig haben, sollten sich Sozialist*innen aber fragen, welche Perspektiven und Projekte sie selber entwickeln, um soziale und ökologische Anliegen zusammen zu denken, um so nicht nur für eine antikapitalistische, sondern auch für eine umweltverträgliche und nachhaltige Gesellschaft zu kämpfen. One solution: Revolution? In diesem Zusammenhang macht es nur dann Sinn, von Ökosozialismus zu sprechen, wenn damit auch eine ernsthafte Weiterentwicklung marxistischer Theorie und Praxis gemeint ist. Dass eine postkapitalistische Gesellschaft nicht automatisch und zwangsläufig umweltverträglich ist, sollte allen klar sein.

Die marxistische Linke ist „dem Fortschritt“ und dem Gedanken der technologischen Modernisierung unserer Gesellschaft seit jeher positiv gesinnt. Schon im Manifest der Kommunistischen Partei beschrieb Marx die aufkommende Bourgeoisie als revolutionäre und wegbereitende Klasse mit welthistorischer Bedeutung:

„Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt.

Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose “bare Zahlung”. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. (…)

Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen. (…)

Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. (…)

Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen – welches frühere Jahrhundert ahnte, daß solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten.“ (Manifest der Kommunistischen Partei, Teil I)

Hier zeigt sich unter anderem, wie sehr das Denken von Marx und Engels auch ein Produkt der damaligen gesellschaftlichen Epoche war. Die Vorstellung, sich durch die Industrialisierung endlich von den „Naturkräften“ emanzipieren zu können, begeisterte damals viele Menschen. In einer Epoche, in der Seuchen, Viruserkrankungen, Kälte und Hunger für einen Grossteil der europäischen Bevölkerung eine latente oder ständige Gefahr darstellte, war die zutiefst humanistische Vorstellung, einzig dem Menschen alles andere zu unterwerfen, verlockend.

„Das 19. Jahrhundert ist das ‘Jahrhundert der Wissenschaft’ in einem eminenten Sinne geworden, indem diese in jener Zeit grosse Reputation und geschichtsbestimmte Kraft gewann. Diese Autorität verdankten und verdanken vor allem die Naturwissenschaften einerseits ihrer experimentellen und methodischen Genauigkeit und Folgerichtigkeit, andererseits ihrer praktischen Bedeutung in Naturbeherrschung und Technik. Vor allem im 19. Jahrhundert sahen sich die Zeitgenossen als Zeugen eines ungeheuren Umschwunges, der Entstehung eines neuen Zeitalters, in dem Wissenschaft und Technik alles zu prägen und zu bestimmen und alles zum Besseren zu verändern schienen.“ (Volker Steenblock: Arbeit am Logos: Aufstieg und Krise der wissenschaftlichen Vernunft, S. 159)

Einem blinden Glauben an wissenschaftlichen Fortschritt sind Marx und Engels nie verfallen, war ihnen doch klar, dass nur eine Revolutionierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse durch die Machtergreifung des Proletariats das durch den Kapitalismus herbeigeführte Elend beseitigen würde. Einerseits hatte also die Neugestaltung der politischen und sozialen Verhältnisse oberste Priorität. Gleichzeitig betonten sie immer wieder, dass die starke Entwicklung der Produktivkräfte eine unabdingbare Voraussetzung für den Sozialismus sei.

“Diese “Entfremdung”, um den Philosophen verständlich zu bleiben, kann natürlich nur unter zwei praktischen Voraussetzungen aufgehoben werden. Damit sie eine “unerträgliche” Macht werde, d.h. eine Macht, gegen die man revolutioniert, dazu gehört, daß sie die Masse der Menschheit als durchaus “Eigentumslos” erzeugt hat und zugleich im Widerspruch zu einer vorhandenen Welt des Reichtums und der Bildung, was beides eine große Steigerung der Produktivkraft, einen hohen Grad ihrer Entwicklung voraussetzt – und andrerseits ist diese Entwicklung der Produktivkräfte (…) auch deswegen eine absolut notwendige praktische Voraussetzung, weil ohne sie nur der Mangel verallgemeinert, also mit der Notdurft auch der Streit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße sich herstellen müßte, weil ferner nur mit dieser universellen Entwicklung der Produktivkräfte ein universeller Verkehr der Menschen gesetzt ist, daher einerseits das Phänomen der “Eigentumslosen” Masse in Allen Völkern gleichzeitig erzeugt (allgemeine Konkurrenz), jedes derselben von den Umwälzungen der andern abhängig macht, und endlich weltgeschichtliche, empirisch universelle Individuen an die Stelle der lokalen gesetzt hat.“ (Karl Marx / Friedrich Engels: Die Deutsche Ideologie. I Feuerbach. Gegensatz von materialistischer und idealistischer Anschauung)

Es geht hier nicht darum, diese Vorstellungen in ihrem Kontext zu kritisieren, sondern darum, die Frage aufzuwerfen, warum eben dieses Verhältnis zwischen Mensch, Natur und Zivilisation bei vielen marxistischen Linken – 150 Jahre später – nicht weiterentwickelt wird. Das 20. und bisherige 21. Jahrhundert zeigen uns, dass sich die Grundprobleme unserer Gesellschaft durch Produktivitätswachstum und Technologisierung genauso wenig lösen lassen wie damals. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind immer begrüssenswert, die Art und Weise ihrer ökonomischen und gesellschaftlichen Implementierung kann sich jedoch positiv, negativ oder auch ambivalent auf die Gesellschaft auswirken. Die Schauplätze sozialistischer Revolutionen des 20. Jahrhundert haben uns zudem gezeigt, dass Revolutionen nicht eher dort ausbrechen, wo die Produktivkräfte am weitesten entwickelt sind, sondern dass ihr Zustandekommen von einer Vielzahl von Faktoren abhängt. „Revolutionäres Bewusstsein“ findet sich auch in technologisch und ökonomisch „weniger weit“ entwickelten Ländern und kann auf eine etapistische Gesellschaftstheorie verzichten. Schliesslich ist der globale Kapitalismus bis heute längst nicht so einheitlich und vereinheitlichend, wie von Marx beschrieben. Ungleiche ökonomische und kulturelle Entwicklungen, halbfeudale Verhältnisse, Sklaverei, „mittelalterliche“ Rechtssysteme, landwirtschaftlich geprägte Ökonomien und Subsistenzwirtschaft gehören bis heute nicht der Vergangenheit an.

Massstäbe des Fortschritts

Eine ökosozialistische Perspektive bedeutet keine Abkehr von der Idee des Fortschritts durch technologische Errungenschaften. Aber sie verlangt, bezüglich der Entwicklung der Produktivkräfte, der Wissenschaft und ihrer Verwendung klare Massstäbe zu entwickeln. Dabei ist klar, dass die ökologischen Auswirkungen neuer und bestehender Technologien zu einem ebenso wichtigen Faktor für ihre Beurteilung werden müssen wie etwa die Frage der Arbeitsbedingungen. Dass die Erarbeitung derartiger Masssäbe nicht von Wenigen und nicht auf einer rein ideell-ideologischen Basis vorgenommen werden kann, sondern sich an den Forderungen aktueller sozialer Bewegung sowie den jeweiligen wissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren muss, versteht sich von selbst.

Nicht übers Ziel hinausschiessen

Wie schon erwähnt, bedeutet eine kritische Auseinandersetzung mit der Fortschrittsgläubigkeit und dem Mensch-Naturverhältnis keineswegs, in eine zivilisationsfeindliche oder gar primitivistische Gesellschaftsperspektive zu verfallen. Einige sich selbst in der ökosozialistischen Tradition sehenden Kreise tun dies leider, indem sie das Zeitalter der Industrialisierung als kurze historische Periode bezeichnen, die auf der Ausbeutung von Kohle und fossiler Brennstoffe beruhe und die es möglichst bald zu überwinden gelte. Damit implizieren sie zu unrecht, dass Automatisierung, Arbeitsteilung und industrielle Produktion nur im Rahmen des massenhaften Verbrauchs fossiler Brennstoffe funktionieren können. (Siehe dazu beispielsweise den Vortrag von Bruno Kern, Herausgeber der Zeitschrift Luxemburg der Rosa Luxemburg-Stiftung, über Ökosozialismus oder Barbarei. https://www.youtube.com/watch?v=P0sVXoz7WEc) Eine derartige Aussage auf nicht kapitalistische Verhältnisse zu übertragen und zu verallgemeinern, ist spekulativ und verliert den Glauben an das Potential einer postkapitalistischen Wirtschaftsform, in der – um es mit Marx zu sagen – „die assoziierten Produzenten ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln [und] unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den, ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn.“ (Karl Marx. Das Kapital. Dritter Band. Berlin 1971, S. 828.) Mit anderen Worten: Der Kapitalismus beschreibt ein Klassenverhältnis, in der die herrschende Klasse in ihrem Interesse und auf Kosten der Umwelt und der beherrschten Klassen über die Produktionsbedingungen entscheiden. Sozialismus hingegen bezeichnet eine Gesellschaft, in der alle auf demokratische Weise über die Produktion und Produktionsbedingungen entscheiden und in der dadurch auch ökologische Anliegen ernsthaft berücksichtigt werden können. Ein zwangsläufiger Widerspruch zur Industrialisierung besteht nicht!

Ebenfalls in einer problematischen Perspektive bewegen sich teilweise die Anhänger der Decroissance-Bewegung, die es für zentral halten, das globale Wirtschaftsvolumen drastisch zu reduzieren. Dabei übersehen sie nicht nur, dass die Qualität der Produktion wichtiger ist als die Quantität, sondern auch, dass es auch heute noch viele Produktionsbereiche und Dienstleistungen gibt, die es auszubauen und nicht zu verkleinern gilt.

Die Frage der Ökologie ist zentral

Im Sommer 1917 war es die Forderung der Bolschewiki nach Brot, Land und Frieden, die bei vielen Arbeiter*innen und Soldaten im damaligen Russland Anklang fand. Aus einer ökosozialistischen Perspektive sollte klar sein, dass ein intaktes Ökosystem letztlich die Voraussetzung für all diese Forderungen ist! Soziale und ökologische Anliegen zusammen zu denken, bedeutet, zu verstehen, dass auch die Auswirkungen der Naturzerstörung vor allem die globalen subalternen Klassen trifft und treffen wird und die Erhaltung unserer Lebensgrundlagen somit Teil des Klassenkampfes und der internationalen Solidarität ist.

„Die ökologische Wende ist also unmittelbar eine Frage der globalen Gerechtigkeit. Unser Produktions- und Konsumtionsniveau ist nicht universalisierbar. (…) Dazu kommen unmittelbare Folgeprobleme unserer Produktion und unseres Konsums, die wir den Bevölkerungsmehrheiten der „Dritten Welt“ aufbürden. Erwähnt seien hier nur die Folgen des Uranabbaus etwa im Niger und der Bodenerosion in einer exportorientierten Landwirtschaft.
Wenn wir diesen globalen Horizont nicht ausblenden wollen, dann kommen wir um die Einsicht nicht herum: Mit unserer ökologisch nicht tragbaren Lebens- und Produktionsweise beteiligen wir uns weltweit an einem chauvinistischen Selektionsprozess, der andere unmittelbar ihrer Lebenschancen beraubt. Die ökologische Wende muss deshalb für Linke ganz oben auf der Tagesordnung stehen. Die Akzeptanz für die einschneidenden Veränderungen unserer Lebensweise und unserer Konsummuster, die daraus notwendig resultieren, wird allerdings am besten durch eine egalitäre Gestaltung der eigenen Gesellschaft geschaffen.“ (Saral Sarkar / Bruno Kern: Ökosozialismus oder Barbarei. Eine zeitgemäße Kapitalismuskritik, S. 11)

Das Handeln im Kleinen und der grosse Wurf

Wir kennen das: Der Streit zwischen Strömungen und Milieus auf der einen Seite, die lieber „konkret etwas tun wollen“, anstatt von der Revolution zu träumen, und der marxistischen Linken auf der anderen Seite, die bei jeder Biotomate und jeder Vokü am liebsten die Internationale anstimmen würde, um ans Wesentliche zu erinnern. Der Vorwurf der einen, sich nicht mit dem eigenen individuellen Verhalten auseinandersetzen zu wollen und alles Unangenehme auf später zu vertagen. Der Vorwurf der anderen, letztlich doch nur die bestehenden kapitalistischen Verhältnisse zu verjüngen, indem konkrete „Verbesserungsvorschläge“ für morgen entwickelt werden. Ökosozialismus könnte eine neue Perspektive werden, die unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und Sensibilitäten zusammenbringt. Die marxistische Erkenntnis, dass es letztlich kein richtiges Leben im Falschen gibt (Adorno), vereint mit den Erfahrungen und Aktivitäten vieler zumindest systemkritischer Bewegungen. Dies verlangt von der marxistischen Linken, Verständnis und Offenheit zu zeigen und sich daran zu gewöhnen, dass Menschen auf unterschiedliche Weise Politik betreiben und oft in anderen Kategorien denken. Vor allem sollten wir lernen, die Anliegen ökologisch und sozial orientierter Bewegungen ernstzunehmen und diese – wenn immer möglich – in unsere Kapitalismuskritik zu integrieren. Dabei sollten wir auch aufzeigen, inwiefern eine ökosozialistische Perspektive den eigentlichen Wünschen vieler ökologischer Bewegungen Rechnung trägt.

Krisenhaftigkeit des Kapitalismus

Nicht zuletzt bietet eine ökosozialistische Perspektive auch die Chance, auf die längerfristigen verheerenden Auswirkungen des Kapitalismus auf unsere Umwelt hinzuweisen. Während sich die Zusammenbruchshoffnungen vieler vergangener Revolutionär*innen als illusorisch erwiesen haben und die globale Bourgeoisie mehrfach bewiesen hat, dass sie um einiges anpassungsfähiger und zäher ist, als Marx und Engels in ihrem Frühwerk noch vorausgesagt hatten, vermag auch das globalisierte Kapital den Widerspruch zwischen einem permanent auf Wachstum angewiesen Wirtschaftssystem und der Endlichkeit natürlicher Ressourcen nicht zu überwinden. Die Erschöpfung der Tragfähigkeit unseres Ökosystems ist eine reale Bedrohung für Millionen von Menschen und führt schon heute in vielen Region zu Verwüstung, Verunreinigungen von Boden und Atmosphäre und einem Einbruch landwirtschaftlicher Erträge. Ein Grund mehr, sich für eine klassenkämpferische und ökosozialistische Linke einzusetzen.

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