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Ohne Gewerkschaftsrechte keine echte Personenfreizügigkeit

Wöchentlich wird ein neuer «Lohndumping-Skandal» öffentlich. Diese Fälle sind aber nur die Spitze des Eisbergs. Zwei Beispiele zeigen exemplarisch, was Lohndumping heisst. Dieser Begriff wird in der Schweiz zudem juristisch sehr eng gefasst.

von BFS Lausanne

Auf einer Baustelle (BATLab) der Genfer Universitätsspitäler (HUG) werden Stundenlöhne von 8 Euro gezahlt – statt des Mindestlohns von 24.68 CHF. Und die Leitung der SBB hat zusammen mit dem Zürcher Amt für Wirtschaft und Arbeit Löhne von 3000 CHF für eine Wochenarbeitszeit von über 60 Stunden toleriert. Der Fall betrifft «Scheinselbständige», die von einem Subunternehmer auf eine SBB-Baustelle in Zürich entsandt wurden. Auch bei ihren eigenen Angestellten drücken die SBB laufend auf die Arbeitsbedingungen, die Löhne und die Renten.
Angesichts dieser zahlreichen «Skandale» – die seit Jahren absehbar waren – fand am 21. September 2013 eine schweizweite Demonstration statt. Paul Rechsteiner, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), sagte bei dieser Gelegenheit: «Die Schweiz ist reif für eine sozialen Wende.» Dem ist nicht zu widersprechen – leider geschieht die Wende im Sinne der Arbeitgeber!

Fünf nach wie vor aktuelle Forderungen

Eine wichtige Weichenstellung für die aktuelle verhängnisvolle Lage zum Schaden aller Lohnabhängigen fand in den Jahren 2004-2005 statt. Damals verkündete die Leitung der Sozialdemokratischen Partei (SPS) und des SGB, die «flankierenden Massnahmen» zur Personenfreizügigkeit seien eine «historische Chance». Aber für wen, und wofür? Angeblich zum «Schutz der Arbeitnehmer gegen missbräuchliche Arbeitsbedingungen und Lohndumping.»
Wir waren damals ziemlich isoliert, als wir ein linkes Referendum gegen die völlig ungenügenden flankierenden Massnahmen lancierten. Dabei nannten wir fünf elementare Forderungen: Erstens: 800 Arbeitsinspektoren, die unangemeldet die Betriebe kontrollieren und Zugang zu allen Unterlagen haben sollten (Inspektoren mit klaren Rechten und Schutzmechanismen, also mit deutlich mehr Befugnissen als die zusätzlichen paritätischen Inspektoren, die in Genf neulich eingestellt werden). Zweitens: Obligatorische Meldung der Löhne und Qualifikation der eingestellten Arbeitnehmenden an die zuständigen Stellen. Drittens: Zwingende Normalarbeitsverträge mit Mindestlöhnen und verbindlichen Arbeitszeiten für Sektoren ohne Gesamtarbeitsvertrag (GAV). Viertens: Eine GAV-Allgemeinverbindlicherklärung (GAV-Bestimmungen erhalten Gesetzeskraft) muss auch dann möglich sein, wenn sie nur von Seite der gewerkschaftlich organisierten Lohnabhängigen beantragt wird. Und fünftens: Wirksamer Kündigungsschutz für Personalvertretungen und GewerkschaftsaktivistInnen sowie generell für alle Lohnabhängigen.
Heute sind diese Forderungen keineswegs überholt, sie sind sogar noch dringender geworden. Die Praxis der Patrons führt deren Notwendigkeit drastisch vor Augen. Wenn wirklich – selbst nur in Ansätzen – für die Umsetzung dieser Bestimmungen gekämpft worden wäre, hätte man das stark fremdenfeindliche Abstimmungsresultat vom 9. Februar 2014 «gegen Masseneinwanderung» abwenden können. Eine Abstimmung, die zur weiteren Spaltung der Lohnabhängigen aufgrund von Gefühlen der Machtlosigkeit führt.

Der Euro als Vorwand für neue Angriffe

Auch wenn die Leitung von SP und SGB ein Loblied auf die flankierenden Massnahmen singen: Die Realität spricht eine andere Sprache. Faktische Verlängerung der Arbeitszeit, unbezahlte Überstunden, Einstellungslöhne unter dem Qualifikationsniveau, Verschärfung der Arbeitsrhythmen und der Prekarität mit entsprechenden gesundheitlichen Folgen, Umstrukturierung mit gleichbleibendem Auftragsvolumen aber weniger Arbeitskräften, Zunahme der Temporärarbeit, willkürliche Entlassung älterer (über 50-jähriger) Mitarbeitenden, jüngerer und kranker Beschäftigter usw… Hinzu kommt das grassierende Subunternehmertum mit Niedriglöhnen in Schweizer Grenzregionen.
Allgemein anerkannt ist, dass die Lohnabhängigen damit europaweit der Konkurrenz unterworfen werden. Dies auch angesichts der andauernden Arbeitslosigkeit. In diesem Klima eröffnen rechte Kräfte heute die Jagd auf Sozialhilfebeziehende, also auch und vor allem auf jene Menschen, denen die Rechte zuvor mittels unmenschlicher Gesetzesrevisionen eine Invalidenrente vorenthalten hat.
Seit die Nationalbank (SNB) angekündigt hat, den Euromindestkurs nicht mehr zu stützen, sind die bescheidenen Versprechen betreffend flankierende Massnahmen – die ohnehin nicht gehalten wurden – Makulatur geworden. Jetzt hat man den Vorwand, um eine künstliche heilige Allianz (zwischen Gewerkschaftsapparaten und Wirtschaftsverbänden) «gegen» die SNB zu proklamieren. Gleichzeitig werden die Angriffe auf die Lohnabhängigen verschärft mit dem Totschlagargument, es sei der einzige Weg. Am 1. April berichtete die Nachrichtenagentur SDA/ATS treffend über die Ergebnisse der sogenannten Verhandlungen zwischen Bundesrat, Arbeitgebern und Gewerkschaften: «Keine Verbesserung beim Schutz gegen Lohndumping». Und am 2. April schrieb Le Temps: «Nein zur Stärkung der Normalarbeitsverträge: Gewerkschaften finden sich damit ab.»
Daher klingt es nicht besonders glaubwürdig, wenn die Gewerkschaftspresse schreibt: «Den Wind der Deregulierung aufhalten» (Evénement syndical, 22. April 2015). Das schweizerische Arbeitsrecht ist im europäischen Vergleich bereits weitgehend dereguliert. Dies war schon 2004-2005 offensichtlich. Daher wäre es so wichtig gewesen, die besonderen Umstände zu nutzen, um ein Kräfteverhältnis rund um einfache und verständliche Forderungen aufzubauen.

Arbeitgeberstrategie: Angst schüren und (Menschen) ausnutzen

Einige Beispiele zum Überblick.

  • In der Uhrenindustrie, wo die Gewerkschaft Mindestlöhne im Gesamtarbeitsvertrag verankern konnte, ist der Medianlohn um 300 Franken monatlich gesunken (L’Evénement syndical, 21. Januar 2015). Obwohl die Branche seit 2010 Aufwind hat und hochkarätige Profite realisiert. Die Patrons der Uhrenindustrie nutzten die Mittel, die ihnen zur Verfügung standen, während die Leitung der Gewerkschaft Unia passiv blieb: Die Dumpingstrategie erhielt Einzug über die Qualifikationsskala und die Temporärarbeit sowie über die Ängste der schutzlosen Beschäftigten, was auch an der Uhrenindustrie-Konferenz deutlich wurde.
  • Weiter nutzen die Arbeitgeber die Liberalisierung des Wechselkurses auf breiter Front, um die Wochenarbeitszeit ohne jegliche Gegenleistung deutlich zu erhöhen. Und die Gewerkschaften deuten diese Situation in einen Sieg um, weil keine Lohnsenkungen oder Entlassungen eingetreten sind! Mit einer solchen Haltung geben sie den Patrons grünes Licht für weitere Verschärfungen.
  • Da es innerhalb der Betriebe keinerlei Gewerkschaftsrechte gibt, geschehen unerhörte Missbräuche. So gesteht ein Unternehmerverband ein, dass in einem Gipserunternehmen die GAV-Löhne scheinbar eingehalten wurden, dass die Angestellten aber nachträglich einen Teil des Lohns in bar rückerstatten mussten! Der Arbeitgebervertreter räumte – zu Recht – ein, dass ein solcher Missbrauch wahrscheinlich nicht einmal durch eine Untersuchung des Seco (Staatssekretariat für Wirtschaft) nachgewiesen werden könnte (NZZ, 15. April 2015).
  • Vier Angestellte von Swiss – drei von ihnen nach 15-jähriger Anstellung, der vierte arbeitete seit 30 Jahren im Betrieb – verlangten die Bezahlung von Überstunden aufgrund von Verspätungen, die mit einer technischen Panne zusammenhingen. Sie wurden von Swiss sofort entlassen, nur weil sie ihre Rechte erwähnt hatten (SonntagsZeitung, 15. März 2015).

Keine «Verhandlungen» ohne Sicherung der Gewerkschaftsrechte

Elementar zur Abwehr dieser Angriffe seitens der Gewerkschaften ist, dass Gewerkschaftsrechte für alle Beschäftigten in den Betrieben eingefordert werden. Die Lohnabhängigen sind keine «Opfer des Arbeitsmarktes» sondern sie sind Opfer der Kräfteverhältnisse, welche die Käufer von Arbeitskraft (die Unternehmer) den Menschen mehr oder weniger aufzwingen, die ihre Arbeitskraft verkaufen (sozusagen die «Unternommenen»). Um diese Situation zu ändern, braucht es kollektive Aktion in unterschiedlicher Form aber auch ein Kampf für international anerkannte Gewerkschaftsrechte, die aus der Aktion entspringen und sie gleichzeitig ermöglichen. Solche Rechte werden in der Schweiz mit Füssen getreten.
Sicherlich wird es ein schwieriges Unterfangen, die Folgen der Entscheidung von 2005 seitens der Spitze von SPS und SGB rückgängig zu machen. Haben diese Kreise doch den Patrons den Rücken gestärkt und die Arbeitnehmenden aller Nationalitäten fallen gelassen.
Daher es ist eine Notwendigkeit, bei sämtlichen gewerkschaftlichen oder politischen Aushandlungsprozessen zuallererst die Einhaltung des Beschlusses des Komitees für gewerkschaftliche Rechte der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) einzufordern. Dieses Komitee fordert die schweizerische Regierung auf, «Massnahmen mit dem Ziel zu ergreifen, Gewerkschaftsvertretern, welchen aus gewerkschaftsfeindlichen Gründen gekündigt wurde, einen gleichwertigen Schutz zu gewähren wie den aus Gründen der Geschlechterdiskriminierung missbräuchlich entlassener Personen, einschliesslich der Möglichkeit einer Wiedereinstellung». Seit November 2006 bleibt dieser Beschluss der ILO unbeachtet, wie auch das Gleichstellungsgebot als solches, das damit gestärkt werden könnte. Warum? Weil der Beschluss in seiner Formulierung eine Situation anprangert, die faktisch auch von den Schweizer Gewerkschaften akzeptiert wird.
Der Kündigungsschutz insbesondere für GewerkschaftsvertreterInnen in den Betrieben ist ein Grundpfeiler der Vereinigungsfreiheit. Nebst der Beseitigung der Zwangsarbeit, der Kinderarbeit und der Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf gehört die Gewerkschaftsfreiheit zu den fundamentalen Grundsätzen und Rechten am Arbeitsplatz, die für alle Mitglieder der ILO automatisch gelten.
Jeglicher Kampf, jegliche Verhandlung sollte sich an der konkreten Verknüpfung mit Gewerkschafsfreiheit und Verteidigung der Gewerkschaftsrechte orientieren. Dies ist ein entscheidender Schritt für den Wiederaufbau oder die Wiederbelebung der Gewerkschaften.

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1 Kommentar

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