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Türkei: Die türkische Vielfachkrise

Am Samstag, 12. September 2015 kam es in verschiedenen Städten Europas – u.a. in Bern – zu Auseinandersetzungen zwischen linken, kurdischen AktivistInnen und Mitglieder der faschistischen, türkischen Organisation der “Grauen Wölfe”, deren legalistischer Arm, die MHP (Partei der nationalistischen Bewegung), die drittstärkste Kraft im türkischen Parlament darstellt. Ursache dieser Auseinandersetzungen waren nicht bloss “Meinungsverschiedenenheiten der Volksgruppen”, wie die hiesigen bürgerlichen Medien meinten, sondern der bürgerkriegsähnliche Zustand in der Türkei und seinen Nachbarländern sowie die damit verbundene brutale Repression gegen die linken und kurdischen Käfte durch Erdogans Regierung. (Red.)

von Murat Cakir; aus SoZ
Die Türkei ist in einer Vielfachkrise gefangen. Noch scheint keine Lösung in Sicht. Im Gegenteil, das gefährliche Spiel der AKP [Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung; Partei von Erdogan] mit der Eskalationsschraube birgt das Risiko, dass die Vielfachkrise sich noch mehr vertieft und in einen bürgerkriegsähnlichen Konflikt mündet. Erdogan und seine AKP schrecken nicht davor zurück, die Staatsform in Richtung einer offenen Diktatur zu verschieben.
Für westeuropäische Verhältnisse mag es sein, dass im 21.Jahrhundert in einer parlamentarischen Demokratie eine offene Diktatur unmöglich erscheint. Doch das parlamentarische System der Türkei fußt auf einer undemokratischen Junta-Verfassung und spätestens seit dem Verfassungsreferendum vom 2010 ist die Gewaltenteilung de facto aufgehoben. Die Junta-Verfassung gibt dem Staatspräsidenten, der 2014 erstmals direkt gewählt wurde, weitgehende Befugnisse. Nachdem die AKP in den letzten drei Legislaturperioden, in denen sie allein regierte, die Staatsapparate unter ihre Kontrolle gebracht hat, sind diktatorische Maßnahmen trotz Verlust der Parlamentsmehrheit leicht umzusetzen.

Kriegszustand in Kurdistan

In den Tagen nach den Parlamentswahlen mied Erdogan die Öffentlichkeit. Mit der Unterstützung der neofaschistischen MHP sicherte er sich das Amt des Parlamentspräsidenten, der zugleich Stellvertreter des Staatspräsidenten ist. Danach beauftragte er den abgewählten Ministerpräsidenten Davutoglu mit der Regierungsbildung.
Davutoglu nahm sich für Koalitionsgespräche reichlich Zeit. Während die Gespräche mit der CHP [Republikanische Volkspartei; kemalistsich, sozialdemokratisch] schleppend vorangingen, überschlugen sich die Ereignisse: Am 20.Juli wurde auf ein linkes Jugendcamp in Suruç an der türkisch-syrischen Grenze ein Bombenanschlag verübt. 31 Sozialisten starben, hunderte wurden verletzt. Die Jugendlichen waren auf dem Weg nach Kobanê, um dort den Wiederaufbau zu unterstützen. Inzwischen hat sich die Zahl der Toten auf 34 erhöht.
Obwohl bis heute kein Bekennerschreiben des «Islamischen Staates» (IS) vorliegt, machte die Regierung den IS dafür verantwortlich. Kurze Zeit später wurden zwei Polizisten erschossen, denen Kollaboration mit dem IS vorgeworfen wurde. Dafür wurde die PKK verantwortlich gemacht. Danach wurde bekannt, die Türkei und die USA hätten sich geeinigt, die US-Luftwaffe darf jetzt den Luftwaffenstützpunkt Incirlik für ihre Angriffe. Am 24.Juli bombardierten türkische F16-Jets vier IS-Stellungen. Gleichzeitig begann eine großangelegte Luftoffensive gegen PKK-Stellungen in den nordirakischen Kandil-Bergen und eine Verhaftungswelle im Inland. Die AKP-Regierung erklärte, «die Türkei [habe] den Terrororganisationen der IS, PKK und der DHKP-C [Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front; marxistisch-leninistische Untergrundorganisation] den Krieg erklärt».
In der ersten Welle wurden über 1300 Personen festgenommen. Türkische Medien berichteten, rund 100 Personen wären IS-Verdächtige, der Rest aber Mitglieder der PKK und der linksradikalen DHKP-C. Spezialkräfte der inzwischen paramilitarisierten Polizei gingen dabei äußerst brutal vor. In dem überwiegend von Linken und Alewiten bewohnten Istanbuler Stadtteil Gazi wurde eine Frau in ihrem Schlafzimmer regelrecht hingerichtet. Selbst deren Begräbniszeremonie in einem alewitischen Zentrum wurde drei Tage lang von der Polizei belagert und angegriffen. Es herrscht de facto das Kriegsrecht. Während linke und kurdische Aktivisten weiterhin festgenommen werden, wurden inzwischen sämtliche IS-Verdächtige freigelassen.
Nach dem Suruç-Attentat und dem Beginn der Luftoffensive begann die PKK mit Vergeltungsaktionen. Innerhalb weniger Wochen wurden daraufhin in 56 Städten HDP-Büros Ziel von Pogromen und Anschlägen. Kurdische Kommunen riefen die autonome Selbstverwaltung aus. Die Eskalation der Gewalt führte auch dazu, dass binnen eines Monats 48 Soldaten und Polizisten getötet wurden. Die von Liveberichterstattung begleiteten Begräbniszeremonien für «Gefallene» werden von Erdogan und Regierungsmitgliedern als Bühne für politische Reden instrumentalisiert. Zwar genießen Erdogan und die AKP in der sunnitisch-konservativen Mehrheitsgesellschaft weiterhin Unterstützung, aber inzwischen sind auch von den Familienangehörigen von «Gefallenen» Proteste zu hören. Erst vor kurzem wurde der stellvertretende Ministerpräsident Akdogan bei einem Soldatenbegräbnis von einer wütenden Menge mit Wasserflaschen beworfen, woraufhin er fluchtartig den Ort verlassen musste.
Dennoch, Erdogan und die AKP drehen weiterhin an der Eskalationsschraube. Untersuchungskommissionen der HDP [Demokratische Partei der Völker; pro-kurdische Partei] berichten von Massakern in den kurdischen Städten, werden in den gängigen Medien aber nicht gehört. Die Menschen informieren sich nur noch über die sozialen Medien, weshalb inzwischen die Telefonnetze und Internetzugänge in diesen Regionen abgeschaltet wurden. In Kurdistan herrscht wieder Kriegszustand.

Kapitalfraktionen auffällig ruhig

In seinen derzeitigen Wahlkampfauftritten spricht Erdogan nur noch von der «Notwendigkeit des Präsidialsystems» und sagt: «Die Regierungsform der Türkei hat sich faktisch geändert. Nun muss die Verfassung an diese Realität angepasst werden.» Regierungsvertreter und AKP-Abgeordnete stimmen in diesen Chor ein und erklären, dass «das parlamentarische System an seine Grenzen gekommen» sei und «das Land aus dieser Situation nur mit einem Präsidialsystem herauskommen» könne.
Seit 2011 wirbt Erdogan für sein autoritäres Präsidialsystem. Dabei kritisierte er stets die Gewaltenteilung. Schon damals schreckte er bürgerliche Verfassungsrechtler auf, als er sagte: «Wir wollen für unser Wachstum große Investitionen tätigen. Aber die Oligarchie der Gerichte will uns daran hindern. Es kann nicht sein, dass irgendein Verwaltungsrichter wegen Umweltvorgaben für das Land wichtige Investitionen verhindert … Die Türkei ist ein starker Staat und muss wie eine Aktiengesellschaft regiert werden. Gewaltenteilung darf uns dabei nicht im Weg stehen.»
Im Grunde genommen ist das Präsidialsystem ein Protektionsversprechen an das klein- und mittelständige sunnitisch-konservative Kapital, das bei der schärfer werdenden Konkurrenz mit den internationalen Monopolen auf die Unterstützung des Staates angewiesen ist. Das türkische Großkapital, das einen Großteil der industriellen Produktion und des Exports unter seiner Kontrolle hat und mit den internationalen Monopolen eng verwoben ist, hält dagegen. Es betrachtet das Präsidialsystem als eine Art Vormundschaft gegenüber der «Freiheit» kapitalistischer Konkurrenz. Nun drängt Erdogan auf eine endgültige Entscheidung.

Angespanntes Umfeld

Außenpolitisch hat die AKP-Regierung Syrien zum zentralen Thema erkoren. Der Grund liegt nicht nur in der Assad-Gegnerschaft der AKP, sondern in erster Linie in der eigenen Kurdenproblematik.
Die Kantone in Rojava sind für die Türkei zu einer doppelten Herausforderung geworden: als Hindernis für die Ausweitung der türkischen Einflusssphäre in Syrien und als Modell für die kurdische Bevölkerung in der Türkei. Bei jeder Gelegenheit erklärt Erdogan, «die Türkei [werde] ein staatliches Gebilde an seinen syrischen Grenzen nicht zulassen». So war es auch kein Zufall, dass türkische Kampfjets, die Angriffe auf IS-Stellungen flogen, «irrtümlich» auch YPG-Stellungen bombardierten.
Im Grunde genommen bedeuten die türkischen Luftangriffe auf PKK-Stellungen in Nordirak eine Schwächung des Kampfs gegen den IS, weil die PKK in Nordirak gemeinsam mit nordirakischen Kräften das Vordringen der IS-Miliz nach Rojava verhindert. Deshalb ist es nachvollziehbar, wenn die kurdische Bewegung die türkische Luftwaffe als «Luftwaffe des IS» bezeichnet. Die Türkei will mit aller Macht die Vereinigung der Kantone Rojavas verhindern. Seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs fordert Ankara die Einrichtung einer «Pufferzone», inzwischen «Schutzzone», im Norden Syriens. Bis jetzt fanden zwei NATO-Treffen auf der Grundlage des Art.4 des NATO-Vertrags statt, initiiert von der Türkei; dort stellte die Türkei ihre Forderungen. Aber die führenden NATO-Länder erteilten Ankaras Wünschen immer wieder Absagen. Selbst nach der Öffnung des Luftwaffenstützpunktes Incirlik konnte die Türkei keine Zustimmung der USA für eine «Schutzzone» bekommen. Der inzwischen beschlossene Abzug deutscher und US-amerikanischer Patriot-Systeme kann als weitere Niederlage der türkischen Außenpolitik gewertet werden.
Die unmittelbaren Interessen der kapitalistischen Hauptländer USA und BRD in Syrien divergieren offenkundig stark von denen des türkischen Staates. Während die Türkei islamistisch-terroristische Gruppen als Gegenmacht zu den kurdischen Einheiten in Rojava erhalten und für ihre Politik gegen das Assad-Regime auch weiterhin unterstützen will, verfolgen die USA eine Strategie, die darauf abzielt, mit Unterstützung der kurdischen Einheiten das Einflussgebiet des IS zu begrenzen – ohne ihn gänzlich zu zerschlagen, da dies das Assad-Regime stärken könnte. Die Annäherung zwischen den USA und dem Iran, die Zersplitterung der sog. syrischen Opposition, die erfolglosen Ausbildungsversuche von sog. «gemäßigten islamischen Kämpfern», der weiterhin vorhandene gesellschaftliche Rückhalt des Assad-Regimes in Syrien, die Aktivitäten des israelisch-saudischen Allianz, die Rolle Russlands und das Vorgehen der Türkei machen die Situation in Syrien völlig unübersichtlich.
Noch lässt sich nicht sagen, wie eine Annäherung der Interessen hergestellt werden kann. Im weiteren Verlauf des Bürgerkriegs werden wir sicherlich Antworten darauf bekommen. Für die USA steht mit der Kurdischen Regionalregierung im Nordirak, wo nahe Erbil ein US-Stützpunkt im Format des kosovarischen Camp Bondsteel geplant ist, eine weitere Alternative bereit. Die Barzani-Regierung hat das Potenzial, als «Stabilitätsanker» für die US-Interessen in der Region zu fungieren.
An dieser Stelle muss auf die perfide Doppelmoral der US-Administration und der Bundesregierung hingewiesen werden. Sowohl die USA als auch die BRD «mahnen» die Türkei, den Friedensprozess mit der PKK nicht zu gefährden, geben ihr aber weiterhin Rückendeckung für ihren schmutzigen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung. Besonders die Bundesregierung handelt unglaubwürdig. Solange die BRD die Rüstungsexporte und das repressive Vorgehen gegen kurdische Aktivisten hierzulande fortsetzt, solange wird sie sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, aus rein wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen an den Massakern Ankaras Mitverantwortung zu tragen.
Wie geht es weiter? Axel Gehring stellt dazu im Infobrief Türkei fest: «Die gegenwärtige politische Lage markiert geradezu eine Explosion von Möglichkeiten, bei der die vielen gegenwärtigen Instabilitäten der politischen Lage … nicht etwa die AKP gefährden, sondern ihr vielmehr jenen politischen Spielraum geben, den sie im Falle der Konfrontation mit einer geschlossenen Opposition nicht hätte. Der de facto herrschende Ausnahmezustand ist eben die Stunde der Exekutive – selbst wenn diese abgewählt ist. Gleichwohl zeigen die Entwicklungen der letzten Jahre, dass die AKP in immer kürzeren Abständen zu immer stärkeren Methoden der Polarisierung greifen muss. Der Besitz der Staatsapparate und die Zersplitterung der Opposition werden für die AKP dabei immer wichtiger.»*
* Axel Gehring: Die Stunde der abgewählten Exekutive. Ende des Friedensprozesses in der Türkei, http://infobrief-tuerkei.blogspot.de/2015/08/die-stunde-der-abgewahlten-exekutive.html.

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