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Frankreich: Vor einem neuen Mai 68? Erklärung der Unterschiede zu heute

Alain Krivine, Aktivist der Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA), erklärt in diesem Interview die politische Situation in Frankreich und die Unterschiede zu den sozialen Bewegungen von Mai 1968. (Red.)

Gespräch mit Alain Krivine; aus SoZ

Frankreich liefert gerade ein Musterbeispiel für die Instabilität der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Europa. An die drei Monate dauert nun schon der Kampf gegen das neue Arbeitsgesetz – und es würde keiner eine Wette darauf abschließen, wie er zu Ende geht. Vier Monate früher hätte ihn aber auch keiner für möglich gehalten. Das neue Arbeitsgesetz, benannt nach der Arbeitsministerin El Khomri, war buchstäblich das Streichholz, das ins Pulverfass geworfen wurde.
Die Regierung hat für dessen Durchsetzung im Parlament keine Mehrheit mehr, sie regiert nur noch mit Misstrauensvoten, die sie auch nur gewinnt, weil die sog. linke Opposition in der Sozialdemokratie sich nicht traut, ihre Regierung darüber zu Fall zu bringen – in tragischer Verkennung des Umstands, dass sie damit umso sicherer ihr Todesurteil bei den kommenden Präsidentschaftswahlen unterzeichnet. Es ist also gut und gerne ein allgemeines Kräftemessen, das im Nachbarland stattfindet. Erinnerungen an Mai 68 drängen sich auf, als es ebenfalls um die «Systemfrage» ging. Die SoZ sprach darüber mit ALAIN KRIVINE, der 1968 einer der Studentenführer war.

Die zahlreichen Kämpfe gegen das «Gesetz El Khomri»[El Kohmri heißt die französische Arbeitsministerin], die zahlreichen Streiks, die immer wieder verlängert werden, der Schulterschluss zwischen der Gewerkschaftsbewegung und der Jugend, die gewaltsamen Zusammenstöße mit der Polizei – all das vermittelt einen Hauch von 68. Ist da was dran?
In der Tat liegt ein Hauch von 68 in der Luft, doch es gibt große Unterschiede. Es gibt auch Gemeinsames: ein allgemeines Schnauze-voll-Gefühl, die vollständige Diskreditierung der Regierung, die sich doch als «links» bezeichnet, der Angriff auf breiter Front gegen alle sozialen Errungenschaften, der Schulterschluss zwischen der Jugend und der Arbeiterklasse und schließlich einen Kristallisationspunkt für die allgemeine Unzufriedenheit, nämlich die Reform der Arbeitsgesetzes, das sog. «Gesetz El Khomri». Im Jahr 1968 bildete diesen Kristallisationspunkt das gaullistische Projekt einer Reform der Sozialversicherung.
Doch leider bin ich mir nicht sicher, dass wir an der Schwelle eines neuen 68 stehen, denn die Arbeiterbewegung, ob organisiert oder nicht, hat sich stark verändert, die linken Parteien und die Gewerkschaften sind sehr diskreditiert und die Arbeiter orientierungslos, ohne glaubhafte Alternative. Und es gibt eine sehr starke Front National, die sehr geschickt ist und sich nicht mehr offen faschistisch gibt. Ganz zu schweigen von der Polizeirepression, die sehr hart und überall zu spüren ist.

Der Protest gegen das neue Arbeitsgesetz bündelt die verschiedenen sozialen Proteste, denn das Gesetz geht alle an. Und es steigt auch die Wut gegen den Ausnahmezustand. Ist das nicht der Moment, «das System» insgesamt in Frage zu stellen?
Es gibt tatsächlich eine globale Infragestellung des Systems, ausgehend vom El-Khomri-Gesetz, aber das Gesetz trifft eher den privaten Sektor. Deshalb gibt es hier auch spektakuläre Reaktionen wie etwa die der Fernfahrer und der Arbeiter in den Raffinerien, die Straßen oder Tankstellen blockieren. Ein Problem aber ist, dass die Beschäftigten kleiner oder mittlerer Betriebe stillhalten aus Angst, ihre Arbeit zu verlieren. Im verstaatlichten Sektor wiederum sind die Eisenbahngesellschaft SNCF oder die Post mit besonderen Sparmaßnahmen konfrontiert, und man muss darum kämpfen, all diese Auseinandersetzungen unter einen Hut zu bringen. Wahr ist aber auch, dass zahlreiche Beschäftigte versuchen, mit vielen Streiktagen und Kundgebungen, oder auch den «Nuits debouts» in Paris und in der Provinz, diese Verbindung herzustellen.

Im Mai 68 haben die Gewerkschaften gestreikt, um ihre Solidarität mit den Studierenden auszudrücken. Diesmal scheint die Studentenbewegung auszufallen, die Gewerkschaften sind der treibende Motor der Bewegung. Wie erklärst du das und welche Folgen hat das?
Die Studentenbewegung hat sich stark verändert. Zunächst einmal zahlenmäßig: Gab es im Jahr 1968 rund 400’000 Studierende, sind es heutzutage ungefähr 2 Millionen. Damals fingen Kinder aus den Mittelschichten gerade an, die Universität zu besuchen, die Mehrheit der Studierenden hatte keinen Kontakt zur Arbeiterklasse. Die Verbindung war also etwas künstlich, sie stellte sich auf der Straße im Kampf gegen die Repression her. Ich erinnere mich, dass die Studenten der Sorbonne von den Arbeitern bei Renault-Billancourt ziemlich kühl empfangen wurden, als sie kamen, um die Arbeiter zu ihrer Fabrikbesetzung zu beglückwünschen. Damals gab es dort 30’000 Beschäftigte und mehr als tausend Mitglieder der PCF (Französische Kommunistische Partei). Heute ist die Fabrik verschwunden. Die Hälfte der Studierenden arbeitet, um ihr Studium bezahlen zu können, sie kennen also das Milieu der Lohnarbeit gut. Die Studentengewerkschaft UNEF, die von Dissidenten der Sozialistischen Partei (PS) geführt wird, vertritt fast niemanden mehr.
Im Unterschied zu heute fand 68 ein Generalstreik in den Fabriken statt, der mehrere Wochen dauerte. Der Streik begann zwar aus Solidarität mit den Studenten, die Opfer der Repression geworden waren, doch er konnte stattfinden, weil die Arbeiter ihre eigenen Forderungen hatten. Es war ein Generalstreik mit Fabrikbesetzungen und roten Fahnen, jedoch ohne Selbstorganisation, außer den Intersyndicales, den gewerkschaftsübergreifenden Strukturen – die gibt es heute auch, aber heutzutage haben die Gewerkschaften zwar noch Mehrheiten in der Bewegung, sind aber sehr geschwächt und mehr und mehr diskreditiert.
Die Jungen sind gerade aus den Ferien gekommen und bereiten ihre Prüfungen vor. Sie haben keine Organisation, die sie vertritt, außer den «Koordinationen», die aber sehr minoritär sind. Die Verbindung mit der Arbeiterbewegung ist heute zugleich einfacher und komplizierter. Auf allen Demonstrationen gibt es große Blöcke der Gewerkschaft CGT, die trotz ihrer internen Zwistigkeiten den Rest dominieren, Hunderte von mehr oder weniger organisierten Jugendlichen sowie Tausende Nichtorganisierte, die an der Spitze der Demonstration marschieren, oftmals sehr radikal sind und auch nicht zögern, auf Provokationen der Polizei mit Gewalt zu reagieren.

1968 stand die Intelligenz links, sie diente der Bewegung als Resonanzboden. Und heute? Entsteht da so etwas wie ein «sozialer Block» für einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel, und wer wäre mit dabei?
Heutzutage ist ein Teil der «linken Intellektuellen» nach rechts gegangen. Viele andere erkennen sich in den «Nuit debout» wieder, da sie meinen, dass sie dort radikale antikapitalistische Forderungen und eine andere Art, Politik zu machen, finden können – außerhalb der Parteien. Doch diese nächtlichen Zusammenkünfte versammeln maximal einige tausend Leute in Paris und einige hundert in anderen Städten und haben wenig mit dem zu tun, was sich in Spanien oder in Griechenland ereignet hat. Vielfach stehen sie sozial stark unter Druck – als arbeitslose Studienabsolventen, Studierende, Erwerbslose; oft sind  sie sehr jung. Natürlich muss man dort hingehen, denn hier zeigen sich neue radikalisierte Schichten, aber ich glaube nicht, dass sich daraus etwas entwickelt.
Auf organisatorischer Ebene – wegen der Niederlagen der Vergangenheit und der aktuelle Krise – sind alle Parteien der Linken und extremen Linken in der Krise. Für die Bevölkerung gibt es keine glaubwürdige Alternative, außer, für einen Teil, der Front National, die gegen die Institutionen, die Parteien und die Immigranten steht … und nicht mehr als «faschistisch» erscheint.
Auf der Linken bezeichnet sich die oppositionelle Minderheit in der PS als linke Opposition gegen die Regierung, will aber nicht mit der PS brechen. Ein Teil der Grünen hat sich der PS und der Regierung angeschlossen. Die PCF, die ihren Parteitag im Juni hat, steckt ebenfalls voll in der Krise. Sie hat viele Aktive verloren, und der Entwurf für einen Leitantrag der Parteiführung hat bei den vorausgehenden Abstimmungen in den Grundeinheiten nur 51% Zustimmung erhalten. Noch niemand weiß, wer für das Präsidentenamt im nächsten Jahr kandidieren wird und was die PCF mit dem Alleingang der Kandidatur Mélenchon, die in Teilen aber populär ist, anfangen wird.
Persönlichkeiten der PS-Linken, der Grünen und der PCF haben einen Aufruf lanciert, ein Programm gegen die Sparpolitik zu erarbeiten, bevor über einen Kandidaten diskutiert wird. All das ist zwar eine Reaktion auf das Bedürfnis, eine antikapitalistische Linke neu zu formieren, bleibt aber sehr institutionell und ist weit weg von den Mobilisierungen, die derzeit im Gang sind.

Die Einheit der Gewerkschaftsbewegung spielt eine zentrale Rolle für den Erfolg der Bewegung. Ein breites gewerkschaftliches Bündnis aus CGT, FO, SUD u.a. hat sich gebildet, die CFDT ist wie üblich außen vor. Das Bündnis scheint aber sehr fragil. Worin bestehen die Hindernisse?
In allen Gewerkschaften ist der Druck groß, einen Generalstreik zu organisieren, die Parole wird auf den Demonstrationen mehr und mehr aufgegriffen. Doch die CGT antwortet, es gelte, in Vollversammlungen über die tageweise Verlängerung der Streiks zu diskutieren, wie etwa Mittwoch und Donnerstag bei den Eisenbahnern. Dabei kann sie sich auf die allgemeine Stimmung stützen. Die Leute haben die Schnauze voll, glauben aber nicht mehr richtig an die Mobilisierungen und zögern, einen Streik zu beginnen, aus Angst, Lohn oder gar die Arbeit zu verlieren. Andere streiken von Zeit zu Zeit, kommen aber nicht zu den Vollversammlungen oder sie gehen lieber zur Demo als zu streiken, weil das weniger gefährlich ist; oder sie streiken lieber, als zur Demo zu gehen, weil es da Zoff zwischen der Polizei und den «Randalierern» gibt.
In diesem Klima des allgemeinen Unwohlseins spielen der Durchbruch der Front National und die Stärke der Repression eine entscheidende Rolle. Hunderte von Polizisten kreisen die Demonstranten ein und provozieren sie, es hat Tausende Festnahmen oder Fälle von Polizeigewahrsam gegeben, es laufen viele Prozesse – all das erklärt die Gewalt, die nicht nur das Werk des «Schwarzen Blocks» ist.

Welche Rolle spielen die Linksfront und die NPA?
Die Linksfront gibt es in Wahrheit nicht mehr, da ihr Kandidat Mélenchon sein eigenes Ding macht, er tritt gegenüber der PS zwar linker auf als die PCF, bleibt aber doch sehr institutionell und nationalistisch und erregt auch das Missfallen der PCF-Aktiven, obwohl sie vermutlich verpflichtet werden, bei der Wahl für ihn zu stimmen. In den Demonstrationen gegen die Regierung findet man die PCF, die Linksfront und Ensemble – aber sie laufen getrennt.
Der NPA (Neue Antikapitalistische Partei) schlägt – trotz unserer internen Probleme, vor allem auf Leitungsebene – auf den Kundgebungen, auf denen wir mit unserem Material und unseren Fahnen präsent sind, große Sympathie entgegen, unsere vier Sprecher, Christine Poupin, Armelle Pertus, Philippe Poutou und Olivier Besancenot,  werden im allgemeinen freundlich aufgenommen.
In unseren Flugblättern rufen wir zu einer Koordination der Kämpfe, zur Vorbereitung eines Generalstreiks, der das Land lahmlegt, und zur Rücknahme des El-Khomri-Gesetzes auf. Gleichzeitig prangern wir das kapitalistische System an und erklären, dass wir das, was wir fordern, nur durch Mobilisierungen erlangen können, nicht durch Wahlen – selbst wenn wir Philippe Poutou als Kandidaten zu den Präsidentschaftswahlen aufstellen. Er macht das, weil er Sprachrohr dieses Kampfs sein will.

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