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Schweiz: Die Entrechtungsinitiative samt ihrer rassistischen Logik aus der Welt schaffen

Die schlecht benannte Durchsetzungsinitiative der Schweizerischen Volkspartei steht am 28. Februar 2016 zur Abstimmung. Der erneute Versuch der SVP, diskriminierende und rassistische Prinzipien in der Bundesverfassung zu verankern, ist ein Schlag ins Gesicht für alle Menschen, die in der Schweiz frei und ohne Angst leben wollen.
von BFS Zürich
Dieselbe Logik, Menschen wegen ihrer Herkunft ihre Grundrechte zu entziehen, prägt jedoch die parlementarische Umsetzung der Ausschaffungs-Initiative von 2010. Ein verändertes Strafgesetzbuch mit einer Doppelstrafe (verhängte Strafe plus Ausschaffung) speziell für Menschen ohne Schweizerpass – darum geht es – wird im glücklichen Falles eines Neins am 28. Februar trotzdem in Kraft treten. Der staatliche Rassismus, an dessen Verankerung in Recht und Behördenpraxis die SVP zusammen mit den anderen bürgerlichen Parteien seit langem mitwirkt, kann nur konsequent bekämpft werden, wenn umfassende bürgerliche, politische und soziale Rechte für alle in der Schweiz lebenden Menschen erkämpft werden. Der vorliegende Artikel nimmt eine allgemeine Verortung der Durchsetzungsinitiative vor, zunächst auf ihre Materie bezogen (erster Teil), dann mit Blick auf den Verlauf der Gegnerkampagne (zweiter Teil) und letztlich auf die möglichen Antworten emanzipatorischer Kräfte (dritter Teil).

1. Was ist die Durchsetzungsinitiative?

Bei der Durchsetzungsinitiative handelt es sich um eine Volksinitiative der Schweizerischen Volkspartei (SVP), die am 28. Februar zur Abstimmung steht. Mit vollem Namen: „Volksinitiative zur Durchsetzung der Ausschaffung krimineller Ausländer“ (im folgenden DSI abgekürzt). Was steckt also hinter dieser sperrigen Bezeichnung? Was soll durchgesetzt werden? Der DUDEN versteht unter dem Verb „durchsetzen“ unter anderem „Widerstände überwinden und sich Geltung verschaffen“. Die SVP unterstreicht mit diesem Ausdruck ihre Behauptung, das Parlament würde nur widerwillig ihre erfolgreichen Initiativen umsetzen. Dass viele SVP-Initiativen bisher ohne großen Widerstand der bürgerlichen Parteien umgesetzt wurden, wird ausgeblendet. Die Initiative der SVP zur Begrenzung der Einwanderung (so genannte Masseneinwanderungsinitiative), die in Februar 2014 angenommen wurde, hat noch keine Umsetzung gefunden, weil sie mit der Personenfreizügigkeit einen zentralen Pfeiler der bilateralen Abkommen Schweiz-EU tangiert. Was hier „Widerstände überwinden“ soll, ist eine ältere Initiative der SVP, die sogenannte „Volksinitiative zur Ausschaffung krimineller Ausländer“, die am 28. November 2010 von den Stimmberechtigten angenommen wurde. Diese Initiative sah die Einführung einer Doppelstrafe für Ausländer*innen bei Delikten vor, die von Tötung über schwere sexuelle Delikte und Gewaltdelikte bis zu Missbrauch von Sozialhilfe reichen.
Die Initiative zielte dafür auf eine Änderung der „Gesetzgebung im Ausländer- und Asylbereich“, wie sie in der Bundesverfassung unter Titel 9 festgelegt wird (Art. 121, abs. 3 bis 6, BV, wie hier aufgeführt). In der Bundesverfassung von 2010 hatte der Artikel 121 die Ausweisung von Ausländern nur in Fällen vorgesehen, in denen eine so genannte Gefährdung des Landes konstruiert wurde (abs. 2). Laut der angestrebten Änderung des Strafgesetzbuches sollten die wegen einer willkürlich zusammengesetzten Liste von Delikten verurteilten Ausländer*innen abgeschoben werden. Art. 66cc, Absatz 2 der Umsetzung durch das Parlament enthält explizit den Passus, dass Strafen vor der Abschiebung zu vollziehen sind. Es handelt sich hier also ausdrücklich um eine tiefergehende Verankerung des Prinzips der Doppelstrafe in das schweizerische Strafgesetzbuch.
Bevor man die Materie der Ausschaffungsinitiative im Detail anguckt, muss eines klar gemacht werden. Das Feinbild des „kriminellen Ausländers“ als Sündenbock muss dringend demontiert werden. Die meisten Aussagen der SVP zur Kriminalität von Ausländer*innen beruhen auf der Beobachtung, dass es mehr Urteile gegen Ausländer*innen, als gegen Schweizer*innen gibt. Was aus dieser Beobachtung gemacht wird, ist selbstverständlich eine politische Sache. Hier geht es aber ein Stück weiter: die Zahlenverdreher führen nur einen Teil der Demonstration vor, ohne das Gesamtbild zu zeigen. Zunächst umfasst die Kategorie „Ausländer“ Realitäten, die sehr unterschiedlich sein können. Sowohl Menschen, die seit Jahren oder Jahrzehnten in der Schweiz leben, als auch Asylbewerber*innen und sogar Touristen sind in diesen Zahlen enthalten. Dann werden die Typen von Delikten, die zur Verurteilungen geführt haben, sehr selten detailliert dargestellt, was das grosse Gewicht der Strassendelikten beispielsweise verbirgt. Vor allem Verstösse gegen das Ausländergesetz bilden eine grosse Kategorie, die Schweizer*innen viel seltener betrifft, wenn man die illegale Beschäftigung von Sans-Papiers ausnimmt. Die Zahlenverfälscher der SVP stützen sich also auf ein Trugbild, um eine Neigung zur Kriminalität bei den Ausländer*innen zu konstruieren, die es real nicht gibt (siehe Anhang am Ende des Artikels).
Was ist aber mit der Ausschaffungsinitiative von 2010 passiert? Das Parlament musste die detaillierte Ausführung binnen 5 Jahren entscheiden – das heißt durch Gesetzgebung. Jedoch gab es bei der Bundesversammlung (Nationalrat und Ständerat zusammen) eine aufwändige Diskussion darüber, wie das geschehen sollte. Ein wichtiges Thema bei der Debatte in Bern war, dass die bürgerlichen Parteien eine Härtefall-Klausel in den Gesetzesänderungen einführen wollten. Diese Klausel entstand aus der Überlegung, dass von einer Abschiebung bedrohte Menschen das Recht bekommen sollten, individuell vor einem Gericht angehört zu werden[1]. Die NZZ schreibt am 29.01.2016 zum Thema Härtefall-Klausel, dass SP und Grüne auf eine weitergefasste Ausnahmereglung gehofft haben. Da ihr Vorschlag keine Mehrheit fand, hat die parlementarische Linke das Umsetzungsprojekt des bürgerlichen Lagers dann mit ihren Stimmen gutgeheissen, aus Angst, die SVP könnte es angreifen.
Die sehr eng gefasste Ausnahmereglung lässt die Frage aufkommen, ob es sich nicht um ein Feigenblatt handelt, eine gesetzgeberische Steilvorlage um die Repressionsbehörden anständig zu verschleiern. Die Novellierung des Strafgesetzbuches (Ausschaffung ohne DSI) im Artikel 66a, Absatz 2, sieht zwar vor, dass die Gerichte der besonderen Situation von in der Schweiz geborenen Ausländern Rechnung tragen müssen. Ausländer*innen, die seit langem in der Schweiz leben, sollten auch – immer in Ausnahmefällen, versteht sich – Rücksicht erfahren. Die Diskussion, die im Vorfeld der Abstimmung in den Medien über Secondos/Secondas geführt wird, muss in diesem Zusammenhang gesehen werden. Hier muss man auch feststellen, dass eine zusätzliche Hierarchisierung konstruiert wird: es ist schlimm, Secondos/Secondas doppelt zu bestrafen und noch schlimmer, hochqualifizierte Expats. Die Empörung ist selektiv. Ein Prinzip der Menschenrechte wird mit Füssen getreten: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich[2]. Die „Rechtsgleichheit“ ist hierzulande als Artikel 8 der Bundesverfassung integrativer Bestandteil der verbrieften Grundrechte.
Die selektive Sorge um Einzelfall-Prüfung zeigt dennoch, dass es einen Grundkonsens in den Bundeskammern zur Materie der Ausschaffungsinitiative gab: Umstritten war nur, wie die Novellierung des Strafgesetzbuches völkerrecht-konform zu machen war. Oder zumindest was die Parteien des Machtblockes ohne die SVP unter dem Völkerrecht verstehen, das heisst hier speziell die Behaltung der Verhältnissmässigkeit, ein Prinzip das tatsächlich einen hohen Stellenwert im Verfassungsrecht besitzt. Laut der Mehrheit des Parlaments ist die Gesetzgebung zur Ausschaffungsinitiative damit abgeschlossen. Das Parlament hat die Änderungen vor allem bezüglich des schweizerischen Strafgesetzbuches in März 2015 beschlossen[3] und der Bundesrat wird das Inkrafttreten nach der Abstimmung beschließen. Die Frist für ein Referendum ist am 9. Juli 2015 ohne Anspruch seitens der progressiven Kräfte abgelaufen, obwohl es genug Gründe dafür gegeben hätte. Zusammenfassend kam man sagen: Schon die jetzt beschlossene Form der Ausschaffungsinitiative bedeutet einen weiteren, bitteren Schlag gegen die Grundrechte von Migrant*innen.
Trotz breiter Umsetzung ihrer Ausschaffungsinitiative gab sich die SVP jedoch nicht zufrieden, unter anderem wegen der Härtefall-Klausel. Noch während der Gesetzgebungsarbeit, Ende Dezember 2014, lancierte die SVP deshalb eine Initiative (156.000 Unterschriften in 5 Monaten), die eigentlich eine Verschärfung des Inhalts der Ausschaffungsinitiative von 2010 bedeutet. So soll die Abschiebung automatisch erfolgen, ohne Rücksicht auf die besondere Situation der verurteilten Menschen. Im Abstimmungsbüchlein kritisiert zudem der Bundesrat, dass die DSI die detaillierten Modalitäten der Ausschaffung direkt in die Verfassung eintragen werde, was eine Verletzung der Gesetzgebungsfunktion des Parlaments darstelle. In der gängigen Praxis werden Volksinitiativen zwar immer in die Verfassung eingetragen; es geschieht aber in allgemeinen Sätzen und die rechtlichen Folgen werden meistens anderswo per Gesetz geregelt. Hier werden nun komplette Kataloge an Straftatbestände und Strafmaßen in die Verfassung eingetragen.
Mit der DSI macht die SVP zwei weiteren Schritte Richtung Willkür-Justiz: Erstens dürften Staatsanwaltschaften ohne richterliche Entscheidung abschieben. Es wird hierfür auf das Mittel des Strafbefehls zurückgegriffen, das 2011 durch die Einführung einer schweizweiten Strafprozessordnung noch ausgebaut wurde (Art. 352 bis 356 der Strafprozessordnung). Kraft dieser repressiven Institution darf die Staatsanwaltschaft Strafen gegen beschuldigte Personen anordnen, ohne dass eine gerichtliche Prüfung oder eine öffentliche Anhörung (Art. 69, Abs. 3, lit. d, StPO) notwendig sind. Die höchsten Strafen, die dabei möglich sind, sind durch die StPO höher gelegt worden, als in den bisherigen kantonalen Bestimmungen. Strafbefehle dürfen momentan 6 Monate Freiheitsstrafe oder 90 Tagessätze Geldstrafe oder 720 Stunden gemeinnütziger Arbeit nicht übersteigen. Der Bundesrichter Niklaus Oberholzer sagt dazu, es sei „ein dramatischer Rückzug der Justiz“[4]. Das Institut des Strafbefehls ist in der Schweiz häufiger als anderswo zu finden; es wurde als repressives, expeditives Mittel für ein breites Spektrum von Delikten konzipiert. Unter Verletzung der schwachen Einschränkungen, die die Strafprozessordnung liefert, würde die DSI dieses Repressionsinstrument also um eine Doppelstrafe in Form der Ausschaffung ergänzen und gleichzeitig auf höhere Strafmasse ausdehnen.
Zweitens werden die Befugnisse der Gerichte sehr eingeschränkt, weil Menschen, die in der Vergangenheit schon verurteilt wurden, abgeschoben werden müssen; das heißt, es wäre den Richter*innen nicht mehr möglich zu entscheiden, wie schwer die Folgen einer Vorverurteilung für die aktuelle Bestrafung wiegen sollen. Die Bedingungen unter denen ein Delikt in der Vergangenheit begangen wurde, können individuell sehr unterschiedlich sein: Menschen ändern sich. Es ist das Produkt eines langen, zähen Fortschrittes, dass die Justizbehörden veurteilte Menschen nicht mehr als geborene Devianten sehen, sondern als lern- und resozialisationsfähige Subjekte. In einer Stellungnahme gegen die DSI schreibt Humanrights.ch zum Automatismus der Ausschaffung:
„Konkret heisst das: Wenn jemand ohne Schweizer Pass einmal wegen Beschimpfung eine Geldstrafe erhalten hat und innerhalb von 10 Jahren etwa wegen einer Drohung gegen Beamte verurteilt wird, so erfolgt nach dem Willen der Durchsetzungsinitiative zwangsläufig eine automatische Ausschaffung ins Herkunftsland der Eltern oder Grosseltern.“
Der Ausschaffungs-Automatismus verstößt laut der NZZ vom 29.01.2016 gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, die unter anderem ein faires Gerichtsverfahren gewährleistet. Der Journalist stellt zudem fest, dass die Verletzung von völkerrechtlichen Verträgen bewusst in Kauf genommen wird:
„Der Konflikt mit Strasbourg und Lausanne ist Programm und die Durchsetzungsinitiative stellt die Vorstufe zur 2015 lancierten Selbstbestimmungsinitiative dar.“
In der Tat wollen die üblichen Regierungsparteien keine weiteren Risse im Gebäude der bilateralen Abkommen EU-Schweiz, während eine Annahme der DSI den Grundsatz der Gleichberechtigung zwischen EU-Bürgern und Schweizern aushebeln würde. Das Abkommen zur Personenfreizügigkeit gewährleistet aber explizit die Gleichbehandlung der EU-Bürger in der Schweiz im Artikel 2 (keine Diskriminierung) und Artikel 7 (Gleichbehandlung). Dahingegen will die SVP erreichen, dass Schweizer Recht generell und per Verfassung über dem Völkerrecht steht. Das ist der Sinn der falsch benannten Selbstbestimmungsinitiative, die von der SVP momentan vorbereitet wird und die vor allem eine Weiterentwicklung des bilateralen Weges verunmöglichen will.
Bundesrat und Parlament empfehlen die Initiative abzulehnen. Nicht nur der aussergewöhnlich scharfe Ton der Regierungsvertreter (siehe das Dossier des EJPD hier), sondern auch die Tatsache, dass eine breite Front sich momentan gegen die Initiative der SVP bildet, machen eine Analyse der Argumente der Gegner notwendig.

2. Wie läuft die Kampagne der DSI-Gegner?

Mit Blick auf das bereits Gesagte, nämlich wie die DSI entstanden ist, muss man zunächst einen Punkt feststellen. Die Volksinitiative, wenn sie angenommen wird, verschärft nur eine Rechtslage, die schon momentan zwar seltene, aber regelmäßige Praxis der Gerichte darstellt. Schon ohne den Automatismus von Ausschaffungen, und auch wenn die Härtefall-Klausel weiterbestehen würde, bleibt das Justizsystem durch grobe Missachtungen der persönlichen Rechte von Migranten*innen geprägt. Laut Berechnungen des Bundesamtes für Statistik, die aber die Betrugsdelikte bei den Sozialversicherungen und der Sozialhilfe nicht einbeziehen, wären nach den Bestimmungen der Ausschaffungsinitiative – das heißt ohne Verschärfung durch die DSI – 3863 ausländische Personen im Jahr 2014 von Ausschaffungen betroffen. Schon jetzt, noch bevor die Ausschaffungs-Initiative der SVP von 2010 in Kraft treten wird, haben Gerichte die Möglichkeit Menschen doppelt zu bestrafen. Das heißt also, nach dem Absitzen einer Gefängnisstrafe, diese Menschen des Landes zu verweisen. Die Botschaft des Bundesrates zur Durchsetzungsinitiative zitiert folgende Zahlen aus einer Studie des Schweizerischen Forums für Migrations- und Bevölkerungsstudien (SFM) sowie des Zentrums für Migrationsrecht (ZFM) der Universität Neuenburg: 2008 haben die Kantone mindestens 615 Verurteilte mit Aufenthaltsrecht ausgewiesen, 2009 mindestens 750 Menschen. Weiterhin wird eine Umfrage beim Bundesamt für Migration zitiert, die aufgrund einer parlementarischen Anfrage zustande kam und folgende Zahlen liefert: 2011 wurden rund 500 und 2012 ungefähr 430 Menschen mit B- oder C-Ausweis ausgeschafft (S. 9496). Wie die WOZ vom 28.01.2016 schreibt, verletzt die aktuelle Praxis schon das grundsätzliche Recht der Kinder von abgeschobenen Menschen, mit ihren Eltern zusammen zu leben.
Ein zentrales Problem liegt darin, dass die Kampagnen der meisten Initiative-Gegner sich auf die momentane Zuspitzung des Abbaus des Rechtstaates konzentrieren, ohne die Grunddynamik wirklich in Frage zu stellen, hier in Gestalt einer Doppelstrafe für Ausländer*innen. Dadurch wird aber in einer sehr problematischen Weise das Unheil der Ausschaffungs-Initiative von 2010 relativiert, in der berühmten Rhetorik des kleineren Übels. Mit solch einer Rhetorik denkt man, es sei möglich die SVP zu stoppen, indem man kleinere Verschlechterungen der Rechte von Migrant*innen in Kauf nimmt. Das ist als würde man die Pest mit Cholera bekämpfen.
Die WOZ hat zu Recht versucht, den Diskurs zu ändern, indem sie die DSI als „Entrechtungsinitiative“ bezeichnet hat. Dementsprechend legt sie in der Berichterstattung den Akzent auf die Grundrechte und die verschiedenen Szenarien, wo diese durch die DSI beschnitten werden.
Es findet eine relativ breite Kampagne der Bürgerlichen statt, mit der außergewöhnlichen Präsenz von Juristenkreisen (Staatsanwälte, alte Richter) und von 120 Rechtprofessoren die in einem Manifest gegen die DSI (NNZ vom 14.01.2016), die DSI als grosse Gefahr für die Rechtsordnung der Schweiz angeprangern. Dazu gibt es eine Anzeigen-Kampagne von economiesuisse in den grossen Zeitungen des Landes, wo die Befürchtungen für den Standort selbstverständlich ausschlaggebend sind. Tendenziell sind in den letzten Tagen mehrere Stellungnahmen zu verzeichnen, die keine Probleme in der Ausschaffungspraxis sehen, die Reglungen der DSI aber als nicht umsetzbar beklagen. Die aussergewöhliche Einstimmigkeit der kantonalen Justizdirektionen ist in diesem Sinne zu verstehen.
Sozialdemokratische Linke legen den Akzent auf die Verteidigung des Rechtsstaates und beklagen, dass die SVP die Gesetzgebungsarbeit des Parlaments nicht respektiere. Im Argumentarium der SP gegen die DSI heisst es, nachdem die Verletzung der Grundrechte angeprangert wurde:
„Unschweizerische und unnötige Zwängerei: Die Ausschaffungspraxis wurde seit der Annahme der Ausschaffungsinitiative verschärft und wird im Sommer mit Inkrafttreten der Umsetzungsgesetzgebung sogar noch strenger. Das Parlament kommt damit dem Hauptanliegen der Ausschaffungsinitiative fristgerecht nach. Wem ein Umsetzungsgesetz nicht gefällt, kann dagegen das Referendum ergreifen. Das hat die SVP nicht getan. Statt sich an die bewährten Spielregeln unserer Demokratie zu halten, setzt sie mit ihrer Initiative auf unnötige und unschweizerische Zwängerei.“
Was sagt dieser letzte Abschnitt der SP-Argumentation aus? Dass das Parlament seine Aufgabe erfüllt hat, indem es eine strenge Ausschaffungspraxis noch strenger gemacht hat? Dass eine noch strengere Ausschaffungspraxis keinen weiteren Widerspruch erfordere, weil sie konsensuell umgesetzt werde? Dass das Parlament Grundrechte ausser Kraft setzten darf, solange es sich „an die „bewährten Spielregeln der [Schweizer] Demokratie“ hält?
Es ist nicht die kollegiale Funktionsweise des Parlaments, die lautstark einzufordern ist. Nicht unter den heutigen Umstände, wo diese die reibungslose Umsetzung von SVP-Initiativen bedeutet. Vielmehr sollten Rechte für alle den Sockel einer Politik der Solidarität bilden. Grundsätzlich gibt es seit 20 Jahren regelmässig Angriffe der SVP auf das Ausländer- und Asylrecht; 1994 wurde die Volksinitiative zu den Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht angenommen; insgesamt mehr als sechs Volksinitiativen haben dazu geführt, dass es eine permanente Revision und Verschärfung der Bestimmungen gab.
Zwei Elemente sind für den Kontext wichtig und kommen auch in anderen europäischen Staaten vor:

  • Es gibt eine Verschiebung des Diskurses (Pegadisierung, LePenisierung). Das heißt, Diskurselemente, wie zum Beispiel „das Gastrecht wurde verwirkt“(wortwörtlich) werden breiter übernommen. Selbst Sarah Wagenknecht, Fraktionschefin der Partei „Die Linke“ im deutschen Bundestag, bedient sich solcher Sätze.
  • Man beobachtet einen Generalverdacht und eine fortgeschrittene Kriminalisierung von breiten Teilen der migrantischen (Lohnabhängigen-)Bevölkerung und insgesamt der unterdrückten Klassen. Auf diese Menschen wird infolgedessen ein riesiger Druck ausgeübt, sich den Betriebschefs, den Vermietern, den Schulbehörden, usw. zu fügen.

Die DSI ist die letzte Zuspitzung in einer neokonservativen Offensive, die den Abbau des Sozialstaates und die Entsolidarisierung sowie Entrechtung der Lohnabhängigen vorantreibt. Konkret heisst die Kriminalisierung von Migrant*innen, die Leistungen bei den Sozialversicherungen beziehen, dass noch mehr Menschen darauf verzichten werden. Laut Caritas beantragen 30 bis 50% der Bedürftigen keine Sozialhilfe, weil sie Konsequenzen befürchten oder Angst haben (Erklärung über ein soziales Grundeinkommen, Zahlen von 2012). Die DSI erhöht den Druck auf die migrantischen Lohnabhängigen in der Arbeitswelt; gewerkschaftliches Engagement und Proteste bei Rationalisierung und Massenentlassungen werden noch riskanter als sie es ohnehin schon sind. Mit der Drohkulisse der Abschiebung wird Ruhe in den Betrieben hergestellt.
Dabei ist die Schweiz mit 2% des Bruttoinlandproduktes schon das Land unter den Industrieländern, indem die grössten Nettozahlungen aus den Einwanderer*innen herausgeholt werden. Bei den anderen OECD-Ländern einschliesslich USA, Australien und Kanada, beträgt der Durchschnitt ca. 0,3% (2006 bis 2008), was die NZZ so auf den Punkt brachte: „Die Schweiz profitiert von den Zuwanderern“. Hier soll eine utilitaristische, nach den Kriterien der Industriekapitäne „ausgewählte“ Einwanderung gegenüber der freien, selbstbestimmten Bewegung der Menschen Vorrang bekommen.

3. Elemente für eine Antwort emanzipatorischer Kräfte

Zuallererst braucht es eine unbedingte, praktische Solidarität mit den Kolleginnen, Nachbarn und Freundinnen, die keinen Schweizer Pass besitzen. Es wird versucht, uns zu spalten, Verdächte werden konstruiert, aber betroffen sind wir alle. Wir lassen uns nicht im Alltag oder bei Protesten verunsichern und werden uns gegen die Repression wehren.
Wir stehen für einen radikalen Ausbau der sozialen, politischen und bürgerlichen Rechte für alle in der Schweiz lebenden Menschen. Konkret heißt das folgendes:
ERSTENS sehen wir die Notwendigkeit, eine breite demokratische Front zur Verteidigung der Grundrechte (alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich) zu bilden. Radikale emanzipatorische Politik muss die Errungenschaften der bürgerlichen Emanzipation gegen despotische Willkür anerkennen und sie zur Not verteidigen. Wir nehmen also Teil an der Errichtung einer breiten Fronten zur Verteidigung des demokratischen Rechtsstaates. Wir verhalten uns innerhalb der breiten Front fair, üben solidarische Kritik, fordern umfassende Transparenz und klare Abgrenzung gegen rassistische, sexistische oder diskriminierende Haltungen.
ZWEITENS verlassen wir uns dabei keine Sekunde auf die Politik der bürgerlichen Parteien, um den Rechtstaat zu verteidigen. Zu oft in der Vergangenheit hatten die Bürgerlichen eine sehr opportunistische und sehr anpassungsfähige Vorstellung der Menschenrechte. Zu oft haben die Bürgerlichen repressive Maßnahmen und Notstand-Gesetze durchgeboxt, ohne die kleinste Rücksicht auf Grundfreiheiten zu nehmen. Vielmehr sollen emanzipatorische Kräfte die Verteidigung der Grundfreiheiten und der Würde aller unterdrückten Menschen selbst in die Hand nehmen. Ohne die konkrete Aneignung und alltägliche Benutzung dieser Grundfreiheiten durch die Migrant*innen selbst, zum Beispiel auf Demos und Streiks, bleiben sie lebloses Papier.
DRITTENS sind die politischen Freiheiten (Meinung, Versammlung, Presse und Vereins-Wesen) für uns untrennbar vom Kampf gegen alle Formen von Unterdrückungen, seien sie rassistisch oder sexistisch begründet. Deshalb können wir uns keine Verteidigung des Rechtsstaates vorstellen, wo nicht gleichzeitig ein radikaler Ausbau, eine Expansion der sozialen und politischen Rechte für ausnahmslos alle Einwohner*innen dieses Landes erkämpft wird. Hier, in der aktuellen Diskussion, heißt es, die Heuchelei hinter einer Politik zu entlarven, die ein System von Doppel-Bestrafung stillschweigend akzeptiert. Denn mit der DSI soll ein Strafrecht verschärft werden, das schon seit langem auf der Grundlage von Herkunft oder Nationalität Unterschiede zwischen den Menschen macht. Alle sind vor dem Gesetz gleich: Das ist eine fundamentale Idee, die nicht verhandelbar ist. Auf der Grundlage von Migration Menschen ihre Würde wegzunehmen, ist inakzeptabel. Dieses Unrecht zu bekämpfen, ohne aber den strukturellen Rassismus zu verurteilen, der in der Schweiz seit Jahrzehnten das Recht und die Behördenpraxis prägt, ist naiv, wenn nicht fahrlässig. Insgesamt muss man sich vor Augen führen: Die Schweiz hat ein sehr strenges Ausländerrecht und zudem eine sehr restriktive Einbürgerungspolitik. Problematisch ist zudem die Haltung der progressiven Kräfte, die zwar Empörung zeigen, wenn das Parlament in seiner Gesetzgebungsfunktion durch die SVP umgegangen wird, aber nicht sehen, dass ca.1,5 Millionen erwerbstätigen Personen ohne Schweizer Pass keine Bürgerrechte haben, obwohl sie teilweise seit Jahren wenn nicht Jahrzehnten hier leben. Das heißt konkret, dass knapp 5,3 Millionen Stimmberechtigte (wenn alle abstimmen würden!) über das Schicksal von fast 2 Millionen Menschen entscheiden, ohne dass Letztere ein Wort dazu sagen dürfen. Um dem strukturellen Rassismus ein Ende zu bereiten, müssen grundsätzliche Forderungen migrantischer Organisationen Realität werden: Einbürgerung muss auf der Grundlage des Bodenrechts erfolgen, Wahl- und Abstimmungsrecht muss den Ausländer*innen, mindestens auf kommunaler und kantonaler Ebene (wie im Kanton Neuenburg), erteilt werden, eine kollektive Regularisierung aller illegalisierten Menschen muss her.
VIERTENS sind umfassende soziale Rechte für alle das beste Mittel gegen Rassismus, weil wir wissen dass ein Teil des Rassismus sich aus der „Wettbewerbssituation“ zwischen Lohnabhängigen speist. Es braucht wirksamen Mittel gegen Lohndumping. Entlassungen und Rationalisierungen müssen dezidiert verhindert werden, und zwar mit einem Engagement, das sicherstellt, dass alle Mitglieder der betroffenen Belegschaften ihre Arbeitsplätze behalten. Was momentan mit ALSTOM (Kanton Aargau) und RIETER (Winterthur) passiert, verursacht grösste Verunsicherung bei den Lohabhängigen, die hier arbeiten, unabhängig vom Pass. In dieser Situation wäre ein konsequentes Einsetzen politischer und gesellschaftlicher Kräfte zum Erhalt der Arbeitstellen, und für langfristige Perspektiven für die betroffenen Menschen und ihre Familien das Minimum.

Anhang: Die Kriminalstatistik und ihre grobfahrlässige Interpretation durch die SVP

Die SVP schreibt im Abstimmungsbüchlein, 7 von 10 Kriminellen im Gefängnis seien ausländischer Herkunft. Das stimmt für 2015 statistisch gesehen (71 % von 6.884 Menschen). Das Argumentarium der SVP schreibt weiter, dass „60% aller verurteilten Straftäter Ausländer sind“ (S. 10). Was stimmt ist, dass der Anteil der Ausländer*innen an der Gesamtzahl der verurteilten Erwachsenen (es sind 57.304 von 99.593, also ca. 56%) höher ausfällt als derjenige der Schweizer (es sind 42.289 von 99.593, also ca. 43%). Die hier genannten Zahlen des Bundesamtes für Statistik betreffen 2014, Unterschiede der selben Grössenordnung lassen sich für die vier letzten Jahren beobachten. Es ist anzumerken, dass die SVP oft Trends (das sind Entwicklungen über mehrere Jahre) manipuliert, um schnelle Erhöhungen der angeblichen Ausländer-Kriminalität vorzuführen. Hier soll es vorrangig um die Frage des Unterschiedes zwischen schweizerischen und ausländischen Verurteilten gehen, weil die SVP daraus eine Neigung von Ausländer*innen ableiten will, Verbrechen zu begehen. Zunächst muss hier genauer betrachtet werden, wie die Kategorien gebildet werden. Die Statistik der Kriminalität unterscheidet zwischen Verurteilungen von ansässigen Ausländer*innen (26.665 jugendlichen und erwachsenen Verurteilten für 2014) und dem, was sie als „andere Ausländer“ bezeichnet. Zu den Letzteren gehören Asylbewerber*innen und Menschen, die sich weniger als ein Jahr in der Schweiz aufhalten dürfen[5]. Die Kategorie der „anderen Ausländer“ schliesst wohl gemerkt auch ausländische Touristen ein. Ein Teil der Straftäter ohne Wohnsitz in der Schweiz, 2011 waren es ca. 21% der verurteilten Ausländer*innen, wird durch die Behörden in Haft genommen, weil eine Fluchtgefahr vermutet wird. Dadurch erhöht sich die Zahl der ausländischen Insass*innen im Vergleich zu den schweizerischen.
Warum sind die Zahlen bei den Verurteilungen von ansässigen Ausländer*innen und Schweizer*innen jedoch unterschiedlich? Um ein eindeutiges Bild zu haben, muss man spezielle Bereiche der gerichtlichen Statistik von der Gesamtzahl ausländischer Straftäter abziehen, weil es sich um Strafnormen handelt, die nur Ausländer*innen betreffen. Nimmt man die Verstösse gegen das Ausländergesetz unter die Lupe, so sind 15.215 Ausländer*innen 2014 verurteilt worden, weil sie „rechtswidrig“ ein- oder ausgereist sind, illegalisiert in der Schweiz gearbeitet oder sich hier aufgehalten haben. Bei der Gruppe der „anderen Ausländer“ belaufen sich die Verurteilungen wegen Ausländergesetz im gleichen Jahr auf 13.269, es sind 35% der Fälle. Diese Gerichtsentscheidungen, die allesamt durch die repressive Politik aller bürgerlichen Parteien in den letzten Jahren konstruiert wurden, vergrössern dadurch „künstlich“ die Zahl der Verurteilungen von Ausländer*innen. Ohne diese Kategorien von Delikten bleibt der Unterschied trotzdem markant. Nimmt man allein die Verurteilungen auf der Grundlage des Strafgesetzbuches, hat man folgenden Verhältnisse:

Verurteilte Personen nach Strafgesetzbuch (StGB) Jugendliche / Erwachsene Absolute Zahlen
(2014)
Prozentzahlen
Verurteilte Schweizer*innen
nach StGB (2014)
Jugendliche
Erwachsene
3.754
13.586
10
35
Verurteilte ansässige Ausländer*innen
nach StGB (2014)
Jugendliche Erwachsene 1.696
8.268
4
21
Verurteilte „andere Ausländer*innen“ nach StGB (2014) Jugendliche
Erwachsene
709
11.057
2
28
Gesamtzahl 39.070 100

Quelle: Bundesamt für Statistik
Die statistischen Märchen von Blocher, Brunner & co. werden sehr gut durch eine Analyse von Prof. André Kuhn demontiert. Jeder Vergleich im Bereich der Kriminalität muss nämlich die Determinanten in den Blick nehmen, die innerhalb einer Gruppe die verschiedene Zahlen an Delikten bestimmen. Nur damit kann man Aussagen für die gesamten Gruppen treffen. In den meisten Industrieländern, sowie auch in der Schweiz, bedingt zunächst das Geschlecht die Anfälligkeit dafür, Verbrechen zu begehen. Dann kommen nach Bedeutung geordnet, das Alter und der sozioökonomische Status. Laut dem Artikel von Professor Kuhn ist das Bild, das uns mehr Ausländer als Straftäter zeigt, darauf zurückzuführen, dass es mehr junge, männliche Personen von niedrigem sozioökonomischem Status bei der ausländischen Bevölkerung gibt als bei den Schweizer*innen. Wenn man eine Gruppe Schweizer*innen nimmt, die bezüglich Alter, Geschlecht und sozioökonomischem Status so zusammengesetzt ist, wie die ausländische Bevölkerung, dann hat man eine ähnliche Kriminalitätsrate.
Bei der Kriminalität von Asylbewerber*innen gibt es eine wichtige Diskussion über die Ursachen. Die Zahl der Verurteilungen, beispielsweise aufgrund des Betäubungsmittelgesetzes, liegt relativ gesehen höher, als bei einer vergleichbaren Gruppe junger Schweizer Männer, wie eine Studie durch zwei Kriminologen der Universität Zürich ergeben hat (hier der Link zum Gastkommentar in der NZZ vom 05.04.2014). Zur Erklärung müssen die Bedingungen betrachtet werden, unter denen Asylbewerber*innen leben müssen, insbesondere das sehr häufige Verbot einer Erwerbststätigkeit. In diesem Interview der NZZ von 2014 sagt Ben Jann, Professor der Soziologie an der Universität Bern, zudem, dass racial profiling, darunter versteht man das gezielte und wiederholte Kontrollieren von people of color durch die Polizei, die Zahl der Strafanzeigen und dadurch der Verurteilungen nach oben treibt. Dies ist sicherlich eine weitere Ursache der Überrepräsentation von Ausländer*innen, insbesondere der Asylbewerber*innen, in der Kriminalstatistik.
[1] Siehe dazu den Artikel der BFS Zürich hier.
[2] Der Artikel 7 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 lautet: „Alle Menschen sind vor dem Gesetze gleich und haben ohne Unterschied Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. Alle haben Anspruch auf den gleichen Schutz gegen jede unterschiedliche Behandlung, welche die vorliegende Erklärung verletzen würde, und gegen jede Aufreizung zu einer derartigen unterschiedlichen Behandlung“.
[3] Siehe die Gesetzänderung, die wie erwähnt noch nicht in Kraft ist, auf dem Bundesblatt, BBl. 2015, 2735, hier abrufbar.
[4] Zititiert in: Catherine Boss, Die Staatsanwälte übernehmen die Macht, Sonntagszeitung vom 3. August 2014. (www.grundrechte.ch , aufgerufen am 10.02.2016, 14.00).

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