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Frankreich: Politische Krise, fauler Wahlkampf und ein Kompass für diese stürmischen Zeiten

Der französische Präsidentschaftskandidat der Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA), Philippe Poutou (Automobilarbeiter bei Ford in Bordeaux), legte am 4. April 2017 einen grossen Auftritt in der TV-Debatte zwischen den Kandidat*innen hin. Als einziger männlicher Kandidat, der keine Krawatte trug, machte er Furore, weil er sich weigerte, auf dem gemeinsamen Foto aller Kandidat*innen zu posieren, und weil er in der Debatte die Kandidat*innen des französischen Establishments und ihre Korruptionsskandale direkt angriff. Auch die rechtsextreme Kandidatin Marine Le Pen brandmarkte er: Wir haben hier auch Marine Le Pen, die sich an den öffentlichen Kassen bedient, zwar nicht hier, sondern in Europa. Und der FN, der sich so gegen das System gibt, hat kein Problem damit, das System zu benutzen, um sich selbst zu schützen, wie durch parlamentarische Immunität. Das ist sehr bequem. […] Wenn wir vor Gericht gerufen werden, gilt für uns keine Immunität der Arbeiter*innen. Voilà. Der provokante Auftritt von Philippe Poutou und die enorme Welle der Sympathie, die er in den sozialen Medien geerntet hat, sind wie eine Atempause. Dies bricht einen Augenblick lang mit dem Grundton des Präsidentschaftswahlkampfes, der von der Selbstinszenierung einzelner Personen geprägt ist und indem die beiden Kandidat*innen der antikapitalistischen Linken (NPA und Lutte Ouvrière) meistens blanke Verachtung seitens der etablierten Parteien erfahren. Der hier übersetzte Beitrag beleuchtet die Krise des politischen Systems in Frankreich und zeigt aus dem Negativen heraus die Notwendigkeit, dass die unterdrückten Klassen selbst die Geschäfte in die Hand nehmen müssen, unabhängig von den korrupten Regierungskreisen. (Red.)
Von Léon Crémieux*
Es ist untertrieben zu sagen, Frankreich erlebe gerade eine Regimekrise. Jeden Tag kommen neue Aspekte einer politischen Krise ans Licht, die sowohl die sozialdemokratische Partei (Parti socialiste, PS), als auch die aus dem Gaullismus hervorgegangene Formation Les Républicains (LR; vormals UMP Union pour un Mouvement Populaire) erschüttert. Bildlich gesprochen heisst es, dass die Krise die beiden Säulen zerfrisst, die seit vierzig Jahren das politische Leben Frankreichs tragen. Nunmehr ist es nicht mehr auszuschliessen, dass Marine Le Pen (Front National, FN) einen „Überraschungssieg“ bei der kommenden Präsidentschaftswahl erringt. Diese Krise, die das politische sowie das institutionelle Feld erfasst [als Krise des Parteiensystems und der bürgerlichen Vertretungsdemokratie insgesamt], ist auch die Folge einer sozialen Krise, wobei die damit einhergehende Polarisierung des politischen Systems – bedauerlicherweise – meistens auf der rechten und extremrechten Seite erfolgt.
Auch wenn in den letzten Wochen unerwartete Situationen aufgetreten sind, ist es nunmehr am wahrscheinlichsten, dass weder die PS noch die LR bei der Stichwahl zum Präsidentenamt am kommenden 7. Mai 2017 vertreten sein werden. Diese historisch einmalige Situation wird Auswirkungen auf die Legislativwahlen (Assemblée nationale) des 11. und 18. Juni 2017 haben. In Frankreich will die 2002 eingeführte Wahlmechanik, dass die Präsidentschaftswahl eine Hebelwirkung auf die Parlamentswahlen hat. Da die Parlamentswahlen einige Wochen nach der Präsidentschaftswahl stattfinden, bekam die Partei des gewählten Präsidenten bisher einen Zulauf an Stimmen zu Gunsten ihrer Kandidaten.
Da es wahrscheinlich ist, dass der oder die gewählte Präsident/Präsidentin nicht aus einer der historischen Parteien kommt, stehen wir möglicherweise am Vorabend einer tiefgreifenden Umorganisierung des Feldes der politischen Parteien, die bisher in den parlamentarischen Institutionen involviert waren. Vielleicht stehen wir sogar am Vorabend einer grösseren politischen Krise.
Drei neue Phänomene sind in den letzten Wochen zu beobachten gewesen.

1. Eine beispiellose Krise der Partei Les Républicains

Die Enthüllung, dass François Fillon [der Präsidentschaftskandidat der konservativen Rechten] öffentliche Gelder veruntreut und unterschlagen hatte, löste die Krise aus. Seit zwei Monaten bringen die investigativen Journalisten des Canard enchaîné und von Mediapart immer wieder neue Elemente ans Licht, die Praktiken zeigen, die zwar nichts Neues und nicht nur François Fillon eigen sind, aber eine zerstörerische Wirkung entfalten. Derjenige, der bei den Vorwahlen der konservativen Rechten seinen Wahlkampf mit der Figur von „Meister Proper“ aufgebaut hatte, erscheint jetzt als der Vorkämpfer der Veruntreuung von öffentlichen Geldern zu seinem eigenen Profit. Seit mehr als einem Monat vermag er nicht mehr sich Gehör zu verschaffen, weil sein Wahlkampf komplett durch seinen „Skandal“ und das narzisstisch-obsessives Beharren auf seine Kandidatur in den Schatten gestellt wird. Im Februar 2017 sind fast alle leitenden Figuren von LR, allen voran der ex-Präsident Sarkozy, zur Überzeugung gelangt, dass Fillon ein grosses Risiko darstellt. Daher versuchten sie eine alternative Lösung zu finden, damit die konservative Rechte bei der Stichwahl vertreten ist. Fillon hatte sich jedoch während den Vorwahlen von Dezember2016 gegen die „natürlichen“ Kandidaten der Rechten – Sarkozy und Juppé –  durchgesetzt, gerade weil diese Führungsfiguren bei der am meisten reaktionären Wählerschaft ins Misskredit geraten sind, was letztere wiederum dazu veranlasste, mit einer überwältigenden Mehrheit einen ultra-liberalen und konservativen Katholiken in Gestalte von Fillon zu bevorzugen.

François Fillon (LR)
Zwischen dem 1. und dem 5. März 2017, als die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens gegen Fillon angekündigt wurde, forderten ihn fast alle Führungsfiguren von LR auf, sich zurückzuziehen – angefangen mit seinem Sprecher, Thierry Solère, und seinem Wahlkampfleiter Patrick Stefanini. Der Bündnispartner von LR, die Zentristen-Partei UDI (Union des démocrates et indépendants), „sistierte“ seine Unterstützung. Die Leitung von LR fand jedoch nicht die Kraft, Fillon zum Rücktritt zu zwingen. Zunächst gelang es ihr nicht, eine Übereinkunft zu einer alternativen Kandidatur zu erreichen, die die verschiedenen Strömungen hätte einigen können. Dann kündigte Fillon selbst an, dass er sogar gegen den heftigsten Widerstand auf seiner Kandidatur bestehen würde, was ihn dazu brachte, gegen den Apparat seiner Partei zu kämpfen. In seiner eigenen Partei komplett isoliert, aber durch die kühne Ausnützung der Schwäche der Parteileitung, setzte er auf die Mobilisierung von Kräften ausserhalb der Partei, die den konservativsten und reaktionärsten Flügel seiner Anhänger*innen verkörpern. Diese Kräfte sind in der Bewegung Sens commun organisiert[1], die 2014 aufgestellt wurde, als Sammelbecken für die Aktivist*innen der „Manif pour tous“, der rechtsgewandten Protestbewegung der Homoehe-Gegner*innen.
Mit der Hilfe von Sens commun und des rechtsextremen Wochenmagazins Valeurs actuelles organisierte Fillon am 5. März 2017 eine Unterstützungsdemonstration, mit dem Ziel, die „Richter“ anzuprangern und sich gegenüber dem Parteiapparat durchzusetzen. In Folge der Demonstration mit 40.000 bis 50.000 Teilnehmer*innen auf dem Place du Trocadéro in Paris, die er als Erfolg zu seinem Gunsten reklamieren konnte, gelang es ihm dann, sich als Kandidat zu erhalten. Binnen 48 Stunden kapitulierte die Parteileitung von LR geschlossen. Sie sicherte Fillon ihre Unterstützung erneut zu, in der Befürchtung, grosse Teile ihrer am meisten reaktionären Wählerschaft würden für Marine Le Pen stimmen. Dieselben, die in Namen der politischen Redlichkeit am vorigen Tag Fillon angeprangert hatten, und seinen Rücktritt verlangt hatten, steckten schlussendlich ihre moralische Überzeugung wieder ein. Ebenso bei den Zentristen der UDI, die einigen Tage vorher die Lügen von Fillon sehr scharf angeprangert hatten und dann ihre Unterstützung erneuerten (im Gegenzug kamen 20 Kandidat*innen der UDI auf die Liste von LR für die Parlamentswahlen im Juni).
All dies wäre eine gute Witzpartie, wenn es nicht das Symptom des Verfalls der LR-Partei wäre, zugleich die Unterwerfung unter seinen am meisten reaktionären Flügel, in Folge des politischen Druckes durch den Front National und der Polarisierung des politischen Feldes auf der rechten Seite. Ausserdem vermehren sich die Abgänge im Parteiflügel um Alain Juppé, wo mehrere Anhänger*innen dem Wahlkampf von Emmanuel Macron zugelaufen sind.

2. Die angekündigte Explosion der Parti socialiste

Auch in der Parti Socialiste (PS) sind zentrifugalen Kräfte am Werk. Benoît Hamon (der siegreich aus den Vorwahlen der PS hervorging) wurde durch die PS-Leitung als offizieller Kandidat unter der Bedingung akzeptiert, dass er einen lautlosen Wahlkampf führt, wo jegliche Kritik an der jetzigen Hollande-Regierung (PS) unterschlagen wird. Das einzige, was sein zahnloser Wahlkampf vorzuweisen hat, ist der Rückzug des grünen Kandidaten von Europe-Ecologie-Les Verts (EELV) zu Gunsten von Benoît Hamon. Hier findet man dasselbe Vorgehen wie im rechten Lager, nämlich dass der Rückzug der grünen Kandidatur im Tausch gegen vier Dutzend Wahlkreise für die Parlamentswahlen erreicht wurde (in diesen „reservierten“ Wahlkreisen verzichtet also die PS auf die Aufstellung von Kandidat*innen zu Gunsten der Grünen; A.d.R.) [2].

Benoît Hamon (PS)
Manche Beobachter*innen haben den Sieg von Hamon mit der Zustimmungswelle verglichen, die der neue, linksgerichtete Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn („Corbyn-Effekt“) in Grossbritannien ausgelöst hat. Dies trifft teilweise zu, wenn man die Ergebnisse der Vorwahlen der Linken in Betracht zieht, wo die Wähler*innen die neoliberale Politik des ehemaligen Premierminister Manuel Valls (PS) deutlich ablehnten und der gesamten Amtszeit von François Hollande eine Abfuhr erteilten. Andere Aspekte machen aber einen Vergleich schwierig. Nach seinem Sieg bei den Vorwahlen nahm Benoît Hamon ganz zahm seinen Platz im Apparat der PS wieder ein, und behauptete sogar, er würde in den wesentlichen Zügen zur Bilanz von Hollande stehen. Der Wahlkampf von Benoît Hamon ist nicht einmal von den minimalsten Anzeichen einer politischen Bewegung von unten begleitet. Seine prominenteste Massnahme, die eine Leuchtturm-Funktion in Gestalte eines universalen Grundeinkommens entfalten sollte, ist durch die erzwungenen Kompromisse mit der PS-Parteileitung versandet. Hamon ist mitnichten ein Kandidat gegen die Austerität, oder ein Kandidat, der einen Bruch mit den neoliberalen Regeln der Europäischen Union einleiten würde. Seine Ergebenheit gegenüber den neoliberalen, rechten Sektoren der PS vermochte jedoch den langsamen Bluterlass seit zwei Monaten nicht zu stoppen. Die Zahl der Mandatsträger*innen und Funktionsträger*innen der PS, die zu Emmanuel Macron übergehen, nimmt allmählich zu. Die Letzten in dieser Reihe waren Bertrand Delanöé, ehemaliger Bürgermeister von Paris, und Jean Yves Le Drian, der amtierende Verteidigungsminister (sowie prominenter Vertreter der französischen Rüstungsindustrie).
Da es sehr wahrscheinlich ist, dass Hamon bei der Stichwahl nicht vertreten sein wird, herrscht bei der PS eine spezielle Stimmung. Die Parteileitung versichert Hamon weiterhin ihre Unterstützung und droht allen Abweichler*innen mit dem Parteiausschluss, die für eine Kandidatur von Emmanuel Macron mit einer Unterschrift bürgen. Gedroht wird den Abweichler*innen auch mit dem Rückzug ihrer Kandidaturen für die Parlamentswahlen. Zeitgleich bereiten viele Leitungsfiguren oder Amtsträger*innen den Kampf für die Stichwahl vor. Ein Aufruf von PS-Abgeordneten, Macron bei der Stichwahl zu wählen, wird unter dem Mantel weitergereicht, während Pierre Bartolone, der „sozialistische“ Vorsitzende des französischen Parlaments (Assemblée nationale), sagt, dass er bereit ist, Macron zu wählen „wenn die Demokratie in Gefahr ist und es die einzige Alternative ist“. Manuel Valls, der ein politischer Freund von Bartolone ist und der als ehemaliger Premierminister in den Vorwahlen unterlag, hat bereits öffentlich angekündigt, er weigere sich Benoît Hamon zu unterstützen. Die grosse Mehrheit der Regierungsminister wartet am Rande des Wahlkampfes der PS, wobei sie stillschweigend ihre Sympathie für Macron signalisieren.
Selbst François Hollande bekundet diese stillschweigende Unterstützung von Macron. Viele hoffen auf ein Szenario, das eigentlich nur geringe Erfolgschancen hat. Dieses sieht vor, dass die Stichwahl einen Raum zu Gunsten der PS aufmacht, wo ein Bündnis mit Emmanuel Macron geschmieden werden könnte. Diese Option böte der PS die Gelegenheit, die negativen Folgen einer Niederlage von Hamon auf die Parlamentswahlen abzumildern. Denn die PS befürchtet, ähnlich wie die LR, dass der Macron-Effekt ihre Kandidat*innen bei den Parlamentswahlen wegfegen wird. In allen Fällen werden sich die bevorstehenden Wahlen wie ein Ätzmittel auf die PS auswirken. Wenn die Kandidatur eines Vertreters des Anti-Regierungs-Flügels („frondeur“) in Gestalte von Benoît Hamon jegliche Zunahme der Anhänger*innen von Mélanchon verhindert, wird die Kandidatur – mit dem Druck durch die Kandidatur des sozialliberalen Macron kombiniert – mit grosser Wahrscheinlich eine Explosion der PS auslösen, falls Macron die Wahlen gewinnt. Das Projekt von Manuel Valls, der eine Partei nach dem Vorbild der Demokratischen Partei (Partito Democratico, PD) von Matteo Renzi in Italien schöpfen will, droht Realität zu werden[3]. Es wird aber immer wahrscheinlicher, dass solch ein politisches Geschöpf ohne die PS entstehen wird, oder zumindest auf dem Trümmerfeld dieser Partei. Denn es ist bereits klar, dass die PS als Partei überhaupt nicht im Stande sein wird, im Kräftemessen mit Macron zu bestehen.

3. Emmanuel Macron steigt auf, indem er auf allen Seiten nach Stimmen sucht.

Emmanuel Macron wurde durch den sozialliberalen Kurs von Hollande und Valls geprägt, konnte sich aber von der PS und der Bilanz der Regierungszeit emanzipieren. Momentan gelingt es ihm, was viele vor ihm nicht geschafft haben: die Schaffung einer Mitte-Rechts-Bewegung, die im Stande ist, gegenüber der Sozialdemokratie sowie den christlich-sozialen Verbündeten der gaullistischen Bewegung die Oberhand zu gewinnen.

Emmanuel Macron (EM)
In der medialen Öffentlichkeit erscheint er, als ob er mit den alten Parteien brechen würde, und vermittelt ein junges, modernes Bild, indem er liberale Positionen zu Gesellschaftsfragen mit neoliberalen Ansichten zu Wirtschaftsfragen kombiniert. Er kündigte demonstrativ an, dass er vor hatte, mindestens die Hälfte seiner Kandidat*innen für die Parlamentswahlen aus der „Zivilgesellschaft“ zu rekrutieren, das heisst ohne politische Ämter in ihren Lebensläufen[4]. Von Anfang an weigerte sich Macron Abkommen mit Strömungen aus der PS oder aus den Rechten zu schmieden. Seine guten Ergebnisse in den Umfragen, seine erfolgreichen Meetings und die Polarisierung durch die Medien bringen ihn in eine Situation, wo er aus diesen Prinzipien eine konsequente Haltung machen kann. Selbstverständlich ist die Politik, die Macron vorschlägt, alles anderes als neu. Sie hat ihren Ursprung im neoliberalen Massnahmenkatalog von Sarkozy und Hollande, bei denen er Berater beziehungsweise Minister war. Der Autor, der wesentlich am Schreiben seines Programmes beteiligt war, heisst Jean Pisani-Ferry, ein Ökonom und hoher Beamten, der einen sozialliberalen Hintergrund hat und in den Ministerkreisen reingewaschen wurde, unter anderem im Umfeld von Dominique Strauss-Kahn (ex-IWF-Direktor). Das Wirtschaftsprogramm von Macron enthält nichts neues, es beruht im Wesentlichen auf der Senkung der Staatsausgaben und –einnahmen, der Festsetzung von dauerhaften Steuererleichterungen für Arbeitgeber, neuen Angriffen gegen das Arbeitsrecht sowie einem fortschreitenden Übergang des Rentensystems hin zu einem kapitalbasierten Altersvorsorgesystem [ähnlicher der 2. Säule in der Schweiz; A.d.R.]. Damit seine Kandidat*innen und Vertreter*innen in den Regionen dem Bild einer „Jugendkur“ entsprechen, beauftragte Macron einen alten, gut etablierten Abgeordneten aus dem Anhängerkreis von Jacques Chirac, Jean-Paul Délevoye, mit der Rekrutierung von frischem Personal[5]. Trotz alledem will Macron das Bild einer Erneuerung vermitteln.
Ausserdem lässt sich der stark polarisierende Effekt von Macron in der PS und unter den LR-Anhänger*innen so erklären, dass die Kandidat*innen dieser beider Parteien manche Kräfte durch ihre Profile ins Zentrum treiben. Wenn Valls und Juppé (die Verlierer der jeweiligen Vorwahlen) sich gegenüber gestanden hätten, hätte Emmanuel Macron sicherlich weniger Raum bekommen. Hinzu kommt, dass die Meinungsumfragen der letzten Wochen Macron als „den einzigen Kandidaten, der Marine Le Pen schlagen kann“ erkoren haben, was selbst eine linke Wählerschaft mobilisieren kann, die gegen die Gesetze von Macron und El Khomri demonstrierten. Heute verfügt Macron, auch ohne vorher existierende Partei, um genug Überläufer*innen aus der PS, dem UDI und den LR, um seinen Wahlkampf umzubauen und die Parlamentswahlen vorzubereiten. Falls er die Präsidentschaftswahl gewinnen würde, wäre er im Stande, den offiziellen Standpunkt zu vertreten, dass er – mit Blick auf die Parlamentswahlen – kein Abkommen mit den Parteiapparaten der PS oder den Anhängern von Alain Juppé (LR, Verlierer der Vorwahlen der Rechten) anstreben will. Dies würde die Frage der Bündnispolitik auf den Juni vertagen, das heisst nach dem ersten Wahlgang des Parlaments. In allen Fällen hätte sein Erfolg eine sprengende Wirkung auf die PS und eine starke Erosion im rechten Lager von UDI-LR zur Folge.

Eine Polarisierung auf der extrem-rechten Seite des politischen Spektrums

All diese Elemente verstärken die polarisierende Wirkung durch Marine Le Pen auf der extrem-rechten Seite des politischen Spektrums, so dass man fest damit rechnen kann, dass sie bei der Stichwahl vertreten sein wird und dass ihr Wahlsieg nicht ausgeschlossen werden kann. Die Rechtsextremen nutzten, wie in vielen Ländern Europas, die Folgen der sozialen Krise zu ihren Gunsten, indem sie die Mechanik einer identitären-nationalistischen Abschottung bedienen. Da es keine politische Plattform gibt, die antikapitalistischen Forderungen mit einer Verankerung bei den unterdrückten Klassen kombinieren würde, können viele der unter den Folgen der Austeritätspolitik leidenden Wähler*innen solch ein Abschottungsprojekt attraktiv finden. Die von der Sozialdemokratie umgesetzte neoliberale Politik verstärkte dieses Phänomen massgeblich.

Marine Le Pen (FN)
Hinzu kommt, dass die Politik von „law and order“ [u.a. die Notstandsgesetzgebung seit dem Attentat in Paris im November 2015; A.d.R.], die staatlich verordnete, rassistische Politik gegenüber den Muslim*innen und der institutionalisierte Rassismus der Hollande-Valls-Regierung, Wasser auf die Mühlen des Front National (FN) waren. Der FN durfte seinen Einfluss in der Armee und bei der Polizei kräftig ausbauen, während gleichzeitig die sozialdemokratische Regierung die reaktionärsten Tendenzen in diesen beiden Korps begünstigten. Die Verweigerung der Hollande-Regierung, Migrant*innen aufzunehmen, sowie die Notstandsgesetzgebung samt ultra-repressiven Massnahmen, die nach den Terroranschlägen im November 2015 ergriffen wurden, brachten sowohl dem am meisten reaktionären Flügel der UMP (Union pour un Mouvement Populaire, die wählerstärkste Partei der Rechten, die 2015 in Les Républicains – LR – umbenannt wurde), als auch dem FN Zulauf. Die Umfragen zeigen, dass die Le Pen-Wählerschaft momentan stabil bleibt, und dass sie sich trotz diversen finanziellen Skandalen nur wenig bewegen lässt, obwohl der FN ebenfalls in die Skandale verwickelt ist.

Die Perspektiven der linken Kräfte ausserhalb der PS werden dem Ausmass der politischen Krise nicht gerecht

Jean-Luc Mélanchon (der Kandidat der France Insoumise – FI; vormals Kandidat der Front de gauche) gelang es, seine Kandidatur gegenüber seinen Partner*innen aus dem Front de gauche (Linksfront, bestehend aus dem Parti de gauche und der Kommunistischen Partei Frankreichs) durchzusetzen. Dabei versenkte er selbst das Linksfront-Bündnis, indem er sich selbst als Kandidat seiner eigenen Wahlplattform France Insoumise (FI) ernannte, jegliche Kontrolle durch seine Partner*innen aus dem Linksfront ablehnte und die lokalen Vertreter*innen sowie die Themen unter seiner exklusiven Ägide behielt. Dieser autokratische Wahlkampf, in dem Mélanchon vor einigen Monaten behauptete, er sei die einzige Alternative gegen Sarkozy und Hollande, wurde nun durch die letzten ereignisreichen Wochen erschüttert. An der Marke der 10 Prozentpunkte (14 Prozent am 28. März 2017) klebend, erscheint er nur noch als das fünfte Rad der Wahlergebnisse. Es bekommt also den rein persönlichkeitszentrierten Charakter seines Wahlkampfes zurück ins Gesicht geworfen, der wegen seiner [patriarchalischen] Haltung an das Erbe von Mitterand knüpft und katastrophale Auswirkungen [im Sinne einer Nicht-Identifikation der Wähler*innen] hat.

Jean-Luc Mélanchon (FI)
Jean-Luc Mélanchon hat sich explizit geweigert, seinen Wahlkampf auf der Grundlage einer konzertierten Zusammenarbeit von politischen Kräften und politischen Linksfronten zu gestalten. Sein Programm übernimmt zwar eine ganze Reihe von Fragen, die in den sozialen Kämpfen der letzten Jahre präsent waren, giesst sie und prescht sie aber in republikanische und chauvinistisch-nationalistische Formen um, wie das von ihm eingeführte Ritual belegt, die Meetings mit der französischen Nationalhymne abzuschliessen. Die politischen Kräfte, die ihn neben der Parti de gauche unterstützen, werden zu Statisten degradiert und müssen zuschauen, wie die Wahlkampfsprecher*innen in den Vasallen-Zirkel von Jean-Luc Mélanchon erhoben werden.
Die Kommunistische Partei Frankreichs (Parti Communiste Français, PCF) versucht bis heute durchzusetzen, dass Mélanchons FI keine Kandidat*innen gegen die 15 bisherigen Abgeordneten der PCF aufstellt, wobei 10 kommunistische Abgeordnete erneut in ihren Wahlkreisen kandidieren werden. Da Mélanchon sich geweigert hatte, dieses Abkommen zu ratifizieren, sistierte die PCF die Bürgschaft von 850 Amtsträger*innen zu Gunsten der Kandidatur Mélanchons. Dies verzögerte die Bestätigung der Kandidatur von Mélanchon bis zum Ende (er hat 806 bestätigte Bürgschaften bekommen).[6] Diese Episode von Wahlkampfverhandlungen erinnert stark an die Verhandlungen zwischen der PS und den Grünen (EELV) sowie zwischen LR und UDI. Dies beweist vor allem die begrenzte Dynamik des Wahlkampfes von Jean-Luc Mélanchon, der nunmehr alleine das Lied des linken Retters in der Not singt. Diesem Trend muss man allerdings entgegensetzen, dass er viele Aktivist*innen aus den gewerkschaftlichen und sozialen Bewegungen zusammenbringt, wo er ein linkes Gegengewicht zur PS verkörpert.
Dies lässt aber eine zentrale Frage unbeantwortet für alle diejenigen, die auf verschiedenen Fronten gegen die neoliberale und reaktionäre Politik kämpfen. Ein Jahr nach einer der mächtigsten sozialen Bewegung der jüngsten französischen Geschichte, die Bewegung gegen das Loi Travail im Frühjahr 2016, findet die einzige reale Polarisierung des politischen Feldes auf der rechten Seite statt. Dies mag erstaunen, wenn man die Realität der Sozial- und Arbeitskämpfe in Betracht zieht: zehntausende Aktivist*innen haben es geschafft, das Flughafen-Projekt von Notre-Dame-des-Landes lahm zu legen; zehntausende Aktivist*innen haben sich im ganzen Land für die Solidarität mit den Migrant*innen engagiert; zahlreiche Streiks von Arbeiter*innen finden jeden Monat in den Regionen statt – sei es für höhere Löhne oder gegen Entlassungen. Zudem haben bedeutende Protestaktionen gegen die Polizeigewalt und den staatsverordneten Rassismus stattgefunden und werden stattfinden, wie es die starken Proteste zeigen nach dem Mord an Adam Traoré im letztem Sommer im Departement Oise, sowie als Reaktion auf die Vergewaltigung des jungen Théo durch die Polizei in Aulnay-sous-Bois im Februar 2017. Diese Gewaltpraktiken, wobei die Polizei eine Politik der Straflosigkeit geniesst, sind nicht der Ausdruck von „übergriffigen Fehlreaktionen“ (bavures policières), sondern von einem Rassismus, der durch die staatlichen Institutionen strukturiert und durch die Regierung legitimiert wird. Im Widerstand gegen diesen Praktiken und deren politische Kaution „von oben“ entsteht gerade ein politischer Antirassismus. Alle diese sozialen Kämpfe sind Ausdruck des Widerstands der unteren Klassen; sie alle zeigen, wie notwendig ein globales politisches Projekt ist, das gegen die kapitalistische Ausbeutung und die Diskriminierungen aller Art gerichtet ist und die soziale Gerechtigkeit ins Zentrum rückt.
Die finanziellen Skandale um Fillon haben einmal mehr die Praktiken der politischen Amtsträger*innen aufgezeigt, wo viele sich bereichern und Gelder veruntreuen, während sie im selben Atemzug von den Arbeiter*innen verlangen, auf ihre elementarsten Rechte zu verzichten. Diese politischen Amtsträger*innen sind nur noch das Pendant der grossen Konzernführer*innen, die grosszügige Boni kassieren und gleichzeitig massive Entlassungswellen sowie Produktivitätssteigerungen bei den lohnabhängigen Klassen erzwingen. Die Arbeitskämpfe bei Air France und bei Goodyear haben die Notwendigkeit von einem Widerstand gegen solche Praktiken gezeigt. Der Skandal um Fillon zeigt ganz deutlich auf, dass es eine demokratische Kontrolle [des Staates] durch die Lohnabhängigen braucht, sowie dass die Institutionen [der bürgerlichen Vertretungsdemokratie] grundsätzlich zu hinterfragen sind. Man kann das Erdbeben, das die Enthüllungen des Canard Enchaîné über Fillon verursachten, nicht begreifen, wenn man es nicht mit der abgrundtiefen Entfremdung, ja mit der scharfen Ablehnung gegenüber den politischen Institutionen seitens der unteren Klassen in Verbindung bringt, bei denen die Zahl der Nicht-Wähler*innen ununterbrochen ansteigt.
All diese Momente von sozialen Kämpfen, diese sozialen und demokratischen Forderungen, prägen zwar die politische Situation, dies aber in fragmentierter Form, sozusagen im Hintergrund, und vermögen bis heute nicht ein Gegengewicht zu bilden. Die Sozial- und Arbeitskämpfe, zusammen mit den verschiedenen Formen des Widerstands, haben keinen Ausdruck in einem politischen Kompass gefunden, in einem Präsidentschaftswahlkampf, in dem die Polarisierung durch das Mitte-Rechts-Zentrum von Macron, die extrem-Rechte von Fillon sowie die Rechtsextremen von Le Pen geschieht.
Den Aktivist*innen der NPA (Nouveau Parti Anticapitaliste) ist es gelungen, die notwendigen 573 Bürgschaften zu bekommen, um Philippe Poutou als Präsidentschaftskandidat aufzustellen. Die NPA will in diesem Wahlkampf zeigen, dass es notwendig ist, eine neue Interessensvertretung für alle Ausgebeuteten und Unterdrückten zu schaffen, wobei das politische Projekt einer von allen Unterdrückungen befreiten Gesellschaft im Zentrum steht. Dieses Projekt, diese Notwendigkeit, kann bei einer grossen Anzahl an Aktivist*innen aus den sozialen Bewegungen Resonanz finden, dort wo ein solcher Erwartungshorizont vielfach vorhanden ist. Unabhängig davon, was im Wahlkampf noch alles passieren wird, werden die kommenden Wochen die Notwendigkeit eines solchen politischen Projektes noch aktueller machen.

Philippe Poutou (NPA)
*Léon Crémieux ist leitendes Mitglied der Nouveau Parti Anticapitaliste. Der Artikel wurde am 18. März 2017 veröffentlicht. Übersetzt wurde er von der BFS Zürich.

[1] Der relativ häufige französische Ausdruck sens commun kann mit gesundem Menschenverstand übersetzt werden, es ist aber auch, durch die Wortwahl, einen impliziten Bezug auf eine homogene Gemeinschaft.
[2] Um die Manöver im Umfeld der grössten Parteien mit Blick auf die Parlamentswahlen zu verstehen, muss man das archaische Wahlsystem Frankreichs ins Auge fassen, wo die Abgeordneten nicht nach dem Proporzprinzip gewählt werden, sondern nach dem Mehrheitswahlrecht in zwei Wahlgängen. Um wählen zu dürfen, muss Mensch sich vorher in ein Wählerverzeichnis eintragen, was bei den am meisten unterdrückten Teilen der lohnabhängigen Bevölkerung oftmals nicht erfolgt, zum Beispiel in den quartiers populaires, den Vorstädten. Im ersten Wahlgang muss der/die Kandidat*in in seinem/ihrem Wahlkreis die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen bekommen, um gewählt zu werden. Dabei muss aber die Gesamtzahl seiner/ihrer Stimmen mindestens einem Viertel der Stimmen der eingeschriebenen Wähler entsprechen. Falls niemand das absolute Mehr erreicht hat, findet am darauffolgenden Sonntag der zweite Wahlgang statt, wo alle Kandidat*innen antreten dürfen, die mindestens 12,5% der Stimmen der eingeschriebenen Wähler*innen erhielten. Dann reicht die relative Mehrheit, um gewählt zu werden. Die Eigenschaften des Mehrheitswahlrechtes führen also dazu, dass es für Parteien, die eine Minderheit der Wähler*innen vertreten, quasi nicht möglich ist, Abgeordnete zu stellen. Dies ist beispielweise bei den radikalen Linken der Fall. Der einzige Ausweg daraus besteht aus einem globalen Abkommen mit einer zahlenstarken Partei, die sich willig zeigt, in bestimmten Wahlkreisen seine Kandidat*innen zu Gunsten der kleineren Partei im ersten Wahlgang zurückzuziehen. Verzichtet dagegen eine kleine Partei auf solch ein Abkommen, dann führt die Abwesenheit des Proporzwahlrecht dazu, dass selbst Stimmenanteile von mehr als 5 Prozent oder selbst 10 Prozent auf nationaler Ebene, den minderheitlichen Formationen keine parlamentarische Vertretung geben.
[3] Seit dem verlorenen Referendum zur Verfassungsreform von Renzi in Dezember 2016 ist die PD in eine tiefe Krise geraten. Manuel Valls fühlt sich also eher durch die „goldene Zeit“ von Matteo Renzi inspiriert, wo dieser autoritär den Parteiapparat kontrollierte und den präzedenzlosen Abbau der Arbeitnehmerrechte durchführte (job act).
[4] Das Online-Medium Mediapart hat die Behauptung von Macron überzeugend dekonstruiert, eine politische Bewegung zu haben, die unabhängig von den etablierten Machtzentren wäre. Emmanuel Macron hat einen Abschluss der Ecole Nationale d’Administration (ENA), einer der meist gepriesenen Hochschulen Frankreichs, mit dem er Zugang zur Inspection générale des finances fand, einem prestigeträchtigen Beamtenkorps für ENA-Absolvent*innen. Dort wurde er von Jean-Pierre Jouyet, dem Chef der Finanzinspektion unterstützt. Jouyet ist seit den 1990er Jahren eine Schlüsselfigur im Machtgefüge von rechten und linken Regierungen. Jouyet ernannte ihn dann zum Berichterstatter der Commission Attali, eines beratenden Gremiums mit Konzernführern und Bankiers, wo er Vertreter seines zukünftigen Arbeitgebers, der Bank Rotschild, kennen gelernt hat. Dort wurde er auch mit der Umsetzung von neoliberalen Rezepten aus der europäischen Kommission vertraut. In seiner anschliessenden Zeit als Angestellter der Bank Rotschild schuf er sich ein grosses Vermögen durch die Betreuung eines bedeutenden Firmenkaufs für Nestlé. Unter der Hollande-Regierung wurde er dann in den Rang eines Kabinettschefs (Secrétaire général de l‘Elysée) gehoben, was bedeutete, dass er die wirtschaftspolitischen Massnahmen koordinierte, darunter mehrere Massnahmenpakete zu Gunsten der Unternehmer. 2014 ersetzte er den geschassten Arnaud Montebourg als Wirtschaftsminister, bis er im Sommer 2016 angekündigt hatte, auf sein Amt zwecks eigener Präsidentschaftskandidatur zu verzichten. Seine Start-up-ähnliche Bewegung „En marche!“ erlaubt ihm, sich frei von Parteieneinflüssen zu präsentieren. Tatsächlich beweist sein Aufstieg die grosse Macht der hohen Verwaltungsbeamten in Frankreich, die als „Experten“ die Entscheidungen der Regierungen jenseits von Wahlen und Parteienzugehörigkeit zu beeinflussen wissen. Siehe die Sendung Osons causer vom 1. März 2017, URL: https://www.youtube.com/watch?v=V9LbK-QXdYA.
[5] Jean-Paul Délevoye, Jahrgang 1947, war früher Unternehmensführer im Lebensmittelsektor und dann Präsident des Conseil économique, social et environnemental von 2010 bis 2015, eines regierungsberatenden Gremiums, das aus Vertreter*innen der Arbeitgeberverbände, der Gewerkschaften und der „Zivilgesellschaft“ zusammengesetzt ist. Er war zudem Senator von 1992 bis 2002 (Pas-de-Calais) sowie als Minister unter Chirac (2002-2004) u.a. mit dem Abbau der Beamtenrenten betraut.
[6] Für eine Präsidentschaftskandidatur braucht ein Kandidat mindestens 500 Unterschriften von gewählten Amtsträger*innen.

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2 Kommentare

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