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G20: Gelebte Solidarität als Perspektive einer anderen Welt

Über eine Woche ist bereits vergangen, seit sich in Hamburg die „Vertreter*innen“ der 19 grössten Industrie- und Schwellenländer plus die EU zum Gipfeltreffen G20 versammelt haben. Es sind Umweltsünder wie die USA oder Waffenlieferanten wie Deutschland, die da gemütlich bei einem klassischen Konzert zusammensassen, um sich später seelenruhig zum Beispiel über einen „Marshall-Plan“ für Afrika auszutauschen, während nur ein afrikanischer Staat vertreten war. Dabei geht es nur vordergründig um die Interessen der afrikanischen Bevölkerung, vielmehr geht es um die fortschreitende Liberalisierung der Weltwirtschaft und Förderung privater Investoren und Multikonzerne, die sich nicht im Geringsten um die Bevölkerung geschweige denn die Umwelt kümmern. Der G20 ist also nicht nur ein Symbol des mörderischen globalen Kapitalismus, sondern auch ein wichtiger Funktionsträger und Ort für die voranschreitende neoliberale Politik. Dieser Artikel soll den bereits letzte Woche an dieser Stelle veröffentlichten Artikel in einigen Punkten ergänzen.

von BFS Jugend Zürich

Die Mobilisierung der Linken gegen dieses Treffen der Mörder und Tyrannen war entschlossen und vielfältig. Trotz massiver Einschüchterungsversuche durch den Staat als Instrument der Herrschenden und medial transportierten Bürgerkriegsszenarien machten sich zehntausende Menschen auf den Weg nach Hamburg, um zu protestieren und für eine andere Welt zu kämpfen. Ausdruck fand dieser Protest in einer Vielzahl an Aktionsformen. Fast tausend Menschen reisten kollektiv mit einem Sonderzug aus der Schweiz an und trotzten dabei konstanter Schikane durch die Polizei. Nach langem Ringen mit dem Ordnungsamt und den Gerichten wurde ein Camp im Altonaer Volkspark durchgesetzt, welches hunderten Protestierenden als Rückzugs -und Ruheort diente. Geschaffen wurde ein von Solidarität geprägter selbstverwalteter Raum zur Vernetzung von Protestierenden aus ganz Europa. Bereits im Vorfeld des G20-Treffens fand ein alternativer Gegengipfel statt, der interessierten Menschen mögliche Alternativen zur kapitalistischen Weltordnung aufzeigen sollte. Es wurde zudem gegen die Herrschenden getanzt, Fahrrad gefahren, gemalt, Sport getrieben und gesungen. Kurz: Protest in allen Formen, die man sich ausdenken kann. Verschiedene Initiativen versuchten zudem den Gipfel so stark wie nur möglich zu stören, zu blockieren und den Gipfelteilnehmer*innen ihren Aufenthalt in Hamburg so ungemütlich wie nur möglich zu machen. Und natürlich wurde demonstriert: Zu Zehntausenden nahmen sich die Menschen die Strassen und verschafften ihrer Wut auf das Bestehende aber auch ihrer Hoffnung für die Zukunft Ausdruck. Immer und immer wieder.
Ein erstes grosses Ausrufezeichen sollte dabei die „Welcome to Hell“-Demonstration am Donnerstagabend darstellen. Ca 12‘000 Menschen sammelten sich zur antikapitalistischen Vorabenddemo. Die Stimmung war von Beginn weg kämpferisch aber auch heiter, es wurde gelacht, getanzt und diversen Redebeiträgen und Konzerten zugehört. Die Demo gab Menschen eine Stimme, die in der hierarchischen Gesellschaft sonst kaum zu Wort kommen, gefordert wurde der symbolische und praktische Bruch mit der herrschenden Ordnung. Die Polizei konnte und wollte dies nicht zulassen. Sie griff die friedliche Demonstration mit brutaler Gewalt an, verletzte Hunderte und nahm Massenpanik und Tote in Kauf. Doch die Protestierenden liessen sich nicht einschüchtern und verliehen ihrer Wut neuen Ausdruck. Nach kurzer Zeit formierten sich zwei neue Demonstrationszüge, die die Polizei erst gewähren liess und später auf der Reeperbahn stoppte, um sie wiederum gewaltsam aufzulösen. Doch auch dieser erneute, völlig unverhältnismässige Gewaltausbruch der Polizei konnte den Widerstand nicht brechen. Am Freitagmorgen machten sich mehrere tausend Aktivist*innen auf den Weg in die rote Zone um den Empfang der Mächtigen zu blockieren. Die Blockaden als Form der direkten Aktion zielten darauf ab den Gipfel in seiner konkreten Ausführung zu stören. Dies gelang teilweise: Hunderte Menschen drangen in die verbotenen Zonen ein, mehrere Delegationen drehten an Blockaden um, ein Treffen des deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble wurde abgesagt, das Konzert in der Elbphilharmonie begann mit großer Verzögerung. Den ganzen Tag über formierten sich zudem immer wieder spontan Demonstrationszüge mit tausenden Menschen, die Zufahrt zum Hamburger Hafen wurde über längere Zeit blockiert. Die Polizei, noch immer in der Hoffnung das Vergnügungstreffen der mächtigsten ohne Unterbruch garantieren zu können, reagierte erneut mit Gewalt. Den Abschluss dieser vielfältigen Protestwoche bildete dann die grösste Demonstration, die Hamburg in den letzten 30 Jahren gesehen hat: Fast 80‘000 Menschen setzten ein Zeichen gegen die G20, die Arroganz der Herrschenden, dieses Gruselkabinett in einer Grossstadt stattfinden zu lassen und für eine gerechtere Welt. Demonstrierende bekundeten mit einer riesigen PKK-Flagge ihre Solidarität mit den kurdischen Kämpfen, gefordert wurde zudem die Freiheit für Nekane Txapartegi genauso wie das Ende der globalen Umweltzerstörung und Waffenlieferungen an Kriegstreiber und Terrorunterstützer, sowie bessere und kostenlose Bildung für Alle.

Solidarität als Waffe

Die Tage in Hamburg zeigten einmal mehr, dass Solidarität eine unserer stärksten Waffen ist. Vor allem in St. Pauli und dem Schanzenviertel war diese nicht nur unter den Protestierenden, sondern auch von den Anwohner*innen deutlich spürbar. So wurden nicht nur Verletzte umgehend von Demo-Sanis behandelt, sondern auch erschöpfte Protestierende von Anwohner*innen mit Verpflegung und Wasser versorgt. Viele Geschäfte und Hamburger*innen stellten Rückzugsorte und Toiletten zur Verfügung oder liessen Menschen ihre Wasserflaschen auffüllen. Als die Polizei im Vorfeld versuchte, die Schlafcamps zu verhindern, stellten Hunderte Privatpersonen ihre Vorgärten, Hinterhöfe und Wohnungen den angereisten Demonstrant*innen zur Verfügung. Auch mit Plakaten und Schriftzügen in Schaufenstern und an Wohnhäusern äusserte sich die Ablehnung der Hamburger Bevölkerung gegenüber den G20 und die Solidarität mit den Protesten. Wir wollen aber nicht schönfärben: Viele Hamburger*innen waren genervt und wütend über den Ausnahmezustand in ihrer Stadt, über Polizeipräsenz und Behinderungen in ihrem Alltag. Die Verantwortung hierfür liegt aber nicht bei den Protestierenden, sondern bei Merkel & Co., die auf die Idee kamen, einen G20-Gipfel überhaupt zu veranstalten und dann auch noch in einer Grossstadt auszutragen. Die massive Repression bedeutete nicht nur direkte physische Belastungen, sondern auch andauernder psychischer Stress, der seine Spuren hinterlassen kann. Umso wichtiger ist es jetzt, dass wir für einander da sind, dass wir Räume schaffen, in denen unsere Ängste und unsere emotionale Verarbeitung der Proteste Platz haben. Es ist zentral, dass wir uns unseren eigenen Grenzen bewusst werden und dass niemand für diese verurteilt wird. Nur so sind wir fähig unseren Protest auf lange Zeit weiterzuführen.

Repression

Die Strategie der Polizei im Umgang mit Protestierenden war schon Wochen vor dem eigentlichen Gipfel klar: Proteste sollten unterdrückt, diskreditiert und systematisch schikaniert werden. Wo dies nicht gelang, wurde versucht die progressiven Kräfte zu spalten und nur konforme Proteste zuzulassen. Mit reisserischen Berichten über angeblich mehrere Tausend gewaltbereite Linksextremisten, die in die Stadt einfallen würden, wurde in den Medien durch die Stadt und die Polizeiführung ein Narrativ aufgebaut, dass die ganze Protestbewegung diskreditieren und kriminalisieren sollte. Dadurch sollten einige, eher dem bürgerlichen Protestspektrum zugehörige Gruppierungen, zur Aufgabe der Zusammenarbeit mit der radikalen Linken bewegt werden. Gegenüber den übrigen, nichtgenehmen Protestierenden setzte die Polizei von Beginn weg auf Eskalation und Konfrontation. Jegliche Protestformen sollten soweit irgendwie medial vermittelbar mit allen Mitteln verhindert und schikaniert werden – auch mit Gewalt. Entsprechend der vorgegebenen Taktik verhielten sich die Polizist*innen vor Ort. Teilweise jagten sie die Demonstrant*innen wie wild gewordene Rowdys mit ihren Knüppeln durch die Innenstadt und prügelten auf alles ein was sich bewegte. Pfefferspray und Wasserwerfer wurden willkürlich gegen alle eingesetzt, die keine Uniform trugen, vom Einsatz einer militarisierten Sondereinheit inklusive Sturmgewehren ganz zu schweigen. Ziel der Polizei waren dabei nur selten Verhaftungen. Wer gesehen hat, mit welcher Brutalität die „Welcome to Hell“-Demonstration angegriffen wurde, weiss sofort um was es dabei ging: die körperliche Züchtigung von Menschen, die dieses auf Ausbeutung beruhende System nicht akzeptieren. Eine Diskussion darüber was es bedeutet, wenn der Staat missliebige Menschen verprügeln lässt, wird bis heute nicht geführt.
Der so viel gerühmte Rechtsstaat war in Hamburg tagelang inexistent. Die Polizei scherte sich nicht einmal zum Schein um Rechtsgrundlagen für ihr Handeln: rechtswidrige systematische Personenkontrollen, Durchsuchungen, Einreisesperren (Ein Erlebnisbericht hierzu findet sich hier) etc.; systematische Angriffe auf das Versammlungsrecht; massive und systematische körperliche Angriffe auf Protestierende, Journalist*innen, Anwält*innen, Anwohner*innen etc.; Zustände in der GeSa (Gefangenensammelstelle), die Folter nahekommen (Schlafentzug; Knäckebrot und Wasser über Stunden, ja Tage hinweg; Demütigungen; Schläge und Tritte), die Liste liesse sich fast beliebig erweitern. Das Vorgehen der Polizei war nicht nur unverhältnismäßig, sondern ein politisch gewollter Versuch, die legitimen Proteste durch physische und psychische Einschüchterung zu schwächen, und das Eskalationspotential bewusst in die Höhe zu schrauben, um die Proteste zu delegitimieren. Viele Belege über die brutale Polizeigewalt sind auf https://g20-doku.org/ dokumentiert und entlarven die Lüge des Hamburger Bürgermeisters Olaf Scholz (SPD): „Polizeigewalt hat es nicht gegeben, das ist eine Denunziation, die ich entschieden zurückweise.“

Die Frage der Gewalt

Die nun gemäss altbekanntem Ritual in den bürgerlichen Medien geführte Gewalt-Diskussion ist aber nicht nur vor dem Hintergrund der Polizeirepression verlogen und heuchlerisch. Gewaltverhältnisse durchziehen die gegenwärtige Weltordnung in allen Bereichen, sei es in Kriegsgebieten, bei der Entrechtung von Migrant*innen, bei Gewalt gegen Frauen*, struktureller Armut oder sonst wo (wir mögen z.B. diesen Artikel: http://www.taz.de/!5423092/). Zudem verläuft der Diskurs über 476 angeblich verletzte Polizeibeamte in eine völlig falsche Richtung. Wie Buzzfeed in einer kürzlich veröffentlichten Analyse aufzeigte, meldeten sich in der heissen Protestphase vom 06.07. bis zum 09.07. 231 Polizist*innen als verletzt, mehr als die Hälfte der verletzen Polizeibeamt*innen verletzten sich also noch bevor es zu gewaltsamen Ausschreitungen zwischen Demonstrant*innen und Polizist*innen kam. 95 Prozent aller als verletzt erfassten Beamt*innen konnten ihren Einsatz nach kurzer Zeit wieder fortführen, von den 476 angeblich verletzten Polizist*innen wurden nur 21 so schwer verletzt, dass sie auch noch am Folgetag oder länger nicht einsatztauglich waren. Was die veröffentlichten Zahlen weiter zeigen ist, dass längst nicht alle Verletzungen (viele Kreislaufprobleme oder Dehydration) durch das Einwirken von Demonstrant*innen zustande gekommen sind. Und würde man die Kriterien der Polizei des „verletzt seins“ auf die Demonstranten anwenden, würde sich ein Bild von mehreren tausend, zum Teil schwer Verletzten, abzeichnen. Durch bewusstes Beschönigen von falschen Zahlen hat die Polizei hier offen gezeigt, dass sie in erster Linie für den Erhalt dieses ausbeuterischen Systems steht und nicht für den Schutz von Bürger*innen und deren Rechte.
Trotzdem ist es nötig kurz auf unser Verhältnis zur Gewalt einzugehen. Gewalt kann für uns nur Teil linker Politik sein, wenn sie vermittelbar, auf ein klares progressives Ziel ausgerichtet und verhältnismässig ist. Militanz zum Selbstzweck lehnen wir ab. Im Kontext der Proteste gegen den G-20 Gipfel gab es viele Momente von disziplinierter Massenmilitanz, etwa bei den Blockadeaktionen beim Hafen und in der Roten Zone. Die Protestierenden durchbrachen Polizeiblockaden, erhielten Sitzblockaden trotz Wasserwerfereinsatz, Pfefferspray und knüppelnder Polizei aufrecht und liessen sich von der Polizeigewalt weder provozieren noch einschüchtern.  Einzelne Aktionen überschritten den Rahmen von politisch vermittelbarer Militanz allerdings klar, das Anzünden von Familienautos oder Angriffe auf Wohnhäuser sind niemals zielführend. Gleichzeitig bot die Dynamik der Ereignisse, etwa im Schanzenviertel, vielen vor allem jungen Menschen ein Ventil zum kurzzeitigen Ausbruch aus der alltäglichen Machtlosigkeit. Es wird von uns daher keine Distanzierung geben, wenn sich der Frust, die Wut, die Perspektivlosigkeit der Unterdrückten in gewaltsamen Aktionen äussert, die politisch nicht zielführend sind. Es bringt niemandem etwas, wenn wir als Linke in die heuchlerische, moralisierende Gewaltkritik der bürgerlichen Medien einstimmen und diese so legitimieren. Wir dürfen aber auch nicht im Namen einer falschen Solidarität von der strategischen Diskussion zurückschrecken, wo die Grenzen der Vermittelbarkeit und politischen Sinnhaftigkeit von militanten Aktionen liegen und wo die „Militanz“ zum Selbstzweck verkommt. Solidarität muss Raum für gegenseitige Kritik und Selbstkritik bieten können.  Darüber hinaus ist es dann die Aufgabe der Linken in Erinnerung zu rufen, wo wirklich Gewalt angewandt wird: nicht hinter den Barrikaden in Hamburg, sondern wenn Trump Afghanistan bombardiert, Erdogan kurdische Städte in Schutt und Asche legt oder die EU das Mittelmeer in einen Friedhof verwandelt. Rufen wir uns zudem nochmals in Erinnerung: Der Protest gegen den G20 Gipfel war, entgegen den Darstellungen in den Medien, vielseitig, bunt und kreativ – und zum allergrössten Teil gewaltlos.

Bilanz & Perspektive

Mit den G20 flammten einige eingeschlafene Antiglobalisierungsströmungen wieder auf, geprägt waren die Proteste aber eher von neueren Bündnissen wie zum Beispiel das der Interventionistischen Linken. Auch wenn der Widerstand rund um die G20 kein zweites Seattle heraufbeschwören konnte, verzeichnen wir die breite Mobilisierungsarbeit im Vorfeld und die Proteste rund um den Gipfel als gelungen. Von älteren Genoss*innen hörten wir nicht selten, wie ansteckend die Energie der Protestierenden war. Dieser G20-Gipfel bzw. die Proteste dazu boten der Linken wieder mal eine Gelegenheit zusammenzustehen und gemeinsam für eine Sache zu kämpfen. Gruppierungen aus den unterschiedlichsten Spektren und Zusammenschlüssen fanden ihren Weg nach Hamburg. Für sie alle war klar, dieses Treffen der Neoliberalen und Autokraten, die für so viel Leid auf dieser Welt verantwortlich sind, darf nicht ohne eine angemessene Reaktion über die Bühne gehen. Mit vielen unterschiedlichen Aktionsformen sollte den Teilnehmer*innen und Veranstalter*innen gezeigt werden, dass wir ihre Welt nicht akzeptieren. Dennoch war die Mobilisierung grösstenteils innereuropäisch geprägt. Gruppierungen aus anderen Teilen der Welt, die direkt unter den Beschlüssen dieser neoliberalen Agenda zu leiden haben, waren leider zu wenig sichtbar. Nun gilt es vor allem die aufgeflammte Energie durch den entstandenen Elan der Proteste, die neugeknüpften Kontakte und die vielen jungen Menschen, die durch dieses Ereignis politisiert wurden, zu nutzen und unsere Kämpfe weiter zu verbinden, zum Beispiel bei den Kohlegruben-Blockaden von «Ende Gelände» Ende August oder während der UN-Klimakonferenz im November in Bonn.

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