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G20: Wie weiter nach den Gipfelprotesten in Hamburg?

In Hamburg hat am 7. und 8 Juli 2017 der G20-Gipfel stattgefunden. Die Sicherheitsvorkehrungen der deutschen Polizei waren immens, ebenso der Widerstand gegen das Treffen der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer. Was nun insgesamt vor allem hängen zu bleiben scheint, sind Bilder der Zerstörung. Wir versuchen nachfolgend eine erste Einordung und kritische Beurteilung der Gipfelproteste in Hamburg. Weil auf es auf solch kontroverse Ereignisse keine einfachen und eindeutigen Antworten geben kann, werden wir in den folgenden Tagen noch weitere Statements und Analysen veröffentlichen. (Red.)

von BFS Zürich

Der Gipfel und seine Forderungen

Das war jetzt also dieser Gipfel in Hamburg. G20. Vertreter*innen der 19 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer und der EU haben sich für zwei Tage getroffen und neben kulturellen Aktivitäten (Besuch der Elbphilharmonie, Bootsfahrten auf dem Rhein und City-Tours mit schwarzen Audis) haben sie auch einige angeblich dringliche Probleme der Welt besprochen.
Im Vordergrund der Bilanz des Gipfels stehen jedoch nicht mehr die eigentlichen Themen des G20-Treffens, sondern die Gewaltausschreitungen im Schanzenviertel. Diverse Forderungen werden nach diesen zwei Tagen laut:

  1. Eine europäische Extremistenkartei
  2. Schliessung aller linker Kulturzentren
  3. Rock gegen Links
  4. Mehr Polizei
  5. Mit Distanzwaffen ausgerüstete Polizei

Dabei fielen diese Forderungen natürlich nicht vom Himmel. Sie kommen aus der Situation heraus. Eine Situation, die in den letzten Tagen mit den Stichworten „1933“, „Bürgerkrieg“, „Vernichtung“ und „Terror“ umschrieben wurde. Es sind Forderungen, die, ach ja, das hätten wir fast vergessen, natürlich nicht von den Teilnehmer*innen des Gipfels gestellt werden, zumindest nur von den allerwenigsten.
Stattdessen sprechen jetzt Polizeiverantwortliche, Innenminister*innen, selbsternannte Extremismusexpert*innen, ja eigentlich jede und jeder, die oder der sich selbst ein wenig gesellschaftlichen Einfluss anmasst, über eines: Die Gewalt der G20-Gegner*innen.

Die Illegitimität der G20

Dabei ist die Gegnerschaft zum G20 eigentlich ganz vernünftig. Da braucht man noch nicht einmal die politische Ökonomie marx’scher Prägung in ihren Grundzügen verstanden zu haben, um das Treffen mindestens in Teilen als verwerflich zu empfinden. In Putins Russland wird jede Opposition von den skrupellosen Profiteur*innen gnadenlos verfolgt. Erdogan und seine Türkei sind nicht nun in der Autokratie angekommen, ganze Städte wurden in den kurdischen Gebieten im letzten Jahr dem Erdboden gleichgemacht, zehntausende Menschen getötet. Die Gastgeberin Merkel ist seit Jahren für gnadenlose Politik gegenüber den südeuropäischen Ländern verantwortlich und mischt mitunter fröhlich mit im weltweiten Kriegsrummel, indem Deutschland beispielsweise Waffen nach Saudi-Arabien und in die Türkei liefert und auch Einsätze über Syrien fliegt. Von Trump oder saudischen Scheichs fangen wir noch gar nicht an.
Dabei sind ja nicht nur die Teilnehmenden das Problem, die grundsätzliche Konstellation der G20 muss einen Grossteil der Weltbevölkerung eigentlich vor den Kopf stossen. Wer hat die 20 Länder ausgewählt? Was haben ihre Beschlüsse für eine Wirkung? Und wie lässt sich rechtfertigen, mehrere hundert Millionen in ein einziges Treffen zu stecken?
Oft kommt dann das Argument, die Staaten der Welt müssten sich ja irgendwie koordinieren. Nur gut gibt’s dafür eigentlich die UNO. Oder ein weiterer Argumentationsstrang, der die Illegitimität der Proteste gegen den G20-Gifpel aufzeigen soll, ist folgender: Wer den Gipfel verhindern will, der ist undemokratisch, schliesslich sei es wichtig, dass man miteinander reden könne und da sei es auch nicht schlecht, dass da problematische Länder mit dabei seien, die dann ja eventuell zur Vernunft gebracht werden könnten und überhaupt, was ist denn am Austausch dieser Personen so schlimm, die reden doch nur.
Ja wenn sie doch nur reden würden, die Kriegstreiber*innen, die Waffenverkäufer*innen, die Advokat*innen von Austerität und Sozialabbau! Stattdessen wird in diesen Ländern, aus denen sich die Vorsteher*innen nun so freundlich anlächeln, fleissig geköpft, gebombt, geschossen, um nur mal die offensichtliche Gewalt anzusprechen, ganz zu schweigen von der strukturellen, von der Kindersterblichkeit in Kriegsländern, von der Armutsquote in Griechenland.

Wie ist man nun dagegen?

Das Tolle, aber auch Herausfordernde an Mobilisierungen wie dieser gegen die G20 ist, dass sie sehr breit angelegt sind und viele verschiedene Gruppen aus unterschiedlichen Strömungen und Traditionen der Linken ansprechen. Toll daran ist, dass sich die verschiedenen Gruppierungen normalerweise auf einen gewissen, möglicherweise auch nur negativen Konsens einigen können und so über einen begrenzten Zeitraum im selben Rahmen agieren.
Das Herausfordernde daran ist, dass sich die Ziele der Beteiligten oftmals stark unterscheiden. Gleichzeitig, und das hat man in Hamburg gemerkt, sind inhaltliche und strategische Diskussionen sehr schwierig zu führen. Das Mass, nach dem die Proteste von der Bewegung beurteilt wurden, war dann meist einfach der Erfolg von Blockaden, wie viele Konvois effektiv behindert werden konnten oder wie stark in das Programm der G20 eingegriffen werden konnte. Natürlich sind dies auch Kriterien des Erfolgs, beziehungsweise des Misserfolgs. Doch sollten wir uns auch die Frage stellen, ob unsere Kritik an der Politik der G20 vermittelt werden konnte und wie überzeugend unsere Alternativen waren.
Wir sollten nie vergessen, dass Hamburg keineswegs der letzte Showdown war, sondern ein kleines Glied in der Kette des Projekts des Wiederaufbaus einer antikapitalistischen Linken. Man bekam in Hamburg durchaus immer wieder das Gefühl, dass es sehr oft um Selbstinszenierung und Selbstbestätigung ging. Die Hoffnung, Hamburg könne der Linken einen neuen Sprung nach vorne verschaffen, hat sich wohl nicht bewahrheitet, nicht nur wegen der zu erwartenden Repressionswelle. Hamburg hat vielmehr die allgemeine Lage der Linken illustriert, sowohl deren Stärken und deren Schwächen offenbart. Diese offen, realistisch und kritisch zu diskutieren, ist Aufgabe der Linken.

Von Gewalt als Strategie und spontaner Entzündung

Zu einer beträchtlichen Schwäche gehört, dass weiterhin grosse Teile der radikalen Linken eine erstaunliche Massenfeindlichkeit aufweisen. In gewissen Kreisen der Bewegungslinken ist es durchaus üblich, Bezüge zur lohnabhängigen Mehrheit der Bevölkerung – man könnte auch sagen zur Arbeiter*innenklasse – weder zu suchen, noch für erstrebenswert zu halten. In direkter Konsequenz führt das dann zu Bildern, die wir gesehen haben: Dutzende Personen, die sich gut organisiert durch Quartiere wälzen, Autos anzünden, Scheiben einschlagen, Parolen sprayen. Nicht, dass Autos nicht ersetzbar wären, aber es kommt halt bei weiten Teilen der Bevölkerung schon nicht sehr gut an und ist weder bei Blockupy [Proteste gegen die Austeritätspolitik der Europäischen Zentralbank in Frankfurt] noch bei G20 mit dem Aktionskonsens vereinbar.  Die Frage ist halt, ob einen solche Dinge interessieren. Wir sind der Meinung, dass es unbedingt interessieren muss.
Dass es dann am Freitagabend, 7. Juli 2017, zu Bildern kam, wie wir sie alle gesehen haben, ist aber nicht nur auf diese Strategien zurückzuführen. Klar, da haben einige Gruppen in völlig perspektivloser Manier die Auseinandersetzungen so geführt, dass sich dadurch ein Raum öffnete, der dann von vielen Menschen zu eigenen Übertritten genutzt wurde. Die Situation war in höchstem Grad chaotisch. Neben linken Kleingruppen haben sich scheinbar auch viele Jugendliche aus Hamburg an den Ausschreitungen beteiligt. Eigentlich ist dies der Kern der Strategie vieler autonom agierender Linker. So perspektivlos wir das auch beurteilen. Es gibt zudem Hinweise, dass sich auch Rechtsextreme an den Auseinandersetzungen beteiligten und nach den Ereignissen von Heiligendamm 2007 und der Schussabgabe durch einen Zivilpolizisten am Freitag in Hamburg ist auch hier wieder davon auszugehen, dass Agents Provocateurs im Einsatz waren.
Viel entscheidender aber dürfte gewesen sein, dass sich die Gewalt nicht da auf einmal entzündete. Ob bewusste Strategie oder komplett inkompetent sei mal dahingestellt – die Polizei hat schon vor dem Gipfel begonnen, die Situation zu eskalieren. Am Gipfel selbst zeigten die 20’000 Polizist*innen dann, wofür man sie nach Hamburg geholt hat. Sie kontrollierten, filzten, gefährdeten, prügelten, quälten, verhafteten und verletzten Tausende. Wasserwerfer waren gleich zu dutzenden da in Hamburg, es gibt wohl nur wenige der zehntausenden Demonstrant*innen, die nicht mindestens einmal den Tonfa-Schlagstock oder Pfefferspray abbekamen. Damit schufen sie das, was sie vielleicht wollten, vielleicht einfach nicht kapierten: Hunderte zusätzliche Personen, die ihren Protest dann inhaltlich und in der Praxis in erster Linie auf die Polizei ausrichten mussten. Dasselbe mit den Medien. Von Gewalt wird geschrieben, aber nur von der unmittelbaren. Nicht von der abstrakten, strukturellen der Klimaleugner*innen und Überwachungsfantast*innen.

Lichtblicke und wie es weitergeht

Dabei hätte das eigentlich nicht so kommen müssen. Die massive Polizeirepression hat für eine gewisse Zeit die Vermittelbarkeit vieler Aktionen gegen den G20-Gipfel massiv erhöht. Sogar strategisch gelegte Strassenbarrikaden oder die Selbstverteidigung bei versuchten Verhaftungen wurden beispielsweise in der Hamburger Bevölkerung nicht mehr als verwerflich wahrgenommen. Es zeigt uns, dass die Vermittelbarkeit von Gewalt, und nicht deren Selbstzweck, in unsere Abwägungen zur Wahl unserer Mittel einfliessen muss.
Tausende Menschen beteiligten sich am Freitagmorgen, 7. Juli 2017, an den dezentralen Blockadeaktionen. Insgesamt nahmen viel mehr als die von der Polizei im Vorfeld genannten 30’000 Menschen an den verschiedenen Aktionen teil. Nicht nur unter den Protestierenden war die Hilfsbereitschaft und die gegenseitige Unterstützung beeindruckend. Auch die Solidarität der Anwohner*innen war unglaublich: Immer wieder wurden die Demonstrant*innen beispielsweise bei Blockadeaktionen mit Essen, Wasser, Glace und ermutigenden Worten empfangen. Auch in einem Industriequartier am Rande der Blauen Zone gab es aus den Betrieben viel Applaus für die gut organisierten und entschlossenen Finger, also die verschiedenen Demonstrationsteile, die das Gipfeltreffen erheblich stören konnten.
An der Welcome to Hell-Demo am Donnerstagabend, 6. Juli 2017, nahm die Polizei klar Tote in Kauf, indem sie den Zug ohne wirklichen Grund brutal auflöste, wobei es Bilder gab, die etwa an die Massenpanik mit mehreren Toten an der Loveparade in Duisburg 2010 erinnerten. Doch auch hier waren die Leute nicht etwa eingeschüchtert, sondern sofort bildeten sich neue, wütende und lautstarke Demonstrationen. Sofort wurden die Aktionen dezentral, sofort verlor die Polizei die Kontrolle und die Taktik der Deeskalation durch Machtdemonstration scheiterte kolossal. Es waren diese Erfahrungen, diese unglaubliche Solidarität, welche eben auch für die Tage in Hamburg und die Stärke des Protests stehen und auch an der Grossdemonstration am Samstag, 8. Juli 2017, von den hunderttausend Teilnehmer*innen zum Ausdruck gebracht wurde. Wenn es dann das nächste Mal gelingen sollte, einen Hafen wie den in Hamburg nicht einfach zu blockieren, sondern mit den dort beschäftigten Menschen zu bestreiken, würde sich eine weitere, durchaus spannende Perspektive für die kommenden Gipfelproteste bieten.

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1 Kommentar

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