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Krise in Venezuela: Scheinheilige Opposition und rechte Restauration

Wer die derzeitige Krise in Venezuela verstehen will, sollte sich vergegenwärtigen, weshalb der Chavismus entstanden ist, wofür er steht und vor allem welche Interessen die Opposition vertritt, die derzeit gegen die Regierung Maduro mobilmacht. Der Vorwurf, die momentane ökonomische und humanitäre Misere sei das Produkt von Misswirtschaft und Korruption von Seiten der Regierung, unterschlägt die Rolle, die das Grossbürgertum als Hauptstütze der Opposition zu verantworten hat. Die antikapitalistische Linke soll gewiss nicht darauf verzichten, den Chavismus massiv zu kritisieren. Bedingungslose Solidarität wäre blauäugig und würde von einem verkürzten Imperialismusverständnis zeugen. Doch wenn die rechte, neoliberale Opposition versucht, die Macht an sich zu reissen, gilt es auf der Seite der überwiegenden Mehrheit der venezolanischen Bevölkerung zu stehen, welche (oft als informell Beschäftigte) täglich ums Überleben kämpft. Es geht nicht um Solidarität mit der korrupten chavistischen Elite, sondern um die Verteidigung diverser sozialer Errungenschaften und Umverteilungsmassnahmen seit 1999 oder was davon noch übrig ist.
Von BFS Zürich und BFS Basel

Geschichte des Chavismus

Die Austeritätspolitik, mit welcher der Internationale Währungsfonds (IWF) seit 2009 die Staaten Südeuropas in die Mangel nimmt, wurde in den 1980er Jahren bereits in Ländern Lateinamerikas und Afrikas angewandt. Eines der hoch verschuldeten Länder, welches die vermeintliche Hilfe des IWF in Anspruch nehmen musste, war Venezuela. Der vormals gemässigt linke Präsident Carlos Andres-Perez beschloss 1989 aufgrund des Drucks durch den IWF die Landeswährung abzuwerten. Unter anderem wurden die Preise für den öffentlichen Verkehr massiv erhöht. Diese Massnahmen führten zu einem Aufstand der unter dem Namen Caracazo in die Geschichte einging. Zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte Venezuelas erhoben sich die Massen, um gegen die eklatanten Klassengegensätze zu protestieren. Wie alle Gesellschaften Lateinamerikas ist auch Venezuela durch ein beispielloses Gefälle zwischen arm und reich gespalten. Eine kleine, meist weisse, spanischstämmige Bourgeoisie lebt auf westeuropäischem Lebensstandard. Für Millionen Venezolaner*innen bleiben nur Gelegenheitsjobs und prekäre Wohnbedingungen in den barrios populares (despektierlich bei uns oft als Slums bezeichnet). Der Caracazo kann als Ursprung der sozialen Bewegung bezeichnet werden, welche 1999 Hugo Chavez‘ Wahl zum Präsidenten ermöglichte (was er bis zu seinem Tod 2013 auch blieb).
Man könnte einen weiteren Artikel zur Kritik an der Institutionalisierung der sozialen Bewegung durch die Regierungsübernahme verfassen, so wie es auch in mehreren andern Ländern Südamerikas geschehen ist. Doch es gilt anzuerkennen, dass das von Chavez angeführte Movimento Quinta Républica (Bewegung für eine fünfte Republik; diese ist 2007 in die Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas PSUV übergegangen) die erste venezolanische Regierung stellte, die nicht die Interessen der spanischstämmigen Elite vertrat. Chavez (und heute Maduro) mögen vieles im Interesse des eigenen Machterhalts gemacht haben. Doch ihre Bewegung war die erste, die sich in Venezuela das Ziel setzte, der gesamten Bevölkerung Bildung, Gesundheitsvorsorge, ausreichend Lebensmittel usw. zugänglich zu machen. Der von Chavez ausgerufene „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ ist nicht das, was sich Marxist*innen unter einer sozialistischen Gesellschaft vorstellen. Doch es wäre heuchlerisch, sich als Linke gegen diesen Wohlfahrtsstaat zu stellen, der seit 1999 Millionen Menschen aus der Armut befreit hat.
Die sozialen Umverteilungsmassnahmen wurden fast ausschliesslich durch den Erlös der Erdölförderung finanziert. Den Staatshaushalt auf eine einzige Einnahmequelle abzustützen – was den Chavist*innen oftmals angekreidet wird – war sicherlich nicht klug. Doch, dass durch Spekulation mit Erdöl und anderen Rohstoffen und damit einhergehenden drastischen Preisschwankungen, ganze Volkswirtschaften kollabieren, ist nicht die Schuld der venezolanischen Regierung. Es ist einer der Mängel unseres Fehlerhaften kapitalistischen Wirtschaftssystems der freien Märkte. Wie heute war übrigens auch schon in den 1980er Jahren der Einsturz des Erdölpreises auf dem Weltmarkt mit ein Auslöser für die Wirtschaftskrise. Die heutige rechte Opposition war damals mit der Partei COPEI staatstragend und hatte die Krise mit zu verantworten.

Wofür steht die Opposition?

Angeführt wird die Opposition heute von der rechten Partei Primero Justicia (Gerechtigkeit zuerst), welche als Nachfolgering von COPEI bezeichnet werden kann. Aushängeschild der Opposition ist der aus einer wohlhabenden Unternehmerfamilie stammende Henrique Capriles. Er kandidierte 2012 und 2013 erfolglos für die Präsidentschaft. Primero Justicia unterstützte 2002 den Militärputsch gegen Hugo Chavez. Der Putsch 2002 war die Reaktion des Grossbürgertums auf die Verstaatlichung der venezolanischen Erdölvorkommen. In einer perfiden, durch private TV-Sender verbreiteten Propagandakampagne (unter anderem wurde behauptet, Hugo Chavez und Fidel Castro hätten eine Liebesbeziehung, um konservative Venezolaner*innen gegen ihren Präsidenten aufzuwiegeln) wurde zu Protesten gegen die Chavist*innen aufgerufen. Als es damals zu riesigen Märschen gegen und auch für die Regierung kam, wurde von unbekannten Heckenschützen in die Pro-Chavez-Demo geschossen. Einige Chavist*innen schossen zurück. (In Venezuela kommt auf vier Einwohner*innen eine Feuerwaffe.) Die privaten TV-Sender stellten dies so dar, als hätte ein Chavist in die friedliche Anti-Chavez-Demo gefeuert, was schlicht Manipulation war. Unter diesem Vorwand wurde gegen Chavez geputscht. Der Putsch 2002 scheiterte allerdings nach wenigen Tagen – aufgrund der Loyalität der Mehrheit von Militär und Polizei zu Chavez. Henrique Capriles, damals Bürgermeister eines Bezirks von Caracas, war in einen Angriff auf die kubanische Botschaft durch die Putschisten verwickelt.
Die Opposition will damals wie heute vor allem eines: Einen freien Markt, um das Erdöl möglichst direkt auf dem Weltmarkt zu verkaufen, ohne dass Profite abfliessen, die an die Armen umverteilt werden. Würde die Opposition die Regierungsgeschäfte übernehmen, würde sich die Lage für die überwiegende Mehrheit der Venezolaner*innen nicht verbessern, sondern eher noch verschärfen. Vielleicht würde die Wirtschaft wieder wachsen und es gäbe wieder volle Regale in den Supermärkten. Doch das nützt auch nur jenen, die sich Supermarktprodukte leisten können. Und das sind in Lateinamerika der Mittelstand und die herrschende Klasse. Vergleichbare, neoliberale Regierungen in Kolumbien oder Argentinien investieren nicht einen Cent in Sozialprogramme.
Gewiss gibt es in der Opposition auch viele kleinbürgerliche und mittelständische Leute sowie Arme, welche die soziale Misere wütend macht. Doch zur Überwindung der Mangelwirtschaft bräuchte es nicht weniger, sondern noch viel mehr Umverteilung.

Die Opposition hat die Wirtschaftskrise mit zu verantworten

Neben dem eingestürzten Erdölpreis auf dem Weltmarkt sind sicherlich auch Korruption und fehlerhafte Verteilung durch die Regierung für die Krise verantwortlich. Doch die rechte Opposition steckt ebenfalls mitten im Sumpf der Korruption. Im Grenzgebiet zu Kolumbien floriert der Schmuggel mit staatlich subventionierten Lebensmitteln. Leider wird von den bürgerlichen Medien verschwiegen, dass Unternehmer*innen, mit dem Ziel, die Regierung zu diffamieren, durch Boykottaktionen gezielt eine mangelnde Güterversorgung herbeiführen. Die globale Mineralölindustrie boykottiert den staatlichen Erdölkonzern Petroleos de Venezuela, weswegen es an Ersatzteilen mangelt. Die Förderanlagen sind heute fast völlig zum Erliegen gekommen.

Versäumnisse der chavistischen Regierung und die Opposition von links

Die heutige PSUV-Regierung unter Maduro ist voller Widersprüche, wobei die rechte Opposition natürlich um keinen Deut besser ist. Dies vergegenwärtigt die Ausweglosigkeit der heutigen Lage. Seit einem Jahrzehnt hat sich eine wohlhabende Schicht von PSUV-Funktionär*innen im Staatsapparat eingenistet, die mit den Wechselkursen spekuliert und von der korrupten Import- und Schmuggelwirtschaft genauso profitiert, wie die neoliberale Opposition. Die PSUV unter Chavez und später unter Maduro hat es versäumt dazu überzugehen eine sozialistische Demokratie zu errichten. Die korrupte Parteibürokratie hat daran auch gar kein Interesse.
Unter der heutigen Mangelsituation leiden vor allem die Bäuer*innen, die Indigenen, die Arbeitslosen usw. Von den in den Anfangsjahren des Chavismus bemerkenswerten sozialen Errungenschaften sind heute nur noch Bruchstücke übrig.
Die Kritik am Chavismus, sowie anderen progressiven Regierungen (Morales in Bolivien, Correa/Moreno in Ecuador usw.) kommt nicht nur von rechts, sondern auch von links. Neben der neoliberalen Primera Justicia stehen auch viele linke Organisationen in Opposition zum Chavismus. Es gibt linke, gewerkschaftliche Strömungen, die unter der PSUV-Führung leiden. Die Strömung Marea Socialista zum Beispeil wurde 2014 aus der PSUV ausgeschlossen. Auch der Partido Socialismo y Libertad (Partei Sozialismus und Freiheit) ist zu nennen, eine syndikalistische und trotzkistische Gruppierung. Diese Gruppierungen haben schon vor Jahren gewarnt, dass nur eine Demokratisierung des Prozesses in Venezuela und eine Radikalisierung der sozialen Massnahmen aus der Krise führen können.
Hinzu kommen auch einige Intellektuelle wie Roland Denis oder Edgardo Lander, beides ehemalige Minister unter Chavez, die beide seit Jahren die ökonomische Politik der PSUV kritisieren. Edgardo Lander hat auch immer hervorgehoben, dass eine andere Wirtschaftspolitik, jenseits von Erdölexporten, möglich gewesen wäre.

Wandel ja, Restauration nein!

Die Opposition und die bürgerlichen Medien im Westen schwadronieren von Diktatur. Maduro mag durchaus einen autoritären Führungsstil haben, der weit von sozialistischen Idealen entfernt ist. Doch die Rechte hat weder in Lateinamerika, noch sonst irgendwo die Legitimation, von Diktatur oder Putsch zu reden, solange sie dieses Mittel zur Machtergreifung selbst immer wieder benutzt. Die chavistische Politik hat massive Mängel, sie ist autoritär und korrupt. Allein letzten Donnerstag wurden drei Anti-Chavismus-Demonstranten ermordet. Dennoch ist auch die bürgerliche Opposition Schuld an der aktuellen Lage, weil sie alles unternimmt, um die Regierung zu diskreditieren und zu destabilisieren. Es gilt, die sozialen Errungenschaften, sofern sie noch vorhanden sind, zu retten, gleichzeitig aber massive Kritik am Chavismus zu formulieren. In Venezuela – wie auch in anderen lateinamerikanischen Staaten, die von Rechten regiert werden – braucht es einen tiefgreifenden sozialen Wandel. Doch wenn die bourgeoisen, alten Eliten in Form der Opposition die politische Macht ergreifen wollen, gilt es dies entschieden zu verhindern! Denn dies würde zu einer Restauration der zutiefst ungleichen venezolanischen Gesellschaft führen, so wie sie vor der Präsidentschaft Chavez bestand.
Für die Verteidigung der verbliebenen sozialen Errungenschaften in Venezuela!
Solidarität mit den lohnabhängigen Venezolaner*innen!
Das Bild stammt von Toni Keppeler (WOZ) und symbolisiert die Krise der venezolanischen Erdölindustrie.

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