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Die Verheerungen der Wirtschaftskrise in Europa

Die Wirtschaftskrise, die mit der Finanz- und Immobilienkrise 2007/08 eingeläutet wurde, ist noch nicht vorbei, hat aber schon heute Verheerungen in der sozialen Landschaft hinterlassen. Der folgende Artikel befasst sich mit diesen sozialen Auswirkungen und geht dann auf denkbare Alternativen zu der neoliberalen Politik in Europa ein.

von Michel Husson

Will man die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf den Beschäftigungssektor mit einem Satz umreißen, genügt der Hinweis, dass gegenwärtig genauso viele Menschen einen Arbeitsplatz haben wie zu Beginn der Krise.

Augenscheinliches …

In den letzten acht Jahren wurde in der Eurozone nicht eine zusätzliche Stelle geschaffen. Insofern verwundert es nicht, dass die Arbeitslosenrate heute bei 10 % liegt und damit fast zwei Punkte höher als damals. Die Werte hinter diesem Durchschnittswert klaffen natürlich weit auseinander: Während in Griechenland und Spanien die Quote bei über 20 % liegt, ist sie in Deutschland und Großbritannien unter 5 %. Wichtiger noch sind die strukturellen Umwälzungen infolge der Krise.
Hier wären zunächst die demographischen Änderungen zu nennen, dass nämlich die Gesamtbevölkerung in den am stärksten gebeutelten Ländern – Spanien, Portugal und Griechenland – nach 2009 zurückgegangen ist. In erster Linie sind dabei die Migrationsströme ausschlaggebend: Mehr Menschen wandern aus, wohingegen die Einwanderungszahlen stagnieren. Es gibt jedoch noch einen weiteren Indikator, den man eigentlich mit der Krise kaum in Zusammenhang bringt, nämlich die Geburtenzahl. Hier gab es in Spanien und Griechenland eine verblüffend gleichgerichtete Entwicklung: Einen Geburtenrückgang bis Mitte der 1980er Jahre mit nachfolgender Stabilisierung und ab 2000 eine Zunahme bis … mit Ausbruch der Krise die Geburtenzahl wieder drastisch zurückging.
Diese beiden Faktoren tragen dazu bei, die betroffenen Länder auf kurze und auf lange Sicht zurückzuwerfen, weil durch den Verlust qualifizierter junger Arbeitskräfte der Teufelskreis der Austerität noch zunimmt und à la longue das Rentensystem aus dem Gleichgewicht gerät.

…und Untergründiges

Arbeitslosen- und Beschäftigungszahlen verdecken den Blick auf weniger augenfällige Entwicklungen, die jedoch vorwiegend unwiderruflichen Umbrüchen entsprechen. Die bloße Arbeitslosenquote sagt weniger über die Jugendarbeitslosigkeit aus als der Blick auf diejenigen unter den 15- bis 29-jährigen, die weder arbeiten noch in Ausbildung oder Schule/Universität sind, die sog. NEET (Not in Education, Employment or Training). Diese Kategorie ist zwischen 2007 und 2013 von 13,2 % auf 15,9 % angewachsen und danach wieder leicht gefallen (14,8 % in 2015). Wieder liegen die Zahlen in den am meisten krisengebeutelten Ländern deutlich höher (Italien mit 25,7 %, Griechenland 24,1 % oder Spanien 19,4 %). Die Langzeitarbeitslosigkeit ist von 2008 bis 2013 angestiegen und geht seither langsamer zurück als die Gesamtarbeitslosigkeit. Die Krise hat also eine zweifache Langzeitwirkung hinterlassen: Einerseits hat sie einen Teil der ArbeiterInnen – zumeist die älteren – dauerhaft aus dem Erwerbsleben ausgeschlossen, andererseits finden Jugendliche schwerer eine Stelle als zuvor.
Anfangs diente die Arbeitsdauer als Stellschraube, um zwischen Konjunktur, Beschäftigung und Arbeitslosigkeit zu vermitteln. So konnten durch die Verringerung der Arbeitszeit in verschiedener Ausprägung (Kurzarbeit, Tarifverträge zur Beschäftigungssicherung, Teilzeitarbeit etc.) die unmittelbaren Auswirkungen der Krise auf den Arbeitsmarkt aufgefangen werden. Dies war freilich bloß eine „sozialstaatliche“ Geste, die auch schnell wieder zurückgenommen wurde, sobald sich eine leichte wirtschaftliche Erholung abzeichnete. Arbeitszeitverkürzung gilt wieder als bloße konjunkturell bedingte Ausnahme und nicht als universell gültiges, strukturelles Instrument, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Die „Reformen“ im Gefolge der Krise zielen sogar auf eine stärkere Differenzierung der Arbeitszeit, wobei in den wettbewerbsstarken Sektoren länger gearbeitet werden soll und andererseits mehr 450 Euro-Jobs entstehen sollen.
Teilzeitarbeit ist in der Tat das Mittel, mehr Arbeitsplätze für die Bewältigung desselben Umfangs an Arbeitsstunden zu schaffen. Insofern verwundert es nicht, dass die Teilzeitarbeit sprunghaft zugenommen hat, gerade in den am meisten von der Krise betroffenen Ländern. In Italien ist die Zahl zwischen 2007 und 2015 von 13,4 % auf 18,3 % gestiegen und in Spanien von 11,4 % auf 15,6 %. Diese Entwicklung stellt einen sozialen Rückschritt dar, zumal es sich sehr oft um unfreiwillige Teilzeitarbeit handelt – in Griechenland gar in 68,8 % der Fälle, in Italien in 63,9 % und in Spanien in 63,4 % – und in diesen Ländern parallel dazu die Kurzzeitverträge mit weniger als 15 Wochenstunden noch mehr zugenommen haben.
Da es mehrheitlich Frauen sind, die in Teilzeit arbeiten, bedeutet dies, dass diese Zunahme einen weiteren strukturellen Umbruch auf dem Arbeitsmarkt mit sich bringt. Zwischen 2008 und 2015 ist die Zahl der Vollzeitarbeitsplätze in der EU um 7,6 Millionen gesunken, wovon die knappe Hälfte – nämlich 3,7 Millionen – durch neue Teilzeitstellen kompensiert worden ist. Zugleich ist die Zahl männlicher Stelleninhaber um 4,7 Millionen zurückgegangen und die der weiblichen um 0,8 Millionen gestiegen. Demnach hat der Frauenanteil auf dem Arbeitsmarkt während der Krise weiter zugenommen, was aber weitgehend durch die Zunahme der Teilzeitarbeit bedingt ist. Die Krise hat also wieder einmal gezeigt und sogar noch verstärkt, dass Teilzeitarbeit in erster Linie „Frauensache“ ist.

Wachsende Kluft auf dem Arbeitsmarkt …

Durch die Krise ist die Tendenz zur Segmentierung des Arbeitsmarktes, wo sich Billiglöhner und qualifizierte Gutverdiener gegenüber stehen, noch verstärkt worden. Dies zeigt eine kürzlich durchgeführte Studie über den EU-Arbeitsmarkt[1], in der die Entwicklung der Zahl der Arbeitsplätze entlang unterschiedlicher Einkünfte – linear unterteilt in fünf Kategorien – und unterschiedlichen Status’ – in Vollzeit, selbständig, in Teilzeit oder befristet Beschäftigte – zwischen 2011 und 2015 dokumentiert wird.
Dabei zeigen sich vier qualitativ bedeutsame Veränderungen:

  1. Die Schere auf dem Arbeitsmarkt nimmt zu, indem nur die jeweils unteren bzw. oberen 20 % einen deutlichen Stellenzuwachs verzeichnen.
  2. Die Prekarisierung schreitet voran, indem in allen Kategorien außer den 20 % der Bestbezahlten die Vollzeitstellen zurückgegangen sind und in der untersten Kategorie der Stellenzuwachs nur in Form von Teilzeit- und befristeten Stellen stattgefunden hat.
  3. Die Einkommensunterschiede nehmen zu, da unter den oberen 20 % hauptsächlich Vollzeitstellen neu entstanden sind.
  4. Die Zahl der Selbständigen sinkt, außer bei den oberen 20 %.

…und bei den Löhnen

Der Anstieg der Reallöhne ist natürlich durch die Krise ins Stocken geraten, aber nicht gänzlich entfallen. Im Durchschnitt ist die Kaufkraft zwischen 2008 und 2015 in der EU um 4 % gestiegen, wobei diese pauschale Zahl nichts über strukturelle Veränderungen aussagt: Infolge der Krise sind hauptsächlich gering entlohnte Arbeitsplätze abgebaut worden, weswegen der Durchschnittslohn gestiegen ist. Und wer seine Stelle verliert, verliert natürlich auch den Großteil seiner Einkünfte. Genauso wie hinter diesem Durchschnittswert natürlich enorme Unterschiede bzgl. der Länder stehen, wobei Griechenland mit einem Kaufkraftverlust von 17 % die Tabelle von unten anführt.
Es ist ein scheinbares Paradoxon, dass in der Krise der Anteil der Löhne an der Wertschöpfung gestiegen ist. Eigentlich ist dies aber gar nicht paradox, da im Durchschnitt weder die Lohnbremse noch der Arbeitsplatzabbau den Rückgang der Produktion vollständig ausgeglichen haben. Insofern ließe sich eher von einer „Rückkehr zur Normalität“ sprechen, dass nämlich die Löhne wieder ihr einstiges Niveau wie zu Beginn der 2000er Jahre erreicht haben.
Hinter diesem pauschalen Prozess stecken jedoch auch sektoriell bedingte Tendenzen zur Lohnspreizung, wie die unterschiedliche Lohnentwicklung in den beiden großen Wirtschaftssektoren – dem, der der internationalen Konkurrenz ausgesetzt ist, und dem, der davor „geschützt“ ist – zeigt. An anderer Stelle haben wir uns mit diesen Veränderungen im Lohngefüge ausführlich befasst und aufgezeigt, dass eine relativ gleichmäßige Tendenz zur wachsenden Diskrepanz der Löhne entlang dieser Kriterien besteht.[2]
Es gibt übrigens eine Empfehlung der EU-Kommission, die – in der ihr eigenen Diktion – von einer „notwendigen Verlagerung der Ressourcen aus den nicht austauschbaren Sektoren in die austauschbaren“ nahelegt. Mit anderen Worten genügt nicht eine „interne Abwertung“, vulgo Lohndumping, im Allgemeinen, man muss auch die „interne Parität“ zwischen den Löhnen in den beiden oben genannten Sektoren abwerten. Kurzum soll das Lohndumping besonders im sog. geschützten Sektor greifen, der nicht der internationalen Konkurrenz unterliegt. Und genau dies passiert in nahezu allen Ländern mit der Ausnahme von Schweden und Deutschland, nämlich dass die Durchschnittslöhne in den Dienstleistungssektoren hinter denen in der Industrie herhinken, wie Grafik 1 zeigt.

Diese Tendenz zur Entkopplung der Löhne zwischen den großen Wirtschaftssektoren führt dazu, dass die Mehrheit der europäischen Länder dem deutschen „Beispiel“ folgt und Lohnerhöhungen sich nicht mehr an der durchschnittlichen Produktivität der Gesamtwirtschaft orientieren, sondern an der spezifischen Produktivität jeder Branche oder gar jedes Unternehmens. Damit werden Branchen, die unter internationalem Konkurrenzdruck stehen, nicht mehr durch „exzessive“ Lohnkosten in den Dienstleistungsbereichen in Mitleidenschaft gezogen.
Die Strukturreformen, die auf die Umstrukturierung des Arbeitsmarktes zielen, sollen in erster Linie diese Entkopplung ermöglichen. Es geht darum, Tarifverhandlungen so weit als möglich zu dezentralisieren und sie am besten auf Unternehmensebene durchzuführen, um Lohnerhöhungen vom Wohlergehen der einzelnen Unternehmen abhängig zu machen. Das neue französische Arbeitsgesetz zielt in eben diese Richtung, da die meisten der dort getroffenen Vorkehrungen dazu dienen, Branchentarife durch betriebliche Vereinbarungen aushebeln zu können.
Diese Umbrüche folgen keiner spontanen Entwicklung, sondern sind Teil von Strukturreformen, die die Abläufe auf dem Arbeitsmarkt bereits nachhaltig geprägt haben. Eine Studie der EZB über die Löhne[3] ergibt demnach auch, dass 10 % der Arbeit„geber“ in Europa es inzwischen leichter finden, an der „Beschäftigungsschraube“ zu drehen als noch 2010. Besonders viele Unternehmer (30 % und mehr) teilen diese Ansicht in den Ländern, die am stärksten solche „Reformen“ über sich ergehen lassen mussten: Griechenland, Spanien oder Portugal. In gleicher Rangfolge sind sie auch über die leichtere Handhabung des Lohndumpings entzückt, die in fast allen Ländern inzwischen gilt und besonders die Neueinstellungen betrifft.
Diese Umbrüche auf dem Arbeitsmarkt gelten auch für die Tarifverhandlungen. Schon vor der Krise waren die Tarifrechte der Lohnabhängigen im Sinkflug und galten zunehmend weniger für alle gleichermaßen, indem die tariflichen Geltungsbereiche eingeschränkt und Lohnverhandlungen dezentralisiert wurden und zugleich der gewerkschaftliche Organisationsgrad zurückging.[4] Mit der Krise aber vollzog sich ein „Umbruch in der Politik“, wie Jelle Visser schreibt[5], indem der Staat von da an sehr viel stärker in die Lohnfindungsprozesse eingriff. So sind Sozialpläne als Kompromissformel aus der Landschaft weitgehend verschwunden und in den am stärksten von der Krise betroffenen Ländern sind Lohnverhandlungen „faktisch ausgesetzt“. Auch hier wieder hat die Krise die Gräben vertieft, die zwischen den paar Ländern bestehen, in denen Lohnverhandlungen einheitlich geregelt werden, und den anderen (zahlreicheren) Ländern, wo dies nicht der Fall ist, sondern „die Märkte entscheiden […] und die Einkommensunterschiede größer sind“.[6]
Dieser Schnelldurchgang zeigt, wie unterschiedlich die „Reformprozesse“ in den einzelnen Ländern vollzogen worden sind, so dass es gar nicht möglich ist, sie untereinander zu vergleichen und dabei über einen Kamm zu scheren. Was sich jedoch zweifelsfrei feststellen lässt, ist, wie verblüffend schnell die unterschiedlichen Zonen in der EU infolge der Krise auseinander gedriftet sind. Diese hat nicht alle Länder in gleicher Weise getroffen und die darauf folgende Sparpolitik fiel ganz unterschiedlich hart aus. In den Ländern des „Nordens“ wurden bereits vor der Krise vorhandene Entwicklungstendenzen nochmals forciert, während in denen des „Südens“ der Anstieg der Arbeitslosigkeit mit irreversiblen Umbrüchen auf dem Arbeitsmarkt einherging. Evident ist auch, dass das Auseinanderklaffen der Löhne zwischen den der internationalen Konkurrenz exponierten und den davor geschützten Sektoren inzwischen wohl für ganz Europa gilt und dass mit der Zunahme der Teilzeitarbeit ein dauerhafter Weg eingeschlagen wurde, der auf ein neues und im Wesentlichen dualistisches Sozialmodell hinweist.

Eine Lösung innerhalb des Systems? Fehlanzeige!

Bereits unser knapper Überblick hat gezeigt, dass die neoliberalen Arbeitsmarktreformen – und man kann dies getrost für sämtliche laufenden politischen Maßnahmen in Europa verallgemeinern – systematisch zu einem sozialen Kahlschlag geführt haben.[7] Jenseits dieser Feststellung stellt sich die Frage, ob diese Maßnahmen schlüssig und wirksam sind.
Um dies zu beantworten, muss man über die bloßen Grundlagen marxistischer Analyse hinausgehen. Denn diese besagen, dass angesichts der Wirtschaftskrise Sparpolitik und Strukturreformen durchaus logisch sind, weil sie auf die Wiederherstellung der Profitrate zielen, und dass es für den Kapitalismus keinen anderen Ausweg aus der Krise gäbe.
Dies stimmt wohl, greift aber zu kurz. Lohndumping allein genügt nicht, um aus einer tiefen Rezession zu entkommen. Es bedarf daneben einer massiven Kapitalentwertung, die die Zähler wieder auf Null stellt. Und wie die Dinge liegen, steht diesem Weg der Finanzkapitalismus entgegen. Insofern könnte man die aktuelle Lage so beschreiben, dass die verschiedenen Kapitalfraktionen in unterschiedlich starkem Ausmaß zwei Ziele verfolgen. Nämlich einerseits die Profitrate wiederherzustellen, andererseits auch die vor der Krise in Form fiktiven Kapitals erworbenen Ziehungsrechte [erworbene Rechte auf den Mehrwert] zu behalten und wahrzunehmen. Kurzum, die Kapitalisten weigern sich, ihre Verluste hinzunehmen, sondern wollen die Kuh schlachten und zugleich melken.
Diese beiden Ziele lassen sich natürlich nicht übereinbringen, und zwar umso weniger, wenn man zwei weitere maßgebliche Parameter hinzunimmt, die durch die Krise zu Tage getreten sind, nämlich die Grenzen weiterer Produktivitätsgewinne und die Verlangsamung der Globalisierung. Nun lässt sich die Profitrate auf drei Wegen anheben: durch Kapitalentwertung, durch Produktivitätssteigerung oder durch Lohnsenkung. Ersteres wollen die Kapitalisten nicht und das Zweite können sie offensichtlich nicht. Also bleiben nur noch Lohnsenkungen als Hebel, wenn man die sog. Strukturreformen beiseite lässt, die bloßem Wunschdenken entspringen.

Die Illusionen der Reformisten …

Diese Logik lässt sich nicht umgehen und so sind alle Bemühungen, die Kapitalisten davon überzeugen zu wollen, dass man auch auf vernünftigerem und effizienterem Weg der Krise entkommen könne, in gewisser Weise realitätsblind. Aus der Krise Griechenlands lässt sich u. a. eine Lehre umgehend ziehen: Die Syriza-Regierung ist mit einem Umschuldungsplan in der Hand in die Verhandlungen mit der Troika gegangen. Diesen Plan hatte sie mit der Bank Lazard ausgebrütet und er ist in groben Zügen von dem Bankier Mathieu Pigasse dargelegt worden. Man muss sich nur das Interview mit ihm[8] anhören, um festzustellen, dass der Plan vernünftig und nachvollziehbar war und dass er an sich eine gute Ausgangsbasis für einen ebenso vernünftigen Kompromiss darstellte.
Man weiß jedoch, wie es gekommen ist und leider lässt sich diese Lektion auf alle vernünftigen Alternativen übertragen, so schlüssig sie auch sein mögen. Es geht hier nicht um die Überzeugung, dass solche Alternativen umsetzbar wären, denn sie stehen zwangsläufig einem der oben genannten Ziele entgegen, sei es, dass sie die Profitgier bremsen oder die erworbenen Rechte auf den Mehrwert in Frage stellen.

…und die Alpträume der Bourgeoisie

Eine andere Politik können die Herrschenden nicht betreiben, was aber nicht heißt, dass die bestehende, die sie der Bevölkerung aufzwingen, auch funktioniert. Welche Sorgen um die Weltwirtschaft den IWF umtreiben, haben wir an anderer Stelle bereits kommentiert.[9] Für Europa sind sie möglicherweise noch größer, wie die Alarmrufe von oberster Stelle künden: „Nie zuvor habe ich so wenig Gemeinsamkeiten zwischen unseren Mitgliedstaaten gesehen. So wenige Bereiche, bei denen sie sich darauf einigen können, zusammenzuarbeiten.“ „Die Europäische Union ist in Gefahr. Niemand kann sagen, ob es die EU so in zehn Jahren noch geben wird.“ „Europa produziert nicht genug Ergebnisse.“[10]
Geradezu unfassbar ist in noch jüngerer Zeit ein (weitgehend unbeachtetes) Plädoyer erschienen.[11] Dessen Unterzeichner bilden eine eigenartige Mischung, finden sich doch darunter die Generaldirektorin des IWF Christine Lagarde und der ehemalige WTO-Direktor Pascal Lamy, aber auch die Vorstände von Air France-KLM und Veolia [Unternehmen mit Geschäftsschwerpunkten in den Bereichen Wasser/Abwasser, Abfallwirtschaft, Energie und Transport] und selbst von PMU [Pari Mutuel Urbain; Anbieter von Pferdewetten], der sich ansonsten eher für Pferdewetten als für Wirtschaftsaussichten interessiert.
Diese fünfzehn Persönlichkeiten bedauern, dass „das exzessive Streben eines einzigen Ziels, nämlich den shareholder value [Aktionärswert] zu maximieren, die Unternehmen in die Isolation getrieben und unter Generalverdacht gestellt hat“. Sie lehnen „die falsche Vorstellung ab, dass ein Unternehmen seinen Aktionären gehört“ und reklamieren für sich „die zunehmende Überseinstimmung“, dass „die Finanzialisierung des Kapitalismus ein Fehler ist“. Sie plädieren „für eine verantwortungsvolle Marktwirtschaft“ und um dorthin zu kommen, wollen sich unsere neugeborenen Globalisierungsgegner damit begnügen, die Artikel 1832 und 1833 des französischen Zivilgesetzbuches zu ändern – ein Vorhaben, das den Kapitalismus sicherlich aus den Angeln heben wird.
Allerdings sollte man diese derart bekundeten Sorgen ernst nehmen, da dahinter die Furcht dieser Sachwalter der Kapitalinteressen steckt, nicht über die notwendigen Mittel zu verfügen, um auf sämtliche Geschehnisse zuzugreifen. Insofern verdient auch die Ratlosigkeit, die kürzlich in einer Verlautbarung der EU-Kommission[12] zutage getreten ist, nähere Beachtung. Zunächst findet sich hierin eine Selbstkritik über die Haushaltsrestriktionen zur falschen Zeit: „Die Haushaltsvorgaben in der Eurozone für die Zeit zwischen 2011 und 2013, als sich die wirtschaftlichen Aussichten verschlechterten, waren zu restriktiv.“
Die Kommission geht sogar noch weiter und benennt die Probleme, die durch die fehlende Haushaltskoordinierung auf europäischer Ebene entstehen. Die optimale Politik könne nicht „spontan aus der Anwendung der fiskalischen Regeln auf jeden Mitgliedsstaat heraus entstehen“ und sie könne auch kaum zustande kommen, „wenn es keinen zentralisierten Haushalt gibt, der stärker eingreift“. Die Kommission kommt gar ins Träumen: Man müsse „die Eurozone als eine Gesamteinheit sehen, so als gäbe es einen Finanzminister für die gesamte Eurozone, und eine ganzheitliche Haushaltspolitik betreiben“.
Es gibt wohl die Strukturfonds, die EIB [Europäische Investment Bank] und ihren Europäischen Fonds für strategische Investitionen (EFSI), den Juncker-Plan, aber dies scheint der Kommission nicht auszureichen, so dass sie ein Konjunkturprogramm in Höhe von 0,5 % des europäischen BIP, etwa 50 Milliarden Euro, empfiehlt. Wer aber soll die Konjunktur ankurbeln? „Diejenigen, die keinen Haushaltsspielraum haben, würden es gerne tun, aber diejenigen, die ihn haben, wollen ihn nicht nutzen“, so fasst die Kommission die paradoxe Lage zusammen. Dieser Wink mit dem Zaunpfahl an die Adresse Deutschlands, dass es eine „lockerere Haushaltspolitik“ betreiben solle, ist offensichtlich ungehört verhallt.
Weshalb die Bourgeoisie so alarmiert ist, liegt in einer anderen Sorge begründet: Der soziale Kahlschlag – der automatisch aus der kapitalistischen Politik zur Krisenbekämpfung resultiert – ist das Sprungbrett, das nationalistische Strömungen befördert, die durch die extreme Rechte angeheizt werden. Die sozialen Verheerungen durch den Neoliberalismus liefern ihnen die wirtschaftliche Basis, während die fremdenfeindliche und reaktionäre Hülle nur den Überbau bildet, der dazu dient, die soziale Frage in identitäre Bahnen zu lenken.
Der Artikel erschien zuerst in die internationale (Heft 2/2017), Übersetzung durch MiW.
[1] Enrique Fernández-Macías, John Hurley, Martina Bisello, What do Europeans do at work? A task-based analysis, Eurofound, European Jobs Monitor 2016.
[2] Odile Chagny et Michel Husson, «Quel régime salarial optimal pour la zone euro?», La Revue de l’Ires n° 81-
[3] «New evidence on wage adjustment in Europe during the period 2010-13», ECB Economic Bulletin, Issue 5/2016.
[4] http://www.boeckler.de/54153_54162.htm
[5] Jelle Visser, «What happened to collective bargaining during the great recession?», IZA Journal of Labor Policy, 2016, 5:9.
[6] Paul Marginson and Christian Welz, Changes to wage-setting mechanisms in the context of the crisis and the EU’s new economic governance regime, Eurofound, 2014.
[7] Für eine detaillierte Übersicht siehe http://www.isigrowth.eu/wp-content/uploads/2016/10/working_paper_2016_33_def-def.pdf
[8] Mathieu Pigasse sur la dette grecque, France Inter, 3. Februar 2015.
[9] Michel Husson, «Les désarrois du professeur Obstfeld», A l’encontre, 20. April 2016.
[10] Die Zitate stammen jeweils von Jean-Claude Juncker: Rede zur Lage der Union, vom 14. September 2016 (http://ec.europa.eu/priorities/state-union-2016_de), Martin Schulz: https://www.welt.de/politik/ausland/article149696117/Die-Europaeische-Union-ist-in-Gefahr.html bzw. Pierre Moscovici: L’Europe ne produit pas assez de résultats», FranceTVinfo, 11. September 2016.
[11] Collectif, «Plaidoyer en faveur d’une économie de marché responsable», lemonde.fr, 16 November 2016.
[12] European Commission, «Towards a Positive Fiscal Stance for the Euro Area», Communication, 16 November 2016.

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