Menu Schließen

Wie funktioniert das Schweizer Pensionssystem und was hat die SP damit vor?

Das auf drei sehr unterschiedliche Säulen abgestützte, unförmige Ungetüm von einem Schweizer Pensionssystem verweigert ein grundlegendes demokratisches Recht. Bei der Abstimmung über die „Altersvorsorge2020“ („AV2020“) am 24. September 2017 geht es genau um die Zukunft dieses Systems – also unsere Renten. Mit der „AV2020“ wird sich aber die Lage weder für jetzige, noch für zukünftige Rentner*innen verbessern (siehe unser Argumentarium). Insbesondere Frauen werden durch die Erhöhung des Rentenalters zur Kasse gebeten. Deshalb gilt es die AV2020 abzulehnen, das Referendum zu unterschreiben und gleichzeitig die Möglichkeiten einer solidarischen Altersvorsorge aufzuzeigen und für eine existenzsichernde AHV zu kämpfen.

von BFS/MPS

Die Verweigerung eines grundlegenden demokratischen Rechtes

Ein Pensionssystem sollte so einfach und vorhersehbar wie möglich – d.h. von einem Grossteil der Bevölkerung kontrollierbar – sein. In der Schweiz gibt es ein „Drei-Säulen-System“: 1. Säule (AHV-IV); 2. Säule (Pensionskasse); 3. Säule (private Vorsorge 3a; sie ist „freiwillig“ für diejenigen, die überhaupt sparen können). Dieses System wurde absichtlich wie ein Labyrinth aufgebaut – wie ein wirres Durcheinander.
Die Folge: Ein ungerechtes soziales und politisches Machtgefälle zwischen der Mehrheit der Bevölkerung und den „Fachleuten“. Letztere dienen fast ausschliesslich dem Finanzwesen, den Versicherungen oder „dem Filz“. Das so entstandene Gewirr an Gesetzen und Vorschriften begünstigt jene, welche die wirkliche politische und wirtschaftliche Macht innehaben – mit Unterstützung ihrer politischen Vertreter*innen.
Seit mehr als dreissig Jahren schüren diese „Fachleute“ Angst bezüglich der Renten und das mit irreführenden Erklärungen, die als unbestreitbar präsentiert werden; mit Artikeln, die sich wie „in 3 Tagen 15 kg verlieren“-Marketing lesen; mit Werbetafeln, die so enorm sind, wie die darauf abgedruckten Lügenmärchen.
Kein Wunder, dass man bei Diskussionen dauernd folgende Aussagen hört: „Da blickt man ja fast gar nicht durch!“. „Man weiss nicht, wie viel Rente man nach der Pensionierung bekommt“. „Da kann sich nur eine Fachperson zurechtzufinden“.
Die Organisation Mouvement populaire des familles (MPF) hat folgendes zentrale Problem aufgeworfen: „In der Schweiz besteht der soziale Schutz aus miteinander verschlungenen, sich überlappenden und einander ergänzenden Netzen – und es ist für die einfachen Nutzer*innen nicht leicht, ihre Rechte und Pflichten zu kennen und herauszufinden, welche der zahlreichen Schalter ihnen zur Verfügung stehen.“
Was als „soziale Sicherheit“ bezeichnet wird, wurde in Wirklichkeit so aufgebaut, dass eine Art Unsicherheit entsteht.
Zu allem Überfluss wagen es diejenigen, die dieses System aufgebaut haben – die bürgerliche Rechte – zu behaupten, dass es „die Eigenverantwortung zerstört“. Und wer stellt sich dann wie zufällig vor, um uns in diesem Dschungel „zu helfen, unseren Weg zu finden“? Credit Suisse, Swiss Life oder das VZ (Vermögenszentrum) mit ihren „Vorsorgerechnern“!
Diese „personalisierte“ Sichtweise bedingt eine Eingrenzung des bedingungslosen und allgemeinen Anspruchs auf eine würdige Pension. Diejenigen, die nicht über ausreichende materielle Mittel für die Sicherstellung ihre „Selbständigkeit“ verfügen – in Wirklichkeit tut dies nur eine kleine Minderheit – werden auf ihre „Eigenverantwortung“ verwiesen. Der „Vorsorgerechner“ wird ihnen aufzeigen, ob ihre individuelle berufliche Laufbahn ihnen eine Rente in Höhe ihrer Bedürfnisse ermöglicht.
Wenn dies nicht der Fall ist, landen sie im Sozialhilfenetz, als Bedürftige ohne wirkliche Rechte. So sieht also die hochgepriesene Mogelpackung aus.
Die ideologischen Wegbereiter*innen und Gewinner*innen hinter dieser Mogelpackung arbeiten mit der Angst. Mit einem System, in dem viele „Angst um ihre alten Tage“ haben. Die Presse geizt nicht mit Schlagzeilen: „Die Schweizer*innen stürzen sich auf die 3. Säule“ oder „3. Säule, Rettungsring unserer Rentner*innen“ (Tribune de Genève und 24 heures, 22.-23. April 2017). Dabei hatten von den 87’000 Menschen, die im Jahr 2015 erstmals eine AHV-Rente bezogen, nur 68’000 ein Sparkonto in der 3. Säule.
Darauf lagen im Schnitt 60’000 Franken. Der Medianwert liegt bei 45’000 Franken. Das ist weit weg von Selbstständigkeit. Nur 10% der Steuerzahlenden können den Maximalbetrag – 6’768 Franken im Jahr 2017 – in die Säule 3a (gebundene Selbstvorsorge) „einzahlen“, wenn sie einer Pensionskasse angehören.
Das beweist, dass die Dutzenden Milliarden, die von Swiss Life & Co. in der Säule 3a verwaltet werden, von Menschen mit höheren Einkommen „gespart“ werden, u.a. um weniger Steuern zu zahlen. Gleichzeitig erhöht Swiss Life ungeniert die Mieten ihres Immobilienparks – z.B. unter dem Vorwand einer „Renovierung“.

Solidarische und soziale Grundsätze der AHV

Im Gegensatz zum restlichen Vorsorgesystem vereint die Alters- und Hinterbliebenenversicherung (AHV) zwei soziale Grundsätze: 1. Universalität, d.h. dass die gesamte Bevölkerung versichert ist; 2. Solidarität, d.h. a) Beitragsverpflichtung für alle Einkommen, auch die Boni der Top-Manager*innen; b) die Höhe der Rente hingegen ist für ein Ehepaar auf 3’525 und für eine alleinstehende Person auf 2’350 Franken begrenzt.
Bei der AHV handelt sich um ein Umlage-System: Die Ausgaben eines Zeitraums (die ausgezahlten Renten) werden durch die Einnahmen (Beiträge) dieses Zeitraums gedeckt.
Die AHV wird gespeist durch: Die Beiträge der Versicherten und der „Arbeitgebenden“ (in Wirklichkeit entspricht dies ebenfalls einem Teil unseres Lohnes); den Beitrag des Bundes und der Kantone (seit 1974; die bürgerliche Rechte versucht immer wieder diesen zu drücken); die Nettorendite des Vermögens des Ausgleichsfonds: etwa 45 Milliarden (CHSS, Nr. 1, 2017, für das Jahr 2014).
Alle Mittel werden dem Ausgleichsfonds zugeführt, aus dem die Ausgaben abgebucht werden: v.a. die ausgezahlten Renten. Dieser Fonds muss die jährlichen Ausgaben decken. Die seit Jahren kursierenden „alarmierenden“ Erklärungen“ über das „AHV-Defizit“ betreffen den Deckungsgrad dieses Fonds.
Die öffentliche Hand hat ihren Beitrag von 1973-1975 (8. Revision) bis 1979-1980 (9. Revision) von 25% auf 20% gesenkt. Seither ist er praktisch auf diesem Niveau geblieben. Zwischen 1975 und 1987 hätte ohne Änderung des Prozentsatzes ein zusätzlicher Beitrag von 9 Milliarden Franken eingezahlt werden müssen (P. Gilliand et P. Mahon, Revue syndicale suisse des SGB, 1988).
Es bestehen durchaus Probleme bzgl. Demographie und Mitteln. Sie können durch eine Ausweitung der Mittel (Besteuerung der Dividenden, höherer öffentlicher Beitrag usw.) und eine Erhöhung der Beiträge gelöst werden.
Der Vergleich zwischen dem stabilen Beitragssatz für die AHV (8,4%) und den – in starkem Anstieg begriffenen – Mitteln der 2. Säule (18%) zeigt die Effizienz der generationenübergreifenden Solidarität. Eine neue Reform – und nicht eine Gegenreform – ist nötig und möglich. Mehr als 200’000 Rentner*innen müssen Ergänzungsleistungen in Anspruch nehmen, weil ihnen ihre Rente nicht zum Leben reicht. Der Revisionsentwurf des Ergänzungsleistungsgesetzes (ELG) stellt einen Angriff auf sie dar.
Die AHVplus-Initiative des SGB und der SP hat trotz Ablehnung durch die Bevölkerung im September 2016 die Richtung angezeigt, die es zu gehen gilt. Sie schlug für alle derzeitigen und zukünftigen Rentnerinnen Folgendes vor: +200 Franken pro Monat für Alleinstehende; +350 Franken für Paare.

Alain Berset: Von den Versicherungen in die Enge getrieben

Das aktuelle „Altersvorsorge2020“-Gesetz wird seit über zehn Jahren vorbereitet. Nichtsdestotrotz musste SP-Bundesrat Alain Berset, der seit Ende 2011 im Amt ist, seine „Überraschung“ (sic) einräumen angesichts der Ablehnung der Bereitstellung von „möglichst transparenten und klaren“ versicherungsmathematischen Daten für ihn und die Pensionskassen durch eine Mehrheit des Ständerates (24:15 Stimmen). Dabei sagt er doch: „Das sind Daten [Zahlen in Bezug auf die Lebenserwartung] für die Festlegung eines angemessenen minimalen Umwandlungssatzes.
Es handelt sich hierbei um den Prozentsatz, der auf das in der 2. Säule angesparte Alterskapital angewendet wird. Dies ermöglicht die Berechnung einer jährlichen Altersrente. Das ist von grosser Bedeutung für die zukünftigen Rentner*innen.
Alain Berset erklärt: „Diese technischen Grundlagen existieren. [Sie] sind nur gegen Bezahlung von Lizenzgebühren zugänglich… Man muss zwischen 6’000 und 20’000 Franken berappen. Es ist wahrscheinlich ziemlich lukrativ, diese Tabellen auf privater Basis zu erstellen… Es sind aber die Versicherten und die Unternehmen [der sogenannte Arbeitgeberanteil an der Pensionskasse], die zahlen müssen, um diese Tabellen zu kaufen.“
Resultat: Das System bleibt undurchschaubar. Der formal Verantwortliche des „AV2020“-Dossiers, ein Bundesrat, wird von den Versicherungen und dem restlichen Filz in die Enge getrieben. Schlussendlich bedeutet dieses undurchschaubare System eine Ablehnung sozialer Demokratie.
Nehmen wir an, Alain Berset, seine Berater*innen und das Bundesamt für Statistik (BFS) würden diese „technischen Daten“ gratis bekommen. Sie wären dann sicherlich zur Wahrung des „Berufs“-Geheimnisses verpflichtet. Die – lukrative – „Privatsphäre“ der Versicherungen und sonstigen Einrichtungen, die die „technischen Grundlagen“ erarbeiten, wäre sichergestellt. Dies im Unterschied zur Privatsphäre der Versicherten der verschiedenen „Sozialversicherungen“.

Anpassungsmöglichkeiten an einen möglichen Gegenwind

Seit 2008-2009 bemerkt ein Teil der Unternehmensseite das steigende Misstrauen der Lohnabhängigen gegenüber der 2. Säule (Pensionskasse; berufliche Vorsorge). Ein Beispiel: „Das Misstrauen der Öffentlichkeit gegenüber der 2. Säule (BV) ist sehr eng mit dem Trend verbunden, bei Vorsorgelösungen immer mehr in Richtung Individualisierung und Übertragung des Risikos auf die Versicherten zu gehen.“ (Sébastien Cottreau, Zeitschrift Patrons, Nr. 3, 2017, S. 10)
Das positive Resultat der Abstimmung vom September 2016 über die AHVplus-Initiative (40,6% Ja auf nationaler Ebene; Annahme in 5 Kantonen, u.a. Basel-Stadt mit 49,1%) beginnt sich auf die Stimmung auszuwirken. Das Klima des Misstrauens und Zweifels gegenüber der 2. Säule und den Versicherungen hat sich verstärkt. Ein „Arbeitgeber*innen“-Zentrum hat infolgedessen – mit den üblichen Vorbehalten – die Haltung gegenüber der „AV2020“ definiert: „Wir haben die Gelegenheit, dank einer günstigen Konstellation zumindest einen kleinen Schritt nach vorne zu machen: Die Reform wird von einer Mehrheit der Linken unterstützt, die sie als Sieg betrachtet [sic]. Ein Abstimmungserfolg ist zwar nicht garantiert, scheint aber zumindest möglich. Wir müssen also diese Gelegenheit ergreifen, die positiven Aspekte der Reform „einzufahren“, Aspekte, die sicher viel weniger Chance auf Akzeptanz hätten, wenn sie in einer hypothetisch rigoroseren Reform integriert wären. Schlussfolgerung: „Altersvorsorge 2020“ verdient im Hinblick auf die Abstimmung im Herbst unsere Unterstützung.“ (Pierre-Gabriel Bieri, verantwortlicher Redaktor des Centre patronal, Lausanne, Presse- und Informationsdienst, 29. März 2017)
Es drängen sich 2 Fragen auf: 1. Stellt das „AV2020“-Gesetz als Ganzes einen reellen „kleinen Schritt nach vorn“ für die Lohnabhängigen dar? 2. Ist das Centre patronal des Kantons Waadt seit Kurzem zum „Gewerkschaftszentrum“ zur Verteidigung der „demokratischen Rechte“ der Arbeiter*innen mutiert?
Die Frage beantwortet sich von selbst. Es drängt sich ein Engagement für ein Referendum gegen die „AV2020“ auf – und sich gleichzeitig für eine solidarische Altersvorsorge und eine existenzsichernde AHV einzusetzen. Dieser Zugang knüpft – jenseits von taktischen Meinungsverschiedenheiten – an jenen von Professor René Knüsel (Universität Lausanne) an: „Die Lösung liegt in mehr Solidarität [also mehr AHV], um zu vermeiden, dass sich die Armut unter den älteren Menschen noch mehr ausbreitet. Die individuelle Kapitalisierung [2. Säule] mit ihrem geschwächten Fundament muss hingegen zurückgefahren werden.“ (24 heures, 21. März 2017)

Parlamentsmehrheiten entsprechen nicht dem gesellschaftlichen Kräfteverhältnis

Seit Monaten präsentieren die Medien der Bevölkerung folgendes Bild: Es findet ein Kampf der Titanen statt – zwischen einem „progressiven Lager“ – dem Ständerat – und einem „rückschrittlichen Lager“, dem Nationalrat.
Worum geht es bei diesem Kampf? Das Gesetz „Altersvorsorge 2020“. Es soll die „finanzielle Stabilität“ sicherstellen und die Situation der zukünftigen Rentner*innen verbessern. Es handelt sich also um ein essenzielles Thema für die Mehrheit der Bevölkerung. Der Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), Paul Rechsteiner, Vertreter des Kantons St.Gallen im Ständerat, hat das Gesetzgebungsvorhaben „AV2020“ gemeinsam mit seinem Parteigenossen Alain Berset geleitet. Der zweite Experte und Vizechef des SGB, Aldo Ferrari, sagte in der Abstimmungskampagne 2016 zur Verteidigung der AHVplus-Initiative: Es geht darum, „einen 660-Milliarden-Tanker zu steuern.“ Der Tanker ist seither noch schwerer geworden: Er transportiert über 800 Milliarden akkumulierte Franken. Das schweizerische BIP (Bruttoinlandsprodukt) – d.h. der in einem Jahr produzierte Reichtum – lag im Jahr 2015 bei etwa 646 Milliarden.
Bei der Reform „AV2020“ steht also für die erwerbstätigen Personen und die Rentner*innen sehr viel auf dem Spiel. Genauso wie für die Versicherungen und andere Führungskräfte. Diese sind keine Tretboot-Kapitäne. Auch wenn Aldo Ferrari sie als Anhänger „der Navigationstechnik eines Schlauchboots“ bezeichnet (RTS, 3. September 2010).
Nach den bei der Abstimmung über die AHVplus-Initiative 2016 erzielten Resultate und dem Sieg gegen die Unternehmenssteuerreform III (USR III) am 12. Februar 2017 verkündete SP-Präsident Christian Levrat: „Die Rechte hat einen Trauerprozess durch Verweigerung in Angriff genommen. […] Die Sieger*innen sind begeistert, während das bürgerliche Lager die Schultern hängen lässt“. Das ist vielleicht leicht übertrieben.
Diese Abstimmung zur USR III war ein soziales Signal: Zwei Drittel der Haushalte mit einem Monatseinkommen zwischen 3’000 und 9’000 Franken haben die USR III abgelehnt (24 heures, 14. Februar 2017). Der Blick vom 13. Februar 2017 sprach von einem „Aufstand gegen die Eliten“.
Ausserdem wurde aufgezeigt, dass es möglich ist, sich nicht von der alleinigen Berechnung der Stimmen innerhalb der Parlamentsmauern fesseln zu lassen – einem während Wochen in den Medien verherrlichten chinesischen Schattentheater.
Im Gedächtnis war die Erfahrung lebendig, die breite soziale Schichten nach der Annahme der Unternehmenssteuerreform II (2008) gemacht hatten: Eine Mischung aus weniger Steuern und der Schuldenbremse führte zu einer dauerhaften Schmälerung der Ausgaben und der öffentlichen Dienstleistungen. Demgegenüber standen rasant ansteigende Gewinne und Dividenden sowie die Dreistigkeit der Rechten, der Bevölkerung vorzugaukeln, dass die USR II keine grossen Löcher in der Staatskasse hinterlassen würde. Eine Täuschung, die vom ehemaligen Bundesrat Rudolf Merz (2004-2010) organisiert wurde.
Durch die ausserhalb der Parlamentsmauer versprühten Funken einer Mobilisierungskampagne wurden einige Feuer entzündet, die von den regelmässigen Besucher*innen der Bundeshaus-Wandelhalle (deren Name nicht unbedingt für Wandel steht) nicht vorgesehen waren.

Ein missglücktes Anlegen

Am 17. März 2017 hat der Tanker angelegt – mit einer Flagge, die im Nationalrat von 101 Parlamentarier*innen gegen 92 Gegenstimmen und 4 Enthaltungen gehisst wurde. Ihr Emblem: „AV2020“. In der SP-nahen Zeitschrift Pages de Gauche (Nr. 163) wird das Unbehagen zusammengefasst: „Es muss klar gesagt werden: Die AV2020 ist ein ultraminimaler Kompromiss.“ Das ist ein bisschen wie das Waschmittel, das weisser als weiss wäscht. Von der SP in Genf bis im Jura wurde der „Kompromiss“ als unter dem Minimum liegend eingeschätzt. deren Sektionen folgend ihrer Mutterpartei nicht und lehnen die „AV2020“ ab. Die Basis der SP Schweiz hat sich allerdings mit 90,6% (!) für die Reform ausgesprochen.
Schauen wir uns noch zwei Punkte an. 1. Der Anstieg des Rentenalters für Frauen von 64 auf 65 Jahre. 2. Die kolossale Umverteilung des Reichtums zugunsten des Kapitals und zu Ungunsten der Arbeit – dies in Verbindung mit den sogenannten „fehlenden Mitteln“ für die Finanzierung der AHV.

Zu den anderen Ungleichheiten kommt der Anstieg von 64 auf 65 Jahre hinzu

Am 23. März 2017 hat die SGB-Verantwortliche Doris Bianchi die Karten auf den Tisch gelegt: „Angesichts der immer noch vorherrschenden Lohndiskriminierung, der Verteilung der Betreuungs- und Haushaltsarbeiten und der schwierigen Situation der Arbeitnehmerinnen im Beschäftigungsbereich ist diese Erhöhung des Rentenalters auf 65 Jahre [diese erfolgt innert weniger als 4 Jahren, um 3 Monate pro Jahr bis zum Jahr 2021] ein Schritt zurück in der sozialen Sicherung der Frauen. Nichtsdestotrotz verteidigt sie die „AV2020“!
Offiziell verdienen Frauen im Privatsektor 19,5% weniger als Männer; im öffentlichen Sektor 16,6% weniger. Frauen sind ausserdem grossteils in schwierigen und schlecht bezahlten Branchen gefangen und erzwungene Teilzeit ist normal. Zu den niedrigen Löhnen – wie z.B. im Verkauf – kommen immer mehr Aufgaben („Allroundjobs“). Stress und Prekarität sind im Anstieg begriffen.
Die Gesamtheit dieser Diskriminierungen widerspiegelt sich in der Auszahlung der Renten der 2. Säule (wenn Frauen über eine solche überhaupt verfügen!): „Eine neu ausgerichtete Altersrente (Erstbezug) aus der beruflichen Vorsorge betrug im Jahr 2015 für Männer im Monat durchschnittlich 3278 Franken, für Frauen 1839 Franken. Die entsprechenden Werte für Kapitalauszahlungen lagen bei knapp 210’000 Franken für Männer und etwa 93’000 Franken für Frauen. Die deutlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern bezüglich der Leistungshöhe lassen sich zu einem grossen Teil durch unterschiedliche Erwerbsbiografien erklären (familiär bedingte Erwerbsunterbrüche und Teilzeitarbeit der Frauen). […] Die Altersrenten der AHV (1. Säule) sind dagegen zwischen den Geschlechtern und den verschiedenen Altersklassen etwa gleich verteilt.“ (BFS, 24. März 2017)
Eine Delegierte des UNIA-Kongresses hat die inakzeptable Situation in zwei Sätzen zusammengefasst: „Ein vergeudetes Lebensjahr ist nicht verhandelbar! Ein Jahr mehr morgens und abends Büros putzen, in der Kälte Geflügel einpacken oder alte Menschen hochheben, das ist nicht verhandelbar!“ (L’Evénement syndical, 22. März 2017). Anders gesagt, in der derzeitigen Situation: Ein Recht als solches– das einem zentralen Bedürfnis entspricht – ist kein Verhandlungsgegenstand, sondern man hat es zu achten. Die gläserne Decke liegt nicht für alle gleich hoch.

Die Isländerinnen zeigen einen Weg auf

Nachdem 17. März 2017 lanciert die UNIA eine Parole: „Gleicher Lohn, subito!“. Sie soll das Unbehagen, v.a. der weiblichen Mitglieder, lindern…
In Bezug auf die Lohngleichheit wird aber bereits ein Beispiel umgesetzt. Jenes, das von den Isländerinnen erzwungen wurde. Die New York Times vom 30. März 2017 hat ihm einen Artikel gewidmet: „Gleicher Lohn. Beweist-es!“ – ihr, die Unternehmer*innen.
Am 25. Oktober 2016 haben zehntausende Isländerinnen um 14:38 Uhr ihre Arbeit niedergelegt und so auf die Lohnungleichheit aufmerksam gemacht. Die Gewerkschaften und Frauenorganisationen zeigten, dass die Frauen ab dieser Stunde nicht mehr bezahlt waren.
Das angekündigte Gesetz erlaubt keinerlei Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Ethnie, sexueller Orientierung oder Nationalität. Ein Unternehmen mit mehr als 25 Angestellten muss – mit einem Audit oder bei der Einreichung der Steuererklärung – die strikte Umsetzung der Lohngleichheit nachweisen. Alle drei Jahre wird ein Bericht erstellt; Frist 2020-2022 (The Independent, 8. März 2017). Ein nachahmenswerter Kampf der uns den Weg zeigt.

Die AHV erhält nur Brosamen – und die Dividenden explodieren

Das Schlüsselwort der Befürworter*innen der „AV2020“ sind die 70 Franken mehr AHV für zukünftige Rentner*innen. Das soll die Senkung des Umwandlungssatzes von 6,8% auf 6% ausgleichen, eine Senkung die 2010 von mehr als 72% der Abstimmenden abgelehnt wurde!
Werfen wir zu Schluss einen Blick auf das steigende Volumen der Dividenden, d.h. den Teil des Gewinns, der an die Aktionär*innen ausgeschüttet wird. Im Jahr 2009 haben die 20 führenden Unternehmen des SMI (Swiss Market Index) 25 Milliarden verteilt; 27,4 im Jahr 2010; 28,4 Mrd. im Jahr 2011; 31,5 Mrd. im Jahr 2012; 35,2 Mrd. im Jahr 2013; 35,7 Mrd. im Jahr 2014; 37,4 Mrd. im Jahr 2015; 38,5-39 Mrd. im Jahr 2016 (Quelle: Finanz und Wirtschaft). Die Zuger Kantonalbank schätzt die Dividenden der börsenkotierten Unternehmen im Jahr 2016 auf mehr als 50 Milliarden (Finanz und Wirtschaft, 23. Februar 2017). Ein ständiger Anstieg im Vergleich zu den Löhnen! Geschaffen wurde dieser Reichtum von den Rentner*innen von heute und morgen.
Beim Verteilen von Dividenden-Geschenken finden sich die Zürich Insurance und die Baloise im Zeitraum 2007-2016 auf dem 1. und 4. Rang (Finanz und Wirtschaft, 19. April 2017).
Nach der USR II (2008) hat sich der Run auf die Dividenden verstärkt. Andreas Dummermuth – Präsident der kantonalen Ausgleichskassen und Direktor dieser Kasse in Schwyz – spricht von einer „Flucht aus der Solidarität“: Im kleinen Kanton Schwyz wurden von 2007 bis 2011 über 3,7 Milliarden Franken an Dividenden ausgeschüttet. So könne jemand, sagt er, gezielt in seiner eigenen Firma „einen lächerlich tiefen Lohn“ beziehen – und damit einen Teil der AHV-Beiträge umgehen – und „sich dafür eine umso höhere Dividende auszahlen“. (Tagesanzeiger, 7. April 2017). Derartige Konstruktionen entstehen im Gesundheits- und Dienstleistungsbereich. Die Schlussfolgerung von Dummermuth: „Die AHV erhält nur Brosamen“. Und dann wird das Defizit der AHV angeführt um den (ultraminimalen?) Kompromiss namens „AV2020“ zu rechtfertigen.
Die Unterstellung der Dividenden unter das AHV-Beitragsschema ist eine gerechte und nachvollziehbare Forderung. Andreas Dummermuth anerkennt diese Forderung auf seine Art.
Das Referendum gegen die „AV2020“ zwängt sich auf. Es ist notwendig, einen anderen Weg aufzuzeigen und auf die Sorgen und Bedürfnissen grosser Teile der Bevölkerung einzugehen.
___________
Dies ist die erste Nummer des Infoblattes «Nein zur Altersvorsorge2020 – Für eine solidarische und sichere AHV» der Bewegung für den Sozialismus. Die Nummer 2 wird Ende Mai 2017 veröffentlicht. Die dritte Nummer im Juni. Kontakt: info@bfs-zh.ch

Verwandte Artikel

2 Kommentare

  1. Thomas Z.

    Wie kommen Sie darauf, dass mehr Solidarität automatisch mehr AHV bedeutet? Auch in der 2. Säule herrscht eine Generationensolidarität. Die 2. Säule ist grundsätzlich so konzipiert, dass jeder für sich selber spart. Aufgrund des zu hohen Umwandlungssatzes wird jedoch momentan den künftigen Rentnern mehr verteilt, als sie angespart haben. Es fliesst damit ständig Geld von den jüngeren Aktiven zu den neuen Rentner/-innen. Diese Umverteilung gefährdet die Stabilität der Kassen und geht zulasten der kommenden Generationen, wodurch die Generationensolidarität gefährdet ist. 2015 wurden in der zweiten Säule rund CHF 5.3 Mrd. von den Aktiven zu den Rentnern umverteilt. Dies deutet auf eine Verschärfung der Umverteilungsproblematik in den letzten Jahren hin.
    Unsere Altersvorsorge ist ein komplexes System. Schraubt man an einem Teilchen, wirkt es sich auf unzählige andere aus. Schraubt man zu stark, bricht das Gewinde. Schliesslich braucht es bei jedem Schraubendrehen die richtige Feinjustierung.
    Um diese Errungenschaft langfristig zu sichern, braucht es ALLE 3 Säulen. Nur so kann ein System garantiert werden, in welchem alle Nachteile der einen Säule durch die Vorteile einer anderen abgefangen werden.
    Die institutionellen Reformmassnahmen im Rahmen der AV2020 werden auch dazu beitragen, die Unterschiede bei den Renten zwischen Frauen und Männern schrittweise zu reduzieren. Um die Unterschiede vollständig zu beseitigen, reichen die Massnahmen alleine jedoch nicht aus.
    Welche Probleme sonst noch auf das Altersvorsorgesystem einwirken, lesen Sie hier: http://www.dringendereform.ch/was-ist-jetzt-das-problem
    Ausserdem finden Sie hier allgemeine Informationen zum Altersvorsorgesystem und der 2. Säule. Besonders die Blogbeiträge können Ihnen helfen, die Fachbegriffe besser zu verstehen: http://mit-uns-fuer-uns.ch
    Zur Information: Ich bin Mitglied des ASIP-Redaktionsteams der Webseite dringendereform.ch

    • toller

      Lieber Kapitalistenverband,
      wir sagen nicht «Mehr Solidarität bedeutet mehr AHV», das ist ein wenig verdreht. Wir sagen «Mehr AHV bedeutet mehr Solidarität», weil die AHV umverteilend und solidarisch ist.
      Die 2. Säule zementiert hingegen Ungleichheiten zwischen Einkommensklassen und Geschlechter – ja diese Ungleichheiten werden sogar ausgebaut. Dies ist nicht eine Phantasie von uns, sondern wird z.B. auch von der NZZ am Sonntag vom 6. Mai 2017 bzw. der Credit Suisse bestätigt: https://nzzas.nzz.ch/notizen/zweite-saeule-erreicht-viele-rentner-nicht-ld.1291020
      Die NZZ legt in diesem Artikel ganz klar dar, wie das 3-Säulen-Modell nicht wie ursprünglich vorgesehen die Eigenverantwortung stärkt, sondern vor allem entsolidarisiert und die Lohnabhängigen benachteiligt. Insbesondere Frauen werden wegen aufgezwungenen Minilöhnen und Teilzeitarbeit krass diskriminiert. Deshalb ist die 2. Säule sexistisch.
      Niemand weiss, wieso die NZZ – nachdem sie dargelegt hat, dass die Pensionskassen für einen gewichtigen Teil der Bevölkerung wenig bis nichts zu ihrer Rente beitragen – am Schluss trotzdem sagt, dass man 3-Säulen braucht. Nun gut, man weiss es schon: denn die privaten Versicherungen und Pensionskassen (u.a. ihr Verband) profitieren ganz schön von diesem System. Wir Lohnabhängigen haben aber das Nachsehen.
      Weil das 3-Säulen-Modell von Grund auf unsozial ist, reden Sie auch nicht von konkreten Vorteilen des 3-Säulen-Modells, sondern verirren sich in Allegorien von «Schrauben, Gewinden und Feinjustierungen».
      Können Sie uns erklären, warum wir eine 2. Säule brauchen, wenn die Zürich Insurance und die Baloise – wie Sie wissen beides grosse Player im Business der 2. und 3. Säule – im Zeitraum 2007-2016 auf dem 1. und 4. Rang stehen in Bezug auf die Dividendenausschüttungen (wie Sie ebenfalls wissen, sind Dividendennotabene nicht AHV-pflichtig)?
      Und nachdem wir nun festgestellt haben, dass sich die kapitalistischen Versicherungsunternehmen und Pensionskassen dank unseren Rentenzahlungen horrende Dividenden auszahlen und so die Sozialversicherungsabgaben umgehen: Wie kann ihr Verband es dann wagen zu behaupten, die AHV sei unsicher, da sie Defizite schreibt?
      Ihr Redaktionsteam von sozialismus.ch

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert