Menu Schließen

Venezuela: Autoritäre Tendenzen eines geschwächten Regimes

Im Konflikt mit der Opposition greift der venezolanische Präsident Nicolas Maduro zu immer autoritäreren Massnahmen. Eine linke Kritik an diesem Vorgehen ist vor allem im deutschsprachigen Raum kaum zu hören. Im Gegenteil: Für viele Linke kommt jegliche Kritik an der Regierung einem Verrat an der sogenannten „bolivarischen Revolution“ und somit einer Unterstützung der neoliberalen und reaktionären Opposition gleich. Dabei geht vergessen, dass die Kritik auch aus dem linken Lager kommt (und kommen soll), von Organisationen und Einzelpersonen, die weder die Regierung noch die neoliberale Opposition unterstützen. In dem hier publizierten Artikel umreisst Pablo Stefanoni, Herausgeber der linken Zeitschrift „Nueva Sociedad“, die sozialpolitische Lage in Venezuela. Was in dem Artikel fehlt, ist eine Diskussion der politischen Perspektiven für eine Linke, die eine Alternative zur Regierungspolitik und zur Opposition repräsentieren möchte. Wir werden in späteren Artikeln darauf zurückkommen. (Red.)
von Pablo Stefanoni; aus rebelion.org
Als es den Anschein machte, als ob der Chavismus im Niedergang begriffen sei, und der venezolanische Präsident nun endgültig die Initiative verloren habe, rief die bolivarische Regierung zur Wahl einer „kommunalen“ Verfassungsgebenden Nationalversammlung auf und setzte den ganzen Staatsapparat ein, um ein Projekt umzusetzen, das seltsamerweise jene Verfassung missachtet, die von Hugo Chavez in Person als „die beste der Welt“ bezeichnet worden war. Die bolivarische Revolution ist weit von ihren Glanzzeiten entfernt, als Chavez noch auf jede Herausforderung der Opposition mit Massendemonstrationen antwortete – und vor allem in der Lage war, mit grosser Mehrheit Wahlen zu gewinnen.

Ohne Mehrheit regieren

Maduros Problem ist, dass er die Mehrheit der Wählerschaft nicht hinter sich hat. Es wurde somit bewiesen, dass auf plebiszitäre Weise nicht zu regieren ist, ohne die Unterstützung des Volkes zu haben. So musste Maduro nicht nur ein Referendum, das seine Amtsabgabe verlangte, unterbinden. Er musste auch die regionalen Wahlen von Ende 2016 auf unbestimmte Zeit verschieben, um eine Niederlage an den Urnen zu vermeiden. Es wurden sogar die Wahlen in den Gewerkschaften der nationalen Erdölgesellschaft PDVSA annulliert. Wenn der Sozialismus von Lenin die „Sowjets plus Elektrifizierung“ [Verweis auf einen Satz Lenins: „Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“, Anm. d. Red.] war, dann war der Sozialismus von Chavez „Erdöl plus Charisma“. Und Maduro fehlt das zweite und er musste zudem zusehen, wie sich die Preise des ersten um die Hälfte reduzierten.
Kurz vor seinem Tod ernannte Chavez Nicolas Maduro zu seinem Nachfolger. Maduro war ehemaliger Gewerkschaftler und hatte eine lange Vergangenheit in chavistischen Organisationen. Die Unterstützung durch seinen Vorgänger war Maduros wichtigster Pluspunkt bei den Wahlen und er musste die Verbindung zum verstorbenen „Commandante“ hochstilisieren, bis diese nahezu übernatürliche Züge erhielt [so meinte er beispielsweise, der tote Chavez sei ihm als Vogel begegnet und habe zu ihm gesprochen, Anm. d. Red.]. Doch selbst so gewann er die Wahlen nur mit einem geringen Vorsprung (50,61% gegen 49,12%) gegen seinen Kontrahenten Henrique Capriles von der „Mesa de Unidad Democratica“ (MUD). Aber die grösste Niederlage an den Urnen fand bei den Parlamentswahlen von 2015 statt, als drei Fünftel der Nationalversammlung von der Opposition besetzt wurden. Mit nahezu zwei Millionen Wählerstimmen Rückstand verlor der Chavismus die wichtige Zweidrittelmehrheit im Parlament. Innerhalb der Opposition setzte sich die Sicht von Henrique Capriles durch. Dieser möchte die Regierung an den Urnen besiegen, während andere Oppositionsvertreter*innen auf Demonstrationen und Proteste setzen, um die Regierung zu entmachten. Dabei handelte es sich um Demonstrationen, welche als „der Ausweg“ bezeichnet wurden, und mit mehr als 40 Toten endeten. Als Folge dessen wurde der zweite wichtige Leader der Opposition, Leopoldo Lopez, durch ein Gericht, dessen Unabhängigkeit zu bezweifeln ist, zu 13 Jahren Haft verurteilt.
Als Folge der Niederlage bei den Parlamentswahlen entschied sich die Regierung für eine Form der Machtausübung, die auf die populäre Unterstützung verzichten konnte. Der erste Schritt in diese Richtung war die Annahme eines Dekrets über den nationalen Ausnahmezustand und den ökonomischen Notstand im Mai 2016. Dies war ein Dekret, das dem Präsidenten nicht nur unbegrenzte Kompetenzen übertrug, um dem sogenannten „ökonomischen Krieg“ der Opposition entgegenzutreten, sondern auch die Kontrollfunktionen des Parlamentes beschnitt, die Produktions- und Verteilungsketten von Nahrungsmitteln militarisierte und Zivilist*innen befähigte, Sicherheitsaufgaben zu übernehmen. Dieses Dekret ersetzte faktisch die Verfassung als rechtliche Grundlage des Landes, weshalb Menschenrechtsorganisationen auch vom „Reissen des verfassungsrechtlichen Fadens“ sprechen.
Die Mehrheit der Opposition provozierte ihrerseits einen Machtkampf. Die Nationalversammlung versuchte, ein Amtsenthebungsverfahren durchzubringen, das von der Verfassung so nicht vorgesehen ist und die Regierung blockierte jegliche parlamentarischen Entscheidungen. Dem Kongress gelang es nicht, eine Amnestie für Lopez zu erreichen, der im Militärgefängnis von Ramo Verde inhaftiert ist. Gleichzeitig erschienen mit dem Sieg der Opposition erneut alte Figuren auf der Bildfläche, wie beispielsweise der Präsident der Nationalversammlung Julio Borges, ein Veteran von „Primero Justicia“ [eine alte rechtsliberale Partei, Anm. d. Red.], sowie junge Abgeordnete wie Freddy Guevara oder Maria Corina Machado, welche Lopez die Führerschaft der Opposition streitig machen.
Mit dem Argument, drei Abgeordnete des Bundesstaates Amazonia seien auf irreguläre Weise gewählt worden, begann ein Kampf zwischen der Legislative und der Judikative, welche im März 2017 mit dem gescheiterten Versuch des Obersten Gerichtshofes, die Funktionen des Parlaments zu übernehmen, endete. Nachdem die Generalstaatsanwältin der Republik, Luisa Ortega [eine bekennende Chavistin, die mittlerweile auch abgesetzt wurde und die mit angeblich brisantem Material, das Korruption auf höchsten Regierungsebenen beweisen soll, fernsehreif nach Kolumbien flüchtete, Anm. d. Red.], das Reissen des verfassungsrechtlichen Fadens feststellte, wurden die Konflikte innerhalb der Regierung offensichtlich. Die Regierung musste nachgeben und erhielt starke internationale Kritik.
In diesem angespannten Klima unternahm der Vorsitzende der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), Luis Almagro, eine Reihe von Versuchen, Venezuela durch diese Organisation zu verurteilen. Diesen Versuchen mangelte es oft an diplomatischem Takt und sie endeten in verbalen Duellen mit der venezolanischen Aussenministerin Delcy Rodriguez. Der Schlusspunkt dieser Geschichte war die Entscheidung Maduros, die OAS zu verlassen, indem er sich der an Che Guevarra angelehnten Rhetorik über die OAS als „Aussenministerium der USA“ bediente.

Bewaffnung der Bevölkerung

Diese Krise begünstigte eine neue Protestwelle der Opposition mit einer Teilnehmer*innenzahl, die mittlerweile die grossen Demonstrationen der Regierungsanhänger*innen übertraf. Die Regierung antwortete mit ihrem gewaltsamen Repressionsapparat, der sich aus Polizeikräften aber auch aus den sogenannten „Collectivos“ zusammensetzt. Diese „Collectivos“ bestehen aus heterogenen Gruppen von bewaffneten Aktivist*innen, die nicht immer gut untereinander auskommen. So beschuldigte beispielsweise die Gruppe „Tupamaro“, welche aus Guerillaorganisationen aus den Siebzigerjahren entstanden ist, die Gruppe „La Piedrita“, weil sie angeblich von der CIA infiltriert sei. Das Quartier „23 de enero“ der Hauptstadt Caracas ist eines der Bastionen dieses bewaffneten Chavismus.
Ausserdem rief Maduro im April dazu auf, die Zahl der bolivarianischen Milizen auf eine halbe Million aufzustocken. Diese Milizen wurden 2010 von Chavez als Unterstützer der Streitkräfte gegründet und sind zahlenmässig grösser als die „Collectivos“, ihre Funktion ist aber mehr symbolischer Natur. Vor Tausenden Milizangehörigen versprach der Präsident „ein Gewehr für jeden Milizionär, ein Gewehr für jede Milizionärin“.
Der Chavismus verschmilzt den Staatsstreich gegen Salvador Allende in Chile, die Farbrevolutionen in Osteuropa und die Entwicklungen in Syrien und Libyen zu einer antiimperialistischen Erzählung, welche die „Volksbewaffnung“ rechtfertigen soll. Aus Sicht der Opposition handelt es sich bei den Milizen aber lediglich um eine paramilitärische Kraft, welche im Widerspruch zur Demokratie und zum Rechtstaat steht. Beide Lager können auf empirische Fakten zurückgreifen, um ihre Anklagen und Befürchtungen zu stützen. Sicher ist jedoch, dass die Bilder der Repression auf einen Bruch mit dem „Chavismus von Chavez“ hindeuten, denn dieser versuchte stets, die direkte Repression zu vermeiden. Dadurch wurden die kritischen Stimmen im Ausland stärker, die sich in den grossen Medien, welche anti-chavistisch sind, bemerkbar machen.
Das Venezuela von heute kombiniert eine Reihe von Krisen, die sich überlagern und schwierig zu lösen sind. Das BIP wird 2017 nach Angaben des Internationalen Währungsfonds voraussichtlich um 7,4% fallen, und dies nach einem Fall von 18% im Jahr 2016. Hinzu kommt eine Inflation von ca. 800% (es gibt keine offiziellen Zahlen mehr dazu). Die Inflation und die Rezession neutralisierten die Fortschritte bei der Armutsbekämpfung in einem Kontext, der durch einen Mangel an Konsumgütern sowie einer brutalen Krise des Gesundheitswesens gekennzeichnet ist. Dies desorganisierte die Arbeiter*innenviertel, wo die Leute nicht nur Schlange stehen müssen, sondern viele auch damit begannen, rationierte Produkte auf dem Schwarzmarkt weiterzuverkaufen (sogenanntes „bachaqueo“). Nichtsdestotrotz gingen die Leute aus den Armenvierteln nicht massenweise auf die Strasse, sonst wäre Maduros Machterhalt unmöglich gewesen. Zweifellos erklärt die hohe Resignation, die Suche nach individuellen Auswegen aus der schwierigen Lage, der verbleibende Chavez-Kult und das fehlende Vertrauen in die Opposition (diese konzentriert sich auf politische Forderungen und ihr ökonomisches Programm ist schwammig) teilweise diese Haltung. Doch es gibt auch Druck vonseiten der Kollektive und „materielle“ Formen der Kontrolle durch die „Comités Locales de Abastecimiento y Producción (CLAP)“ [deutsch: lokale Versorgungs- und Produktionskomitees, Anm. d. Red.], welche Nahrungsmittel in den Armenvierteln bereitstellen und eine traditionelle Basis der Regierung sind.
Heute dominieren in den Arbeiter*innenvierteln die Nostalgie und die Unzufriedenheit. Doch diese Unzufriedenheit schlägt nicht in Unterstützung der Opposition um. Viele beteiligten sich nicht an den Wahlen von 2015. Im Quartier „23 de Enero“ ist Chavez der „Heilige Hugo Chavez vom 23.“. Wie ein Bewohner dieses Quartiers dem Sender BBC mitteilte: „Heute werde ich nicht für die Opposition wählen, aber noch weniger für Maduro“. Und in diesem „noch weniger“ steckt der Schlüssel zum Verständnis der aktuellen Gemütslage.
Das ökonomische Chaos und insbesondere die Wechselkurse, welche von 10 Bolivars pro Dollar (für Importe von Medikamenten und Grundnahrungsmittel) über 700 Bolivars pro Dollar bis zu 5’000 Bolivars pro Dollar (auf dem Schwarzmarkt) gehen, fördern die Korruption. Diese Wechselkurse begünstigen die Entstehung von sogenannten „Geldbörsenunternehmen“, welche mit dem Zweck gegründet werden, Dollars zum offiziellen Wechselkurs zu kaufen, indem der Import von Grundnahrungsmitteln vorgegaukelt wird. Dabei handelt es sich um einen Mechanismus, durch welchen sich die „Bolibourgeoisie“ [Begriff für die durch den bolivarianischen Prozess neu entstandene Elite, Anm. d. Red.] bereichert, zu der auch Mitglieder des Militärs und der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) gehören.
Es ist nicht so, wie manche Leute schreiben, dass die Militärangehörigen Maduro „unterstützen“. Sie sind organischer Teil eines wahrhaftigen „militärischen Sozialismus“. Sie besitzen gar eine eigene Bank, die Bank der bolivarianischen Streitkräfte (Banfanb), welche 2013 gegründet wurde. Der Soziologe Edgardo Lander erklärt, dass während der Regierung von Maduro die Militarisierung vorangeschritten sei, wahrscheinlich weil Maduro nicht aus Militärkreisen kommt und sich die Unterstützung der Streitkräfte sichern musste, indem er sie in den Machtapparat integrierte und ihnen mehr Privilegien gewährte. Es wurden Unternehmen von Militärangehörigen gegründet und aktuell sind ein Drittel der Minister und die Hälfte der Gouverneure Militärs. Sie sitzen in Schlüsselpositionen der öffentlichen Verwaltung, dort wo es das grösste Niveau an Korruption gibt: im Bereich der Devisenverteilung, der Häfen und der Nahrungsmittelverteilung.“

Wie aber gelingt es Maduro, seine Macht zu behalten?

Aber die Frage ist nun: Weshalb kann Maduro seine Position noch halten? „Weshalb lässt die politische und militärische Elite trotz des Chaos und der Gewaltspirale zwischen Demonstrant*innen und der Polizei den Präsidenten nicht fallen?“, wurde in einem kürzlich in der New York Times erschienenen Artikel gefragt.
„Das Land wäre eigentlich das perfekte Beispiel für das, was Akademiker*innen das ‚Auseinanderbrechen der Elite’ nennen, wenn sich ein genügend grosser Teil von Funktionären von der Macht distanziert und einen Führungswechsel erzwingt“, so der Artikel weiter. „Das grösste Rätsel ist, weshalb dies in den letzten Jahren nicht geschehen ist“, meint Steven Levitsky, Politologe der Universität Harvard. „Würde es kommende Woche geschehen, würden alle sagen, dass es unvermeidlich gewesen war.“
Aber bisher ist es nicht geschehen. Die Opposition beschränkt sich lediglich auf die Aussage, Maduro habe die Macht noch nicht verloren, „weil Venezuela eine Diktatur ist“. Der Jesuit Luis Ugalde sagte in einem Diskussionsforum, dass die Maduro-Regierung seinen diktatorischen Charakter bewiesen habe, und er rief zu einer Übergangsregierung auf, wie sie nach dem Staatsstreich von 1958 eingesetzt wurde. Damals wurde wieder ein demokratisches Regime eingeführt. Der Opposition haftet allerdings auch ein Stigma an, weil sie 2002 einen Putschversuch gegen Hugo Chavez unternommen hatte. Selbst wenn Henrique Capriles auf ein demokratisches Regime setzt, sorgt die Regierung dafür, dass die Tage des gescheiterten Staatsstreiches in den Köpfen der Menschen präsent bleiben, als tatsächlich populäre Sektoren auf massive Weise ihre Quartiere auf den Hügeln der Grossstädte verliessen, um Chavez wieder an seinen Schreibtisch im Präsidentenpalast zu setzen.
Venezuela ist ohne Zweifel keine Diktatur im engeren Sinne. Das Land weist Elemente einer „autoritären Demokratie“ auf wie Viktor Orban in Ungarn oder Vladimir Putin in Russland. Aber im Unterschied zu diesen beiden hat die Regierung die Fähigkeit verloren, Wahlen zu gewinnen. Die Besonderheit von Venezuela ist eine Art „chaotischer Autoritarismus“. Zwar wird dadurch die herrschende Ideologie der Regierung geschwächt und die Möglichkeit zur Kooptation der Wähler*innen vermindert, weshalb sich die Repression verstärken muss. Aber wie lange kann die Repression zunehmen, ohne einen Bruch innerhalb der Streitkräfte herbeizuführen? Tatsächlich hat die herrschende Ideologie weiterhin eine gewisse Wirkung. „Es ist schwieriger zu desertieren, wenn die andere Seite ein wirklicher Feind ist“, sagt Levitsky. „Zur Opposition überzugehen entspricht weiterhin einem Verrat. In diesem Klima ist eine Desertion schwieriger.“
Es muss festgehalten werden, dass sich Maduro bisher – und wir wissen nicht wie lange noch – durch folgende Elemente an der Macht hält: Erlöse aus dem Erdölexport, die direkt in die öffentlichen Kassen gelangen (selbst wenn die Erdölpreise gesunken sind, bleiben die Erdölexporte eine wichtige Einnahmequelle, welche direkt in die Hände der Regierung fliessen); eine organische Eingliederung der Militärs, was ihre direkte Beteiligung in der Wirtschaft und dem Staatsapparat bedeutet; populäre Schichten, die sich Tag für Tag von der Regierung distanzieren, aber nicht ausserhalb jeglicher Kontrolle sind; eine starke Minderheit von Chavist*innen, die mit dem Staatsapparat verknüpft sind; und schlussendlich eine gespaltene Opposition, selbst wenn alle Gegner*innen der Regierung unter dem Banner der MUD handeln.
In diesem Kontext versuchen Organisationen wie die „Marea Socialista“ [eine linke Gruppierung, die sich als chavistisch bezeichnet und eine Alternative zur Regierungspartei PSUV und der Opposition repräsentieren möchte, Anm. d. Red.] oder die Menschenrechtsorganisation Provea, eine autonome Position zu repräsentieren: Sie verteidigen die Verfassung und eine Übereinkunft, welche den Rechtsstaat wiedereinführt und Wahlen ermöglichen soll.
Die Initiative zur Einberufung der „kommunalen“ Verfassungsgebenden Nationalversammlung – wovon die Hälfte der 500 Mitglieder durch Kommunen, Gewerkschaften und andere Massenorganisationen gestellt werden sollte – scheint nicht zur Normalisierung der Lage beizutragen. Selbst wenn die Durchführung der Wahlen legal ist, ist diese korporatistische Vertretung von der bestehenden Verfassung nicht vorgesehen. Auf der anderen Seite wurde deutlich, dass keine Mechanismen existieren, um diese Formen der „Demokratie von unten“ transparent zu gestalten und den politischen Pluralismus zu bewahren (was keinem einfachen „Liberalismus“ gleichkommen muss). Die Kommunen sind Instanzen einer gewissen lokalen Selbstverwaltung, aber sie sind finanziell und politisch mit der Regierung verknotet. Es ist wahrscheinlich, dass diese Verfassungsgebende Nationalversammlung mehr der libyschen Dschamahirija gleichen wird – jene Parodie der Massendemokratie, welche von Al-Gaddafi orchestriert wurde – und keine wirkliche Demokratisierung in Gang setzen wird. Dies wird durch den immer stärker werden Castrismus des politischen Regimes in Venezuela bestätigt. Rituale wie das „chavistische Vaterunser“ sind nur ein Teil einer Tendenz, welche zwar schon in den Keimen des Chavismus angesiedelt war, jedoch in seinen Anfangsjahren von den demokratischen Tendenzen des traditionellen lateinamerikanischen Populismus abgeschwächt wurde.

Perspektiven der Verfassungsgebenden Nationalversammlung

Der Soziologe Edgardo Lander fasste kürzlich die Situation zusammen: Würden die Wahlen zur Verfassungsgebenden Nationalversammlung nach den Regeln der repräsentativen Demokratie durchgeführt, würde die Opposition mit grossem Vorsprung gewinnen. „Diese Nationalversammlung würde die allgemeine Stimmung in der heutigen Gesellschaft widerspiegeln, wonach der öffentliche Sektor gezwungenermassen ineffizient und korrupt ist. Es steht nahezu festgeschrieben, dass diese Versammlung eine klar neoliberale Orientierung erhalten wird.“ Wenn hingegen zu einer manipulierten Wahl aufgerufen wird, wäre das Resultat nicht besser. „Es wäre nicht nur ein verfassungswidriger Prozess, sondern ebenfalls ein illegitimer, der weit davon entfernt ist, zu Pazifizierung der Gesellschaft beizutragen und vielmehr die Spaltung, die Konfrontation und die Gewalt schüren wird. Es könnte gar der Anfang eines Bürgerkrieges sein.“ Tatsächlich stehen die Waffen in grosser Zahl für alle Banden zur Verfügung. Und als ob nicht schon genug Öl ins Feuer gegossen wird, leistet der kolumbianische ex-Präsident Alvaro Uribe täglich auch noch seinen Beitrag, indem er die Maduro-Regierung rhetorisch angreift und so den Vorwurf Maduros bestärkt, wonach kolumbianische Paramilitärs die Regierung zu destabilisieren versuchen.
Wie könnte die Verfassungsgebende Nationalversammlung eine neue Grundlage schaffen, wenn das bolivarianische Projekt, so wie wir es bisher kannten, im Niedergang begriffen ist? Die einzige Wahlniederlage von Chavez fand 2007 statt, als er Formen des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts in der neuen Verfassung verankern wollte und das Referendum verlor. Wird Maduro versuchen, ein kommunales System durchzusetzen, das den „liberalen Parlamentarismus“ ersetzt? Es gibt wenig Anzeichen, die darauf hindeuten, dass ein derartiges Projekt in eine Gesellschaft passen würde, die weiterhin zutiefst kapitalistisch ist. Vielleicht geht es ihm darum, Zeit zu gewinnen. Aber auch dann bleibt unklar, wie die Regierung das Wahljahr 2018 in Angriff nehmen soll. Es ist eine Sache, Regionalwahlen zu verschieben, aber eine andere, Präsidentschaftswahlen aufzuschieben. Unter dem Strich entstanden alle Revolutionen der lateinamerikanischen Linke der letzten zwei Jahrzehnten an den Urnen und sie legitimierten sich stets durch das regelmässige Bad in der Menschenmenge. Ohne diese beiden Aspekte wird diese Revolution zu einem Realsozialismus des 20. Jahrhunderts und zu keiner radikalen Demokratie, wie sie für den Sozialismus 21. Jahrhunderts versprochen wurde. Wie Chavez 1999 mit einem Zitat von Francisco Miranda meinte: „Venezuela ist im Herzen verletzt“. Diese Verletzung führte zu Chavez’ eigener Machtergreifung, verkündet aber auf jedem Fall eine düstere Zukunft.
Übersetzung durch BFS Basel.

Verwandte Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert