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Brasilien: Soziale und ökonomische Rückschritte

Im August 2016 wurde die damalige brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff vom Parlament ihres Amtes enthoben. Seither setzt der amtierende Präsident Michel Temer neoliberale Gegenreformen durch, welche die sozialen Rechte der Lohnabhängigen massiv beschneiden. Dieser Artikel beschreibt den aktuellen politischen Kontext Brasiliens und diskutiert Perspektiven des Widerstandes. (Red.)
von Lucas Marcondes, aus sozonline.de
Seit dem parlamentarischen Coup von 2016 gibt es politisch immer mehr Rückschritte in Brasilien. Das Land, das seine koloniale Struktur nie überwunden hat, dessen Gesellschaft von starker Ungleichheit geprägt ist und alle möglichen Formen von Unterdrückung und Ausbeutung kennt, geht derzeit einen skandalösen Krebsgang.
Mit jedem Tag wird es klarer, dass der Coup gegen die Präsidentin vor allem ein Ziel hatte: Es ging nie um Korruption – das zeigte auch der Freispruch Dilma Roussefs durch den Obersten Brasilianischen Gerichtsbarkeit –, sondern darum, eine ökonomische und politische Agenda durchzuziehen, die auf dem Weg demokratischer Wahlen niemals hätte durchgesetzt werden können.
Seit die Regierung von Roussefs Vizepräsidenten Michel Temer übernommen wurde, ist es den oligarchischen Schichten Brasiliens gelungen, einige große Angriffe gegen die Arbeiterklasse zu fahren. Der bedeutendste ist bislang die sog. Arbeitsrechtsreform, für die die Verfassung geändert werden musste. Seit letztem Monat haben private Verhandlungen zwischen Unternehmern und Beschäftigten einen höheren Stellenwert als jede gesetzliche Garantie von Arbeitsrechten.
Garantierte Rechte wie der Mindestlohn, die wöchentliche Höchstarbeitszeit von 44 Stunden, Anspruch auf Urlaub, die höhere Bezahlung von Überstunden und das Recht auf eine Stunde Mittagspause sind von nun an gefährdet. Viele Unternehmen, so die private Universität Estácio de Sá, sind systematisch dabei, all ihre Arbeiter zu entlassen und neue einzustellen, die dann neue Verhandlungen führen müssen und unter die neuen Arbeitsbedingungen fallen.
Im Fall der Universität haben an einem einzigen Tag 1200 Beschäftigte ihre Arbeit verloren. Andere Erfolge der putschistischen Regierung beinhalten das Verbot, in den nächsten zwanzig Jahren mehr öffentliche Investitionen in Erziehung und Gesundheit zu tätigen, und eine Änderung der rechtlichen Definition von Sklavenarbeit: Die neue Definition erlaubt nun, dass Landarbeiter nicht mit Geld, sondern mit selbst hergestellten Lebensmitteln bezahlt werden.
Und weil es immer noch schlimmer kommen kann, ist das nächste vorrangige Ziel, das die Regierung Temer ansteuert, die Rentenreform. Diese Rentenreform klammert natürlich das Militär und die Parlamentsabgeordneten aus.
Da die sozialen und ökonomischen Angriffe erfolgreich sind, ist es keine Überraschung, dass sie zudem von einer steigenden reaktionären Welle getragen werden. Die Demonstrationen für den Putsch waren zwar vielfältig, wurden aber hauptsächlich von der Mittelklasse getragen, in manchen Fällen wurde sogar die Rückkehr zur Militärdiktatur gefordert, die das Land von 1964 bis 1985 regiert hat.
Zu den aktuellen politischen Rückschritten gehört auch, dass ein Reservegeneral einen Leitartikel für eine der größten Zeitungen des Landes verfasst hat, in dem er meint, die Armee könne sich wieder in die brasilianische Politik «einmischen», wenn die Lage sich nicht schnell genug stabilisiere – und wenn die Linke wieder erstarke. Oder ein Verteidiger der Diktatur, der in den Umfragen über die Wahlabsichten bei den kommenden Parlamentswahlen im nächsten Jahr auf das zweithöchste Stimmenergebnis kommt. Quere Kunstausstellungen werden geschlossen unter dem Vorwand, sie seien unmoralisch. Während der Monate, als für die Amtsenthebung von Dilma Youssef demonstriert wurde, wurden viele Menschen auf der Straße allein deshalb angegriffen, weil sie ein rotes T-Shirt trugen.

Zurück in die Kolonialzeit

Wie ist Brasilien in diese Lage geraten? So traurig es ist, so muss doch gesagt werden, dass dies auch eine Folge der sog. Win-Win-Politik der Arbeiterpartei (PT) seit Lulas Amtsantritt im Jahr 2002 ist. Die PT entstand in den frühen 80er Jahren als die erste große, unabhängige Massenpartei der brasilianischen Arbeiterklasse und als Teil eines Streikzyklus, der mit dem Sturz der Diktatur endete.
Nach den 90er Jahren hatte die Partei ihre Gründungsprinzipien jedoch nicht mehr im Auge. Um gewählt zu werden, haben Lula und die PT die Strategie einer «weniger ungleichen kapitalistischen Entwicklung» verfolgt und sich dafür mit Teilen des oligarchischen Systems verbündet. Das erklärt, wie es sein kann, dass Roussefs Vizepräsident Michel Temer von einer der konservativsten Parteien des Landes, der PMDB, kommt, die seit der Wiedereinführung von Wahlen 1989 permanent die Mehrheit im Parlament hat und sich vor allem aus Grundbesitzern, christlichen Fundamentalisten und Teilen der industriellen Bourgeoisie zusammensetzt.
Das Problem mit dieser Strategie ist, dass sie bis 2008 vielleicht machbar schien, seit der Vertiefung der Wirtschaftskrise jedoch unmöglich geworden ist. Die PT-Regierungen haben zwei Spuren hinterlassen:
Zum einen haben sie alle wirtschaftspolitischen Massnahmen früherer neoliberaler Regierung fortgeführt: Privatisierung, De-Industrialisierung und die Rückkehr Brasiliens zu einer vorwiegend (agrarische) Rohstoffe exportierenden Wirtschaft, wie zur Kolonialzeit. Da es auf dem Weltmarkt gutes Geld für Waren wie Soja gab, baute die PT die Position Brasiliens als Rohstoffexporteur aus. In den 90er Jahren ist deshalb die Arbeitslosigkeit explodiert, und es hat sich der Drogenhandel entwickelt. Lula erinnert auch bei jeder Gelegenheit daran, dass die brasilianischen Banken nie so viel Profit gemacht haben wie in seiner Regierungszeit.
Zum anderen aber, und das sollte man nicht vergessen, wenn man die Dynamik des Klassenkampfs in Brasilien und in Lateinamerika verstehen will, hat die PT zugleich die Lebensbedingungen bedeutender Teile der Arbeiterklasse verbessert. Sozialpolitik war ein wichtiges Anliegen der PT-geführten Regierungen, der Mindestlohn wurde angehoben und die Arbeitslosenrate spürbar gesenkt. Da die Wirtschaft wuchs und es eine stabile PT-PMDB-Koalition gab, konnten Kredite aufgenommen werden, was das Familieneinkommen und den Konsum kurzfristig anhob. Das ist der Grund, warum wir die Auffassung vertreten, dass die PT-Regierungen, gestützt auf Klassenzusammenarbeit, sozial-liberal waren.

Das Ende der glücklichen Ehe von PT und PMDB

Um die derzeitige Krise in Brasilien zu verstehen, muss man jedoch auch die komplexen Zusammenhänge beachten. Wenn die PT keines der bürgerlichen Interessen bekämpft hat, warum musste Roussef dann vom Parlament ihres Amtes enthoben werden? Was ging in der brasilianischen Gesellschaft vor sich, dass die glückliche Ehe von PT und PMDB ein Ende fand?
Die Wende in der brasilianischen Politik fand im Verlauf der Märsche vom Juni 2013 statt. In dem Jahr explodierten die Proteste, scheinbar aus heiterem Himmel. Sie wurden zumeist von jungen Leute angeführt und von internationalen Vorbildern inspiriert. Die Demonstrationen begannen mit dem Protest gegen Tariferhöhungen im öffentlichen Nahverkehr um 0,20 Reais (etwa 5 Cent). Am Ende aber waren Millionen Menschen auf der Straße, die ganz allgemein bessere Lebensbedingungen verlangten – eine erste Antwort auf die ersten Auswirkungen der globalen Wirtschaftskrise.
Diese Ereignisse führten eine entscheidende politische Wende herbei. Bis dahin hatte die PT gezeigt, dass sie absolut in der Lage war, die soziale Unzufriedenheit durch ihre fast vollständige bürokratische Kontrolle der sozialen Bewegungen im Zaum zu halten. Aber da die junge Generation keine Erinnerung daran hatte, was die PT in ihrer Gründungszeit einmal gewesen war, hing sie nicht so sehr an dem, was aus ihr geworden ist.
Jugendbewegungen verbreiteten eine Welle von Demonstrationen, die meist nicht von einer besonderen Partei oder Organisation geführt wurden. 2013 wurde der Satz: «Politische Parteien beteiligen sich an Kämpfen nur, um sie zu vereinnahmen und das Wasser auf die eigenen Mühlen zu lenken» zu einem geflügelten Wort unter avantgardistische Linken, nicht wenige Organisationen der radikalen Linken, zeitweise selbst meine Organisation, Insurgência, gaben dem organisationsfeindlichen, antidemokratischen Impuls nach. Es war die extreme Rechte, die daraus Honig gesaugt hat.
Zwei wichtige Veränderungen waren die Folge: Erstens wurde nun sichtbar, dass die PT einen wichtigen Teil der Arbeiterjugend nicht mehr unter Kontrolle hatte. Zweitens boten diese Jugendlichen, die eine politische Organisierung ablehnten, einen fruchtbaren Boden für die Rechte, die darauf wachsen oder zumindest der PT die Hegemonie streitig machen konnte. Wenn die PT aber nicht mehr in der Lage war, die Gesellschaft stabil zu halten, damit andere in Ruhe Geschäfte machen konnten, dann war sie als Partner in der Koalition nutzlos, daher also der Coup. Die Bourgeoisie entschied, die Führung des Landes der PT zu entziehen und selbst in die Hand zu nehmen, gleich mit welchen Mitteln.

«Volk ohne Furcht»

Für unsere Organisation ist die Antwort auf die aktuelle Lage klar: Der Augenblick verlangt eine Einheitsfront wie die Frente Povo Sem Medo (FPSM, Front «Volk ohne Furcht») – eine Massenfront, die sich zusammensetzt aus der PSOL (Partei des Sozialismus und der Freiheit), der MTST (Bewegung der Obdachlosen, die größte unabhängige linke sozialistische Bewegung im Land mit Tausenden Aktiven), der PCdoB (Kommunistische Partei Brasiliens), Teilen der PT und vielen anderen sozialen Bewegungen und Unterstützern.
Diese Front hat die meisten Demonstrationen und Widerstandsaktionen gegen die Angriffe und den Putsch organisiert haben. Die FPSM war auch führend am Generalstreik im April 2017 beteiligt und hat die Demonstrationen am 5.Dezember aufrechterhalten, obwohl die PT den für diesen Tag vorgesehenen Generalstreikabgeblasen hatte. Wir fordern, dass die PT Teil des Widerstands gegen den sozialen Rückschritt ist, obwohl wir wissen, dass ihre Hauptsorge die Wiederwahl Lulas zum Präsidenten im nächsten Jahr ist (in den Umfragen liegt er vorn). Die ist auch der Grund dafür, dass sie solche Entscheidungen trifft wie die Absage des Generalstreiks.
Wie Trotzki über die Einheitsfront in Frankreich in den 20er Jahren sagte, müssen Revolutionäre um Einfluss in der Mehrheit der Arbeiterklasse kämpfen. Um das zu tun, müssen sie Verantwortung übernehmen und die Interessen unserer Klasse mit den Mitteln des Kampfes verteidigen, durch die aktive Verteidigung dieser. Gleichzeitig müssen wir – auch wenn wir selbst keine Illusionen haben, was von Reformisten zu erwarten ist – die Bedingungen dafür schaffen, dass die Arbeiterklasse zu denselben Schlussfolgerungen  gelangen kann und von Lula verlangt, mit uns zu kämpfen. Alternativen werden in Massenkämpfen geschaffen, nicht durch Propagandazirkel. Deshalb sollten wir mit der brasilianischen Arbeiterklasse solidarisch sein.

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