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Emanzipation? Einiges ist erreicht, vieles noch nicht!

Im Rahmen der im letzten Herbst von den stimmberechtigten Menschen in der Schweiz abgelehnten AHV-Initiative wurde unter anderem auch versucht, das Rentenalter der Frauen* auf jenes der Männer* (65) zu erhöhen. Neben den üblichen neoliberalen Argumenten (demographischer Wandel, Kostendruck) wurde auch mit der Gleichberechtigung der Frauen* argumentiert. „Frauen* möchten doch gleich behandelt werden“ war der gängige Slogan vieler Menschen jeglichen Geschlechts. Viele fragten sich auch, warum wir uns überhaupt gegen die Erhöhung des Rentenalters der Frauen* einsetzten. Die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern sei doch längst erreicht – warum also noch kämpfen?

von BFS Basel

Doch ist dies tatsächlich der Fall? Und selbst wenn Frauen* rechtlich komplett gleichberechtigt wären, wird diese Gleichberechtigung auch umgesetzt? Und selbst wenn diese Gleichberechtigung auf dem Papier tatsächlich auch in der Realität der Menschen umgesetzt werden würde, verschwänden dann jegliche Formen von geschlechterspezifischer Diskriminierung, Unterdrückung und Ausbeutung der Frauen*? Was bedeutet es eigentlich, als Frauen* in einer patriarchalen und kapitalistischen Gesellschaft unterdrückt und diskriminiert zu werden? Und können wir diesen Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnissen mit der Forderung nach Gleichberechtigung der Geschlechter begegnen?

Geschlechterspezifische Arbeitsteilung

Mit Beginn des industrialisierten Kapitalismus entstand parallel zur Lohnarbeit die räumliche und zeitliche Trennung zwischen der (sozialen) Reproduktion und der Lohnarbeit. (1) Die französische Feministin und Soziologin Danièle Kergoat (2) hat in ihren zahlreichen Arbeiten aufgezeigt, dass die geschlechtliche Arbeitsteilung aus dem Spannungsverhältnis zwischen den Geschlechtern über die Verteilung der Arbeit resultiert. Das bedeutet, dass den Geschlechtern bestimmte Aufgaben in der patriarchalen Gesellschaft zugeschrieben werden. Das sogenannte Teilungsprinzip ordnet Frauen* primär der Reproduktionssphäre zu und Männer* (3) primär der Produktionssphäre. Mit Reproduktionssphäre sind alle Arbeiten gemeint, die für die biologische und soziale Wiederherstellung der Menschen notwendig sind. Das sind zum Beispiel alle Arbeiten im Haushalt, die Betreuung von Kindern, älteren und kranken Menschen, aber auch die Erziehung und Ausbildung von Menschen. Mit der Produktionsarbeit sind jegliche Arbeiten gemeint, für die Lohn ausgezahlt wird, die sogenannte Lohnarbeit.

Doch warum werden eigentlich vor allem Frauen* der Reproduktionssphäre zugeordnet?

Ausgehend von der Tatsache, dass Frauen* Kinder gebären, wird behauptet, Frauen* könnten sich von Natur aus besser um Kinder und den Haushalt kümmern. Aufgrund dieser „natürlichen Veranlagung“ bräuchten sie für diese Tätigkeiten auch keine Ausbildung. Somit werden reproduktive Arbeiten als solche identifiziert, die keine Qualifikation benötigten. Für derart „unqualifizierte“ Arbeiten wird denn auch kein oder nur wenig Lohn gezahlt. Gleichzeitig benötigen Männer* für die Ausführung der Lohnarbeit eine Ausbildung, eine Qualifikation also. Aus dieser Logik heraus wird die Produktionsarbeit als qualitativ hochwertiger dargestellt als die Reproduktionsarbeit. Diese Zuschreibung von Aufgaben ist nicht neutral, sondern bewertend und hierarchisierend. Mit dem sogenannten Hierarchisierungsprinzip wird Frauen*arbeit gesellschaftlich als weniger wertvoll definiert als Männer*arbeit. Beide Prinzipien – das Teilungs- und Hierarchisierungsprinzip – führen zur geschlechterspezifischen Arbeitsteilung in der Gesellschaft.

Patriarchale Herrschaftsverhältnisse sind soziale Geschlechterverhältnisse

Zusammen mit der Kontrolle der weiblichen Fortpflanzung (und damit des Körpers und der Sexualität der Frauen*) bildet die geschlechterspezifische Arbeitsteilung die sozialen Geschlechterverhältnisse. Die sozialen Geschlechterverhältnisse sind ein soziales Verhältnis. Soziale Verhältnisse sind Verhältnisse zwischen sozialen Gruppen, die die Gesellschaft strukturieren. Es gibt viele verschiedene Formen von sozialen Verhältnissen: z.B. die sozialen Klassenverhältnisse, die sozialen Geschlechterverhältnisse oder soziale Verhältnisse zwischen ethnischen Gruppen.
Die sozialen Geschlechterverhältnisse durchziehen die gesamte Gesellschaft und bilden den Grundpfeiler der patriarchalen Herrschaftsverhältnisse. Besonders in der patriarchalen Kleinfamilie werden diese sozialen Geschlechterverhältnisse reproduziert. Frauen* bleiben zu Hause, sorgen für die Kinder und den Haushalt. Der Mann geht einer Lohnarbeit nach und bringt das Geld für die Ernährung der Familie heim. Die Frauen* stehen in einem ökonomischen Abhängigkeitsverhältnis zum Mann* – sie haben unterwürfig und demütig dem Hausherrn folgend zu sein. Dies sind Geschlechterbilder, die unsere Gesellschaft prägen und an denen die patriarchalen Herrschaftsverhältnisse sichtbar werden.
Es sind deswegen Herrschaftsverhältnisse, weil wir sie nicht einfach so überwinden können. Werden diese Geschlechterrollen nicht erfüllt, ecken wir in der Gesellschaft an. Wir bekommen latente oder offen physische oder psychische Gewalt zu spüren. Es wird uns gezeigt, dass wir uns anders verhalten sollten oder damit rechnen müssen, als „Andersartige“ vom Rest der Gesellschaft isoliert zu werden.

Feministische Kämpfe der 1970er Jahre – eine Revolte gegen die Geschlechterrollen

Aufgrund der spezifischen Rolle der Frauen* in der traditionellen, patriarchalen Kleinfamilie wurde ihnen vor allem der Platz am Herd und die Rolle der Mutter als Haupttätigkeit zugeschrieben. Unter anderem dagegen wurde von vielen Frauen* in den 1960er und 1970er Jahren revoltiert. Sie forderten ein Recht auf Lohnarbeit und eine Kollektivierung der Reproduktionsarbeit. Der bekannte Slogan aus einigen feministischen Kämpfen dieser Zeit – „Das Private ist politisch“ – drückt diese Forderungen aus. Die Reproduktionsarbeit sollte nicht mehr von den Frauen* allein im Privaten geleistet werden, sondern es wurden politische Massnahmen gefordert, die eine Verteilung der Reproduktionsarbeit auf alle Teile der Gesellschaft anstrebten.
Es kam zu einem massiven Ausbau von Krippenplätzen und der Ganztagsbetreuung von Schulkindern. Der massive Ausbau der Betreuungsangebote für Kinder bedeutete, dass viele Frauen* nicht mehr zu Hause bleiben mussten, sondern einer Lohnarbeit nachgehen konnten. Ökonomische Unabhängigkeit und berufliche Entwicklungsmöglichkeiten führten zu einem Bestärken des Selbstbewusstseins vieler Frauen*. Diese Entwicklungen sind sehr wertvoll und bestärken uns Frauen* in unserem Kampf nach Selbstbestimmung und gegen Diskriminierung und Unterdrückung.

Strukturelle Diskriminierung der Frauen* am Arbeitsmarkt als Teil der kapitalistischen Verwertungslogik

Anders als manche Personen jedoch behaupten, bedeutet der Zugang zum Arbeitsmarkt für Frauen* nicht, dass die patriarchalen Herrschaftsverhältnisse, wie die geschlechterspezifische Arbeitsteilung, aufgehoben wurden.
Es sind noch immer vor allem Frauen*, die für die Reproduktionsarbeit zuständig sind. Die Erwerbsquote der Frauen* in der Schweiz stieg zwar auf 60% an (2010), jedoch werden die Reproduktionsarbeiten in den privaten Haushalten nach wie vor zum Grossteil von Frauen* geleistet. Das bedeutet, dass viele Frauen* einen doppelten Arbeitsalltag haben: Sie gehen einer Lohnarbeit nach und kümmern sich zusätzlich um die privaten Reproduktionsarbeiten.
Gleichzeitig wird die Arbeit der Frauen* nach wie vor als weniger Wert angesehen. Dies zeigt sich unter anderem am massiven Lohnunterschied auch noch im 21. Jahrhundert von durchschnittlich circa 20% zwischen Männern* und Frauen* bei gleicher Tätigkeit. Ein weiteres Anzeichen für die andauernde strukturelle Diskriminierung der Frauen* auf dem Schweizer Arbeitsmarkt sind die horizontale und vertikale Segmentierung. An den hiesigen Hochschulen gelten soziale Dienstleistungsberufe und Sozial- und Humanwissenschaften als typisch weibliche Studiendomänen, während den Männern* Ingenieurwissenschaften, Informatik, Chemie, Biologie und Naturwissenschaften generell zugeschrieben werden. Die Tatsache, dass Frauen* vor allem Berufe im Sozialwesen annehmen und Männer* häufig technischen Domänen zugeschrieben werden, zeigt die horizontale Segmentierung am Arbeitsmarkt. Vertikale Segmentierung wiederum bedeutet, dass der Frauen*anteil mit steigender Arbeitsposition sinkt.

Frauen* haben ein viel höheres Armutsrisiko als Männer*

Es sind auch vor allem Frauen*, die in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind, d.h. Teilzeit arbeiten, im Niedriglohnbereich beschäftigt sind und/oder einer befristeten Anstellung nachgehen. Während in der Schweiz 60% und somit die Mehrheit der Frauen* eine (mitunter unfreiwillige) Teilzeitstelle haben, sind dies nur 10% bei den Männern*. Auf alle Vollzeitstellen bezogen sind zwei Drittel der niedrig verdienenden Menschen (weniger als 4000 CHF pro Monat) Frauen*, unter den Besserverdienenden (über 8000 CHF) sind jedoch drei Viertel Männer* (Zahlen von 2010).
Dies hat zur Folge, dass überproportional viele Frauen* in Armut leben. Besonders hoch ist die Armut bei alleinerziehenden Müttern: 80% von ihnen sind arm. Diese nach Geschlecht vorgenommene horizontale und vertikale Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt bedeutet nicht nur ein unsicheres Arbeitsverhältnis, sondern auch, dass Frauen* weniger Geld für ihre Gesundheit, Lebens- und Wohnsituation zur Verfügung haben. Diese Ungleichheit nimmt im Lauf des Lebens noch zu, was sich besonders bei der Rente zeigt. Während die staatlichen Renten (AHV) zwischen den Geschlechtern gleich hoch sind, da die Erziehungszeiten berücksichtigt werden, beziehen Männer* durchschnittlich dreimal so hohe Zusatzrenten wie Frauen*. Die Möglichkeit in Zusatzrenten einzahlen zu können, hängt eindeutig vom Gehalt ab. Somit werden Frauen aufgrund der geschlechterspezifischen Lohnunterschiede, der prekären Beschäftigungsverhältnisse sowie der horizontalen und vertikalen Segmentierung auf dem Arbeitsmarkt und infolge dessen in lohnzentrierten Sozialversicherungssystemen strukturell diskriminiert!

Einiges ist erreicht, vieles noch nicht!

Trotz vieler Verbesserungen wie dem Zugang zum Arbeitsmarkt und einer teilweise umgesetzten Kollektivierung der Reproduktionsarbeit (Kinderkrippen, Tagesstrukturen usw.) bestehen grundlegende patriarchale Herrschaftsverhältnisse weiter. Die soziale Reproduktionsarbeit wird gesellschaftlich nach wie vor im Gegensatz zur Produktionsarbeit als minderwertig angesehen. Neben dem Hierarchisierungsprinzip wird auch das Teilungsprinzip nicht hinterfragt. Es sind vor allem nach wie vor Frauen*, die für die Reproduktionsarbeit zuständig sind und es wohl auch noch eine Zeit lang bleiben werden. Erst jüngst hat der Schweizer Bundesrat einen vierwöchigen Vaterschafts“urlaub“(4) mit der Begründung abgelehnt, dieser sei für die Wirtschaft nicht tragbar. Dies spiegelt exakt die patriarchalen Herrschaftsverhältnisse wider: Frauen* hätten sich um die Kinder zu kümmern, da Männer*arbeit wirtschaftlich wertvoller sei! Ein Schlag ins Gesicht für jede Person, die sich als Frau* fühlt und für alle, welche die Kinderbetreuung gleichberechtigt organisieren wollen.
In dieser kapitalistischen Verwertungslogik sind denn auch der Ausbau der Betreuungs- und Versorgungsangebote für Kinder und ältere Menschen nicht als wohlwollende, gar emanzipatorische Entwicklung der Sozialstaatspolitik zu verstehen, sondern als weiteres Mittel, günstige Arbeitskräfte für den freien Markt zu generieren und gleichzeitig die aufkeimenden Revolten der Frauen* zu instrumentalisieren und in die Verwertungslogik des Kapitalismus zu integrieren.
Wenn die Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit nicht von anderen Kämpfen begleitet wird, die darauf abzielen, die sozialen und wirtschaftlichen Rollen der Geschlechter aufzubrechen, dann kann die Teilnahme von Frauen* am Arbeitsmarkt nicht nur sehr begrenzte, sondern auch kontraproduktive Effekte zur Folge haben, namentlich die Prekarisierung und doppelte Ausbeutung der Frauen*.

Prekarisierung im Namen der Gleichheit

Trotz dieser massiven reellen Unterschiede wird dreisterweise von vielen Schweizer Parteien wie der SVP, FDP, CVP und Gewerkschaften wie der UNIA und anderen politischen Akteuren behauptet, Frauen* würden in unserer Gesellschaft nicht mehr diskriminiert werden und würden völlige Gleichberechtigung geniessen. Das stimmt nicht! Im Kontext der vergangenen AHV-Initiative wurde im Namen der Gleichheit von eben diesen Akteuren gefordert, das Rentenalter der Frauen* müsse mit jenem der Männer* gleichgesetzt werden. Eine Frechheit! Denn nicht nur verschleiert diese Argumentation, dass Frauen* nach wie vor strukturell diskriminiert werden, sondern zudem wird die feministische Forderung nach Gleichberechtigung zur Verstärkung der Ungleichheiten missbraucht! Gleichheit fordern für ungleiche Lebens- und Arbeitsverhältnisse erhöht die Ungleichheit. Bereits Marx hat gesagt, dass ein Recht, das Ungleiche gleichbehandelt, Unrecht ist. Die missbräuchliche Nutzung feministischer Anliegen ist jedoch nichts Neues. Es gibt diverse Beispiele, bei denen das Argument der Gleichheit genutzt wird, um Arbeitsbedingungen allgemein anzugreifen.

Gleichstellung ist nicht genug!

Es ist wichtig, dass alle Menschen dieselben Rechte haben und gleich behandelt werden und zwar nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Realität. Jedoch wollen wir nicht in einer Welt leben, in der dieselben ausbeuterischen und unterdrückenden sozialen Bedingungen für alle gleichermassen gelten. Wir möchten im Gegenteil in einer Welt frei von Unterdrückung und Ausbeutung leben.
Es geht deshalb nicht darum, „genau die Hälfte in einer schlecht und ungerecht eingerichteten Gesellschaft zu erstreiten und dies dann als gerecht zu behaupten“, wie die Feministin Frigga Haug es ausdrückte. Deswegen geht für uns als Mitglieder der BFS, die wir Feminismus aus einer antikapitalistischen und intersektionalen Sicht verstehen, die Gleichheit zwischen den Geschlechtern nicht weit genug. Die Gleichstellung der Arbeits- und Lebensbedingungen zwischen den Geschlechtern ändert nichts an der Tatsache, dass Menschen dennoch einer kapitalistischen Profitlogik unterworfen sind, die weder menschlich noch ökologisch akzeptabel ist.
Das Kapital profitiert von den patriarchalen Herrschaftsverhältnissen, da durch diese unbezahlte Reproduktionsarbeiten geleistet werden. Die doppelte Ausbeutung der Frauen* ist notwendig für das Fortbestehen des Kapitalismus. Deswegen wird das Kapital auch immer wieder dazu tendieren, an diskriminierenden Geschlechterverhältnissen festzuhalten. Da die bezahlte und unbezahlte Arbeit von Frauen* für das Funktionieren des Kapitalismus entscheidend ist, können sie auch eine zentrale Rolle beim Kampf gegen dieses System spielen. Wir denken, dass revolutionäre Politik und feministische Politik zusammengehören, denn für uns bedeutet Emanzipation die Befreiung aller Menschen von jedweden Formen von Diskriminierung und Unterdrückung!
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1 Vgl. Feministische Ökonomien von Bettina Haidinger und Käthe Knittler (2013)
2 Vgl. Arbeiter = Arbeiterinnen? Vorschläge für eine theoretische Verknüpfung zweier Variablen: Geschlecht und soziale Klasse von Danièle Kergoat (2015)
3 Mit der Verwendung des Sternsymbols (*) möchten wir uns von dem zweigeschlechtlichen Verständnis der Gesellschaft distanzieren. Es gibt sehr viel mehr als nur zwei Geschlechter. Die patriarchalen Machtstrukturen wirken jedoch entlang der beiden Geschlechter weiblich und männlich und LGBTQI-Menschen werden in diese hineingedrückt, indem sie als eines der beiden Geschlechter definiert werden.
4 Als ob es Urlaub wäre, sich um einen Säugling oder ein Kleinkind zu kümmern. Auch in diesem Wort findet sich die Entwertung der Reproduktionsarbeit wieder.

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