Menu Schließen

Geschichte der PKK: Der “Neue Mensch” und sein Führer Öcalan (Teil 2)

Der zweite Teil der Artikelserie zur Geschichte und Wandlung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) beschreibt das metaphysische Ziel der Partei, einen “Neuen (kurdischen) Menschen” zu schaffen, und die Rolle des PKK-Führers Öcalan innerhalb der kurdischen Bewegung. (Red.)

von Alex de Jong; aus intersoz.org

Schaffung des “neuen Menschen”

Kalkan weist auf ein höchst charakteristisches Element der PKK hin: ihre Ambition, einen “Neuen Menschen” zu schaffen, der eine bestimmte Persönlichkeit hat. Das Thema der kurdischen “Persönlichkeit” taucht in Öcalans Schriften aus den frühen 1980er-Jahren auf und hat nach wie vor einen zentralen Platz. Laut Öcalan gibt es eine metaphysische “kurdische Mentalität”, eine bestimmte “Beschaffenheit der kurdischen Psyche”. Öcalan behauptet, dass “viele der Qualitäten und Charakteristika, die den Kurden und ihrer Gesellschaft heute zugeschrieben werden, bereits in den neolithischen Gemeinschaften diesseits des Kaukasus – in dem Gebiet, das wir heute Kurdistan nennen – zu beobachten waren”.[4] Allerdings wurden die Kurden ihrer “wahren” Identität durch die Assimilierungsversuche des türkischen Staates und durch traditionelle soziale Strukturen, die Öcalan “Feudalismus” nennt, entfremdet.

Das Ziel der PKK war eine komplette Reorganisation der kurdischen Gesellschaft zur erneuten Schaffung einer “reinen” kurdischen Identität. Von den PKK-Mitgliedern wurde erwartet, sich durch Kritik, Selbstkritik und harte Arbeit von ihren Ansichten und Verhaltensweisen, die sie in ihrem “alten Leben” erlernt hatten, zu befreien und sich in “neue Menschen” zu verwandeln. Die Parteizeitung Serxwebun beschrieb das Ziel wie folgt: “Der neue Mensch trinkt nicht, geht nicht dem Glückspiel nach, denkt niemals an seine eigenen persönlichen Vergnügungen oder seine Bequemlichkeit. An ihm ist nichts Weibisches. Diejenigen, die sich früher solchen Aktivitäten hingaben, werden solche Gewohnheiten wie mit einem scharfen Messer entfernen, sobald er oder sie sich in der Gemeinschaft der neuen Menschen befinden. Die Philosophie und Moral des neuen Menschen, die Art, wie er sitzt und steht, sein Stil, sein Ego, seine Einstellung und seine Reaktionen (tepki) gehören ihm und ihm allein. Die Basis all dieser Dinge ist seine Liebe zu Revolution, Freiheit, Land und Sozialismus; eine Liebe die so fest wie ein Fels ist. Die Anwendung des wissenschaftlichen Sozialismus auf die Realität unseres Landes schafft den neuen Menschen.”[5] Begriffe wie “Humanisierung”, “Sozialisierung” und “befreite Persönlichkeit” ersetzten die marxistischen Auffassungen von Klassen und Klassenkampf.

Das Thema der Schaffung des “neuen Menschen” wurde im Programm von 1995 Teil der Partei-Ideologie. Das Ziel war “‘eine Persönlichkeit, die mit großer Voraussicht, großem Verständnis, mit großer Anstrengung und Entschlossenheit jede Schwierigkeit zu überwinden versucht und Negatives in Positives verwandelt; eine Persönlichkeit, die unter allen Bedingungen mit ihrer starken Willenskraft Faszination ausübt und die für den Entwicklungskampf der Menschheit, ohne persönlichen Vorteil für sich zu wollen, sogar ihr Leben hingibt”.[6]

Die Schaffung des neuen Menschen spielte eine zentrale Rolle bei der Kritik, die die PKK am “real existierenden Sozialismus” übte und bei der neuen Sozialismusversion, die sie zu formulieren versuchte. Das Programm von 1995 bezeichnete den “real existierenden Sozialismus” als “die niedrigste und brutalste Stufe des Sozialismus”. Anknüpfend an ihre Kritik der Komintern und der frühen Sowjet-Union, wurde der “real-existierende Sozialismus” wegen des Fehlens von Demokratie, des Vorrangs von Staatsinteressen vor denen der Bevölkerung, wegen des Bürokratismus und des Dogmatismus kritisiert. Nach Ansicht der PKK könnten diese Mängel durch die Schaffung des neuen Menschen vermieden werden.

Die PKK betonte ihre Differenzen mit dem “real existierenden Sozialismus”, während sie dabei war, ihre eigene unverkennbare Ideologie zu formulieren. 1993 betonte Öcalan, dass die PKK sich mit dem Begriff “wissenschaftlicher Sozialismus” nicht auf den Marxismus bezog, sondern auf ihre eigene, besondere Ideologie “eines über den Interessen des Staates, der Nation und der Klassen stehenden Sozialismus”.[7] Die PKK behauptete jetzt, eine neue Konzeption des Sozialismus zu haben, bei dem die Menschheit als Ganzes zentral ist. Die Behauptung, für die “ganze Menschheit” zu kämpfen, ist ein oft verwendeter Ausdruck in Stellungnahmen von PKK und PYD.

Bei diesem “Sozialismus” ging es nicht um einen Weg zur Organisierung der Gesellschaft “zu einer Assoziation freier menschlicher Wesen, die mit gemeinsamen Produktionsmitteln arbeiten”, wie es Marx formulierte, sondern um die Schaffung bestimmter Persönlichkeiten. Daher konnte der PKK-Ideologe Mehmet Can Yüce, ansonsten ein rigider “Marxist-Leninist”, in einem Text aus dieser Periode über “den in der Partei realisierten Sozialismus “[8] schreiben, so wie es das Programm von 1995 auch tat[9]. Yüce schreibt: “‘bevor der Sozialismus nicht in der Persönlichkeit des Individuums, in den Beziehungen innerhalb der Organisation vorherrscht, kann er nicht in der Gesellschaft bzw. im gesellschaftlichen System entstehen”.[10]

In der zweiten Hälfte der 1980er erwähnte die PKK immer weniger das Ziel eines “unabhängigen und vereinten Kurdistans” und sprach stattdessen über ein “Freies Kurdistan”; eine Formulierung, die bezüglich des Zieles mehrdeutig ist. Begriffe wie “Freiheit” und “Unabhängigkeit” wurden immer häufiger in Bezug auf individuelle, “spirituelle” Ziele verwendet. Öcalan behauptete 1999 in seiner Stellungnahme vor Gericht, dass er schon vor seiner Inhaftierung, Begriffe wie “Freiheit” und “Unabhängigkeit” hauptsächlich in Bezug auf Individuen und nicht Völker gebraucht hätte. Er behauptete sogar, dass die PKK niemals für Abtrennung war, was früheren Dokumenten widerspricht.

Serok Apo

In den 1980er-Jahren konsolidierte Öcalan seine Kontrolle über die Bewegung. Offiziell der Vorsitzende der Partei wurde Serok Apo (Führer Apo, eine Kurzform von Abdullah und im Kurdischen Onkel) nicht nur der politische Führer, sondern auch Militärkommandeur, “Philosoph” der Bewegung und einem Propheten ähnlich. 1992 erklärte Öcalan: “Eine Person repräsentiert den neuen aufrechten Gang, praktisch die Wiederauferstehung einer Nation. Meine Rolle ist in der Tat die eines Propheten, der zu einem geknechteten, gnadenlos unterdrückten Volk spricht. Unsere Freiheit müssen wir uns selbst erkämpfen. Ich symbolisiere diesen Kampf.”[11] Die ideologischen Publikationen der PKK bestehen fast ausschließlich aus Texten von Öcalan. Öcalan hielt ohne Notizen stundenlange Reden, die aus Mitschriften als Bücher veröffentlicht wurden.

Von allen Mitgliedern wurde erwartet, dass sie der Partei vollkommen ergeben waren. Das bedeutete im Umkehrschluss vollkommene Ergebenheit gegenüber Abdullah Öcalan. Öcalan wurde als Önderlik (Führer), “Wegweiser” und sogar als “Sonne” bezeichnet. In einem wohlwollenden Bericht über ihre Zeit in der PKK-Guerilla schrieb die deutsche Internationalistin Anja Flach: “‘Laut Statut ist die Parteiführung [Öcalan] eine Institution, er steht weniger für die Partei, als dass er vielmehr die Partei ist.”[12] Öcalan war mehr als ein herausragender, selbst unverzichtbarer Führer, er selbst, seine Person wurde als unverzichtbar für die Befreiung des kurdischen Volkes aufgebaut.[13] Das erklärt, warum Öcalan sogar nach seiner Verhaftung der Führer der Bewegung blieb.

In den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren wurde die türkische Armee erfahrener im Kampf gegen die Guerillas. Sie verwendete hochentwickelte Ausrüstung, wie von Israel gelieferte Nachtsichtgeräte und US-Kampfhubschrauber. Der türkische Staat bekämpfte zivile Unterstützer der PKK und alle, die für die Rechte der Kurden eintraten, mit allen Mitteln. Zwischen 1984 und 1999 wurden bis zu 40.000 Menschen getötet. Beide Seiten griffen Zivilisten an, die verdächtigt wurden, dem Feind zu helfen. Der bei weitem größte Anteil der Übergriffe ging vom türkischen Staat aus. Eine Abteilung der türkischen Gendarmerie, die Jandarma İstihbarat ve Terörle Mücadele (JITEM), die offiziell nicht existiert, war nach Berichten der Türkischen Menschenrechtsvereinigung IDH an 5000 ungeklärten Morden beteiligt und verantwortlich für 1500 “Verschwundene” . In den späten 1980er-Jahren begann die türkische Armee mit der gewaltsamen Umsiedlung kurdischer Dorfbewohner, um die Guerilla von ihren zivilen Unterstützern zu trennen. Nach unterschiedlichen Schätzungen wurden so zwischen 275’000 und 2 Millionen Menschen heimatlos. Nachdem so ein Großteil ihrer Unterstützung wegfiel und sie heftig militärisch bedrängt wurde, erlitt die PKK ab der Mitte der 1990er militärische Rückschläge.

Aber Öcalan weigerte sich, die Warnung der Feldkommandeure zu beachten und bestand darauf, dass sie die Offensive ergreifen sollten. In einer Stellungnahme 1994 wurde behauptet: “Der Kampf, den die PKK führt, hat das Stadium der strategischen Defensive hinter sich gelassen (…). Es ist unvermeidlich, dass wir unseren Kampf als Antwort auf die umfassende Kriegserklärung durch die Türkei ausweiten.” Rückschläge wurden nicht fehlerhaften Vorgaben der “Führung” angelastet, sondern dem Versagen der Kommandeure, sie korrekt umzusetzen. Flach beschreibt “Kritik- und Selbstkritik-Sitzungen”, die sie miterlebte: “‘Warum wurden in einigen Gebieten militärisch keine Fortschritte gemacht, warum sind FreundInnen gefallen, warum wurde die Frauenarmee nicht überall aufgebaut? Die Fehler werden vor allem in der Persönlichkeit der KommandantInnen und KämpferInnen gesehen. Strukturen aus dem alten Leben wurden weitergelebt, feudale oder kleinbürgerliche Haltungen und Sichtweisen nicht überwunden und genau das wird als größtes Hindernis zur Umsetzung der Ideen der Partei gesehen.”[14] Aber die Sinnhaftigkeit dieser Ideen wurde nicht in Frage gestellt.

1998 drohte die Türkei Syrien mit Krieg, sollte es dem PKK-Führer weiterhin Unterschlupf gewähren. Das syrische Regime befahl Öcalan zu gehen. Während er nach politischem Asyl Ausschau hielt, verstärkte er seine früheren Appelle für eine politische Lösung. Er erklärte, dass die PKK eine “demokratische Republik” akzeptieren würde, d.h. eine einige Türkei, die die Redefreiheit der Kurden garantiert und die Existenz der kurdischen Minderheit anerkennt. Im Februar 1999 wurde Öcalan von türkischen Agenten gefangengenommen.

Hier gehts zum dritten Teil.

—
[4] Abdullah Öcalan, Prison Writings. The PKK and the Kurdish question in the 21st century, London 2011. p. 21.p. 42.
[5] Olivier Grojean, ‘The production of the new man within the PKK’, European Journal of Turkish Studies (2012). Online at [http://ejts.revues.org/4925] S. 4.
[6] Brauns & Kiechle, PKK, S. 84.
[7] Ibidem, S. 77.
[8] Yüce, Gedanken, S. 61.
[9] PKK, Programm, Utrecht 1995. Ohne Seitenangabe.
[10]Mehmet Can Yüce, Gedanken űber die Nationale Befreiung und den Sozialismus, Hamburg, n. d. S. 79.
[11] Brauns & Kiechle, PKK, S. 66.
[12] Anja Flach, Jiyaneke din – ein anderes Leben, Hamburg 2011. S. 19.
[13] Grojean, ‘The production of the new man within the PKK’. S. 9.
[14] Flach, Jiyaneke din, S. 20.

Ursprünglich veröffentlicht am 14. Juni 2018 auf der Seite der Internationalen Sozialistischen Organisation (ISO) aus Deutschland. Leichte Überarbeitung durch die Redaktion. Übersetzung durch W. Weitz.

Verwandte Artikel

1 Kommentar

  1. Pingback:Geschichte der PKK: Von der stalinistischen Raupe zum libertären Schmetterling? (Teil 1) ‹ BFS: Sozialismus neu denken – Kapitalismus überwinden!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert