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Medizin: Die Implant Files und das Gesundheitswesen

Mehr als ein Jahr lang hat die «Süddeutsche Zeitung» (SZ) zusammen mit rund 60 anderen Medien, u.a. dem «Tagesanzeiger», weltweit Patienten befragt, mit Insidern gesprochen und Studien ausgewertet. Nun decken die “Implant Files” auf, dass fehlerhafte Implantate und andere Medizinprodukte für etliche Todesfälle verantwortlich sind – und wie Industrie und Politik diesen Skandal vertuschen.

von Lothar Moser (BFS Zürich)

Die in den letzten Tagen veröffentlichte Artikelserie bringt Erschreckendes und Schockierendes ans Licht und wirft damit ein Schlaglicht auf das «Gesundheitswesen», welches sich längst zu einem «normalen» Teil der kapitalistischen Warenproduktion entwickelt hat.

Das Gesundheitswesen als Teil der Warenproduktion

So ist die in den letzten Jahren zu beobachtende Tendenz, medizinische Versorgung als Dienstleistung zunehmend durch den Einsatz technischer Konstrukte (computerassistierte Operationen, automatisierte Diagnostik- und Behandlungsabläufe, Ersatzteilchirurgie etc.) zu ersetzen, nicht, wie uns die Protagonist*innen dieser Entwicklung weismachen wollen, durch die dadurch zu erreichende höhere medizinische Qualität bedingt. In Teilbereichen kann dies bereits jetzt als widerlegt gelten. Der Hauptgrund ist tatsächlich das Eindringen des Warenprinzips in den Dienstleistungsbereich „medizinische Versorgung“. Der marxistische Ökonom Ernest Mandel hat die inzwischen eingetretene Entwicklung bereits 1972 treffend charakterisiert: «Als nächsten Alptraum empfehlen wir die Vorstellung des massenhaften Eindringens von Warenverhältnissen in die Medizin- und Chirurgiesphäre […] mit Kauf und Verkauf von Körperteilen und Organen, komplett mit Konkurrenz, Profitmaximierung, Vermittlungs-, Versand-, Aufbewahrungs-, Kredit- und Reparaturdiensten».

Ein Geschäft war die Medizin immer schon. Zum industriell betriebenen Massengeschäft allerdings wurde sie erst im 20. Jahrhundert und heute macht der Gesundheitssektor in den Industriestaaten 10-15% des Bruttoinlandsproduktes aus. In Deutschland zum Beispiel ist er die mit Abstand grösste Dienstleistungsbranche und in der Schweiz der grösste „Arbeitgeber“ überhaupt. Längst handelt es sich um einen der profitträchtigsten Bereiche der Industrieproduktion und bürgerliche Wirtschaftswissenschaftler*innen halten die Medizinindustrie für den zukunftsträchtigsten Wachstumssektor.

Eine logische Entwicklung

Für uns als revolutionäre Sozialist*innen ist diese Entwicklung logisch und unausweichlich: Der entwickelte Industriekapitalismus macht alles und jedes zur Ware, einschliesslich des Menschen und seiner „Einzelteile“. In Zeiten sinkender Erträge fliessen die Kapitalströme in die Bereiche, die den grössten Profitversprechen. Es ist lächerlich, dieses Grundprinzip kapitalistischer Wirtschaft für einen Teilbereich wie das Medizinsystem nicht akzeptieren oder ausser Kraft setzen zu wollen. Selbst bürgerliche Gesundheitsökonomen sagen offen, dass ein grosses Problem darin bestehe, dass der Medizinsektor ein Bereich sei, der seine Nachfrage selbst schafft.

Dass dabei der reale Nutzen dieses aufgeblähten Molochs eher fragwürdig ist, und die Qualität der angebotenen Leistungen immer häufiger zu wünschen übriglässt, interessiert in dieser Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nicht. Letztlich kommt es in diesem System nicht auf gesundheitspolitische und volkswirtschaftliche Rationalität, sondern auf Profitmaximierung an.

Das heisst wohlgemerkt nicht, dass die Fortschritte im Bereich der Medizinforschung und die gewonnenen Erkenntnisse im Bereich von Diagnose und Behandlung, die im Rahmen der warenförmigen Ausrichtung des Gesundheitssektors erzielt wurden, geleugnet werden sollen. Aber zweierlei ist dabei stets zu bedenken:

  1. Das existierende System ist krankheits- statt gesundheitsfixiert. Dies ist zwangsläufig in einer Gesellschaft, die in ihrer Funktionsweise permanent gegen die Grundsätze gesundheitsfördernder Lebens-, Arbeits- und Produktionsbedingungen verstösst.
  2. Man darf auch nicht aus den Augen verlieren, was die klassische Funktion der Medizin in der kapitalistischen Klassengesellschaft ist, nämlich die Wiedereingliederung der Arbeitskraft in den Produktionsprozess und die Herabsetzung der durch die Krankheit verursachten sozialen Spannungen. Dazu kommt die Mystifizierung der gesellschaftlichen Bedingtheit vieler Krankheiten, da das Kapital, «falls es nicht gezwungen wird, auf die Gesundheit und Lebensdauer des Arbeiters keine Rücksicht nimmt und nicht nur die normalen Höchstgrenzen des Arbeitstages überspringt, sondern auch die rein physischen.» (Marx).

Gesundheit und «freie» Marktwirtschaft

Wer gesund ist und wer nicht, das definiert der Arzt. Auch aus diesem Grunde hat der sogenannte «Gesundheitssektor» im Laufe der letzten 150 Jahre in den kapitalistischen Industriegesellschaften ein immer grösseres ökonomisches Gewicht bekommen. Im ausgehenden 20. Jahrhundert erreichten die Ausgaben für «Gesundheit», wie eingangs erwähnt, in den westlichen Industriestaaten einen Anteil von 10-15% des Bruttoinlandproduktes – ein gesundes Geschäft für die einschlägige Industrie.

Kein Wunder, dass die «Gesundheits»-Industrie auf die endgültige Zurichtung des Medizinsektors im Sinne der «freien Marktwirtschaft» drängt. Die Anzeichen dafür sind nicht zu übersehen: Leistungseinschränkungen im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung, Zuzahlungen, und die Propagierung von privater Zusatzversicherung. In den unterentwickelt gehaltenen Ländern der Peripherie findet sich demgegenüber eine absolute Unterversorgung selbst bei den banalsten Gesundheitsproblemen mit der Folge des Massensterbens an verhinder- und behandelbaren Krankheiten wie z.B. Tuberkulose, Magen-Darm-Infektionen und Aids. Dass es den Akteuren auf dem «Gesundheitsmarkt» nicht um Gesundheit, sondern um Profit geht, ist offensichtlich.

Und in der Schweiz?

Im April 2018 forderte die Chefin der Krankenkasse CSS, Philomena Colatrella, komplett neue Ideen, um die Krankenkassenprämien zu senken. Als Vorschlag brachte sie sogleich die Erhöhung der höchsten wählbaren Franchise von heute 2500 Franken auf 5000 oder 10’000 Franken ein. Damit könnten die Monatsprämien um rund 170 Franken pro Person sinken, dafür müsste man aber eben im schlimmsten Fall Gesundheitskosten von bis zu 10’000 Franken jährlich selber bezahlen.

Zumindest dem Grundsatz dieser Idee hat der Nationalrat vergangenem Montag, 26. November 2018 zugestimmt: Der Bundesrat soll nicht mehr frei entscheiden können, wann er die Franchise erhöht. 2020 oder 2021 dürfte die ordentliche Franchise erstmals seit 2004 wieder erhöht werden. Ob sie dann nur um 50 auf 350 Franken steigt oder gleich auf 500 Franken, ist noch offen. Künftig wird die Kostenbeteiligung an die Entwicklung der Gesundheitskosten gekoppelt. Sobald die Pro-Kopf-Kosten das 13-Fache der Minimalfranchise übersteigen, wird diese um 50 Franken erhöht. Auch alle Wahlfranchisen werden dann um 50 Franken angehoben. Falls die Gesundheitskosten wie bisher jährlich um rund 4 Prozent steigen, ergibt dies alle drei bis vier Jahre eine Erhöhung der Franchisen um 50 Franken.

Seit der Einführung des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) von 1996 hat sich die durchschnittliche, monatliche Krankenkassenprämie mehr als verdoppelt (von 173.10 Franken pro Monat auf 396.10 Franken pro Monat im Jahr 2014). Die Nominallöhne sind zwischen 1996 und 2013 um 22,67 Prozent gestiegen. Beinahe sechsmal weniger stark als die Krankenkassenprämien.

Die «Prämienverbilligungen», welche als «soziale» staatliche Massnahme die steigenden Prämienkosten nach Einführung des KVG für die Haushalte abfedern sollten, sind mit diversen kantonalen «Sparprogrammen» im Wachstum abgeflacht, beziehungsweise seit 2010 sogar rückläufig.

Allgemein ist in der Schweiz der Anteil der Finanzierung des Gesundheitswesens durch die privaten Haushalte sehr hoch. Sie bezahlen 42 von total 68 Milliarden Franken, die das Gesundheitswesen pro Jahr kostet. Diese Zahlen stammen auch hier aus dem Jahr 2012 [2015 kostete das Gesundheitswesen bereits 77 Milliarden, wobei der privat finanzierte Anteil in etwa gleich blieb]. Diese 42 Milliarden beinhalten Ausgaben für die obligatorische Grundversicherung und die privaten Zusatzversicherungen sowie den Gesundheitskosten, die direkt aus dem eigenen Sack bezahlt werden (z.B. den Grossteil der Medikamente oder Zahnbehandlungen). Inzwischen sind das über 13 Milliarden Franken pro Jahr. Der Anstieg der Standardprämie ist zudem deutlich stärker als der Kostenanstieg im Gesundheitswesen insgesamt.

Die Schlussfolgerung ist klar: Würde man die Gesundheitsabgaben an die Löhne (AHV-ähnliche Finanzierung) und die Vermögen anpassen, würde ein grosser Teil der Bevölkerung entlastet. Die jährlichen Diskussionen über die explodierenden Prämien hätten rasch ein Ende. Und das, ohne auf Kosten unserer Gesundheit sparen zu müssen.

Mehr Hintergründe zum Gesundheitswesen findest du in unserem Dossier.

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1 Kommentar

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