Menu Schließen

Nicaragua: Aufstand gegen Ortega – Teil 1: Hintergrund

In Nicaragua finden derzeit die grössten Proteste seit der sandinistischen Revolution von 1979 statt. Ironischerweise richten sie sich gegen Präsident Daniel Ortega, damals wie heute Chef der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN). Wie konnte es dazu kommen? Am Anfang des Aufstands standen Proteste gegen Rentenkürzungen, welche vom Internationalen Währungsfonds gefordert wurden. Unterdessen hat die Regierung die Reform zwar zurückgezogen, doch die Protestbewegung fordert jetzt Ortegas Rücktritt. Die Reaktion der Regierung und Schlägertrupps der FSLN waren das gewalttätigste, was sich Ortega seit seiner Wiederwahl 2006 geleistet hat. Bis heute gab es über 90 Todesopfer und über 850 grossteils schwer Verletzte. Um zu erörtern, wer hier eigentlich genau gegen Ortega protestiert, haben wir mit Franziska Scherrer* gesprochen. Franziska ist in Europa aufgewachsen, lebt aber seit den 1980er Jahren in Nicaragua. Sie hat seither verschiedene soziale Projekte in Nicaragua mitaufgebaut. Heute erscheint hier eine Einführung zur Lage in Nicaragua. Morgen folgt das Interview mit Franziska.

von Theo Vanzetti

1990 wurde das revolutionäre Projekt in Nicaragua überraschend beendet. Die FSLN verlor die Wahlen, nachdem die Bevölkerung jahrelang im Contra-Krieg terrorisiert wurde. Die Contras waren von der CIA bezahlte, antikommunistische Milizen. Mit der Strategie des sogenannnten „low intensity war“ erreichten CIA und Contras genau das, was sie beabsichtigten: die Abwahl der Sandinist*innen. Es folgten 16 Jahre mit rechten und korrupten Regierungen, die sämtliche Errungenschaften der Revolution wie der Ausbau des Bildungs- und Gesundheitswesens mit dem neoliberalen Vorschlaghammer demontierten.

Managua, 19. Juli 1979: Bevölkerung und Guerilla haben den Diktator Somoza besiegt. Das Land wird fortan bis 1990 von den Sandinist*innen regiert.

2006 wurden Ortega und die FSLN wiedergewählt und seit Anfang 2007 ist Ortega wieder Präsident Nicaraguas. Doch was unter Ortega und seiner Frau und heutigen Vizepräsidentin Rosario Murillo mit der FSLN geschah, ist eine Tragödie. Metaphorisch gesprochen hat Ortega seine Seele an den Teufel verkauft. Anders ist es nicht zu erklären, dass er beispielsweise um seine Wahl von 2006 zu ermöglichen, einen Pakt mit der katholischen Kirche eingegangen ist. Im Tausch für eines der repressivsten Abtreibungsgesetze der Welt unterstützte die Kirche Ortega bei der Wahl. Abtreibungen sind seither in Nicaragua in jedem Fall verboten und können mit hohen Gefängnisstrafen bestraft werden. Man muss sich vergegenwärtigen, dass das eine linke Partei und ehemalige Guerilla zu verantworten hat, die sich seit den 1960er Jahren eigentlich die Selbstbefreiung aller Unterdrückten auf die Fahne geschrieben hat. Ortega und Murillo sind durch und durch Machtmenschen, welche seit 2007 Schlüsselpositionen in Regierung, Justiz und Wirtschaft systematisch unter die Kontrolle ihres Familienclans gebracht haben. Fast alle TV-Kanäle werden von der Regierung kontrolliert. Journalist*innen, die nicht regierungstreu sind, werden von Pressekonferenzen ausgeschlossen. Die Opposition im Parlament ist keine ernsthafte Gefahr für die FSLN. Der Ortega-Clan betreibt eine korrupte Klientelpolitik, bei der staatliche Jobs nur nach FSLN-Zugehörigkeit vergeben werden. Murillo herrscht nicht nur mit eiserner Hand. Sie lässt sich zudem von Esoterik leiten. In Managua wurden unzählige sündhaft teure, sogenannte „Lebensbäume“ aufgestellt. Während die Skulpturen nachts beleuchtet werden, fehlt es vielen Bewohner*innen nach wie vor an Strom.

Gleichzeitig gilt es aber anzuerkennen, dass FSLN-Regierung nach 16 Jahren Abwesenheit von jeglichen Sozialleistungen ab 2007 erstmals wieder Sozialprogramme umsetzte. Viele Errungenschaften der Revolution haben die Sandinist*innen zumindest teilweise wieder aufgebaut. So fand zum Beispiel ein Ausbau der Gesundheitsversorgung statt. Die nicaraguanischen Krankenhäuser sind zwar nicht mit denjenigen in Kuba oder Venezuela in ihren besten Jahren zu vergleichen. Doch dies ist gewiss nicht nur durch die Selbstbereicherung des Ortega-Clans bedingt, sondern vor allem dadurch, dass Nicaragua eines der ärmsten Länder des Kontinents ist. Die Ressourcen des Landes sind extrem bescheiden. Ortegas FSLN war für Nicaragua wohl besser als es die neoliberalen, rechten, ebenfalls korrupten Regierungen zwischen 1990 und 2006 waren. Doch diesen Kredit hat sich die Regierung mit der blutigen Niederschlagung des aktuellen Aufstands wohl verspielt.

Proteste gegen Ortega gab es schon seit einigen Jahren, zum Beispiel gegen den Bau eines interozeanischen Schifffahrtskanales. Oft hört man unter Linken das Argument, solche Grossprojekte seien notwendig um Sozialprogramme zu finanzieren. Doch bei diesem Kanalprojekt würden derart hohe wirtschaftliche, ökologische und soziale Kosten entstehen, dass der Protest dagegen völlig berechtigt ist. Es ist offensichtlich, dass vom Projekt die chinesischen Investoren und der Ortega-Clan und nicht die Bevölkerung profitieren würden. Nicaragua müsste einen Teil seiner territorialen Souveränität für 100 Jahre an ein Unternehmenskonglomerat abtreten. Die ökologischen Schäden im grössten Süsswassersee des Kontinets, dem Lago de Nicaragua, wären enorm.

Zum lateinamerikanischen Linkspopulismus gehört neben Sozialprogrammen Symbolpolitik: Denkmal für Hugo Chavez mit Murillos „Lebensbäumen“ in Managua.

Verdient eine Regierung unsere Unterstützung, wenn sie auf Demonstrierende schiesst, die sich gegen Rentenkürzungen wehren? Niemals! Wir wollen keine campistische Politik nach der Logik ‚Der Feind meiner imperialistischen Feinde ist mein Freund’ betreiben. Es gilt die mörderischen Repressalien der Regierung entschieden zu verurteilen, aber gleichzeitig nicht der rechten, pro-amerikanischen Opposition in die Hände zu spielen. Trotz der Sozialprogramme wäre es verfehlt, in Nicaragua heute ein revolutionäres Projekt zu sehen. Privateigentum und der freie Markt sind genauso gegenwärtig wie in anderen, von Rechten regierten Ländern der Region. Wenn einige europäische Linke in Nicaragua (oder Venezuela) dennoch die derzeitige Speerspitze der sozialistischen Revolution sehen, muss man festhalten, dass es heute anscheinend beschämend wenig braucht, um als revolutionär zu gelten.

Morgen folgt an dieser Stelle das Interview mit Franziska Scherrer*, welche seit langem in Nicaragua lebt und die Proteste hautnah mitbekommen hat.

*Name geändert

Verwandte Artikel

4 Kommentare

  1. Pingback:Nicaragua: Aufstand gegen Ortega – Teil 2: Interview ‹ BFS: Sozialismus neu denken – Kapitalismus überwinden!

  2. Pingback:Nicaragua: Aufstand gegen Ortega - Teil 2: Interview

  3. Pingback:Nicaragua: Der tiefe Fall einer Revolution (Teil 1)

  4. Pingback:| Nicaragua: Der tiefe Fall einer RevolutionMaulwuerfe

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert