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Korruptionsskandal in der Tessiner Regierung

Im Kanton Tessin kommt es momentan zu einem regelrechten politischen Skandal. Der Abgeordnete der Bewegung für den Sozialismus (BFS/MPS) im Tessiner Kantonsparlament, Matteo Pronzini, deckte auf, dass Regierungsmitglieder im Kanton seit Jahren illegal Spesen beziehen und sich ihre Rentenleistungen ohne rechtliche Basis erheblich vergrössern. Mehrere Millionen Franken an Steuergeldern wurden so aus den öffentlichen Kassen geplündert, während sich gleichzeitig die Löhne im Tessin verschlechtern, der Zugang zu den Gesundheitsleistungen erschwert wird und Arbeitsplätze – unter anderem in den SBB-Werkstätten in Bellinzona – flächendeckend abgebaut werden. Wir haben mit einem Aktivisten der BFS Tessin über den aktuellen Skandal gesprochen. (Red.)

In den letzten Monaten haben die Medien im Tessin oft von “Spesenskandal” (Rimborsopoli) und “Rentenskandal” (Pensionopoli) gesprochen. Worum geht es genau und warum gibt es ein so großes öffentliches Interesse?

Pino Sergi: Es geht um Fragen, welche die kantonale Regierung und ihre Funktionsweise betreffen. Das sind alte Themen, die bereits in der Vergangenheit angesprochen, aber dann (mit Zustimmung aller Beteiligten) unter den Tisch gewischt und “vergessen” wurden. Als Movimento per il socialismo (MPS/BFS) skandalisierten wir diese Themen mit unserem Abgeordneten Matteo Pronzini nun aufs Neue.

In den letzten Jahren haben die verschiedenen Regierungen auf Gemeinde- und Kantonsebene ständig soziale Leistungen, Subventionen und Hilfen aller Art für die lohnabhängige Bevölkerung in Frage gestellt, ebenso wie die Renten der Arbeiter*innen im öffentlichen und privaten Sektor.

Wir haben uns nun gefragt: diese Menschen, die Herrschenden, diejenigen, die behaupten, “die Bevölkerung zu vertreten”, wie gehen sie eigentlich mit ihren eigenen Zulagen, mit ihren Renten, mit ihren Privilegien um? Kürzen sie diese auch bis zur Unkenntlichkeit zusammen?

Natürlich nicht. Und hier haben wir das jahrelange Stillschweigen gebrochen, das in der Logik des bürgerlichen Staates vorherrscht und deckten auf, wie die Regierung selbst auf illegale Art und Weise sich Privilegien aneignet und die eigenen Gesetze missachtet, die von allen anderen Menschen angeblich respektiert und angewendet werden sollen.

Deshalb haben wir die völlige Rechtswidrigkeit des (vom Parlament gedeckten) Handelns der Regierung sowohl bezüglich der Spesenentschädigung, als auch bei der Art und Weise, wie ihre eigenen Renten gezahlt und berechnet werden, angeprangert.

Kannst du uns detailliertere Informationen geben?

Was die Spesenentschädigung betrifft, so erhalten die Regierungsmitglieder seit Jahren eine pauschale Entschädigung, die keine Rechtsgrundlage haben. So erhalten sie beispielsweise seit Jahren eine Rückerstattung des Mobilfunkabonnements von 300 Franken pro Monat (3600 Franken pro Jahr), was ein echter Skandal ist. Dazu kommen andere Vergütungen: So können sie beispielsweise am Ende ihrer Amtszeit ein königliches Geschenk im Wert von CHF 10’000 auswählen und erhalten auf jeden Fall ihr Gehalt für weitere zwei Monate nach Ablauf ihrer Amtszeit.

Laura Sadis (FDP) sass zwischen 2007 und 2015 in der Tessiner Regierung und klaute fast 100’000 Franken aus den öffentlichen Kassen.

All dies hat sich in den Augen der Lohnabhängigen, die Ende Monat zunehmend weniger in der Tasche haben, als eine Reihe von inakzeptablen Privilegien erwiesen. Heute sind die Lohnabhängigen oft gezwungen, ihr Telefon für ihre Arbeit zu benutzen und dies auch selbst zu bezahlen, weil sie sich nicht getrauen, die Kosten vom Unternehmen rückerstatten zu lassen.

Als der ganze Skandal von uns aufgedeckt wurde, zögerte das Parlament und wollte nicht mit der Regierung in Konflikt geraten. An dieser Stelle intervenierte jedoch die Staatsanwaltschaft, und obwohl sie keine Anschuldigungen gegen Regierungsmitglieder hervorbrachte (weil sie nicht strafrechtlich relevant sind), stellte die Staatsanwaltschaft fest, dass es dieser Vergütungspraxis an jeglicher, rechtlicher Grundlage mangelt, und bestätigte damit die politischen Beschwerden der MPS/BFS und unseres Abgeordneten.

All dies hatte einen großen medialen und politischen Aufschrei ausgelöst und rief auf breiter Front Kritik hervor (z.B. kam es reihenweise zu satirische Karikaturen in Blogs und Zeitungen).

Die Regierung verlor dann ihren Kopf: 4 von 5 Regierungsmitgliedern prangerten Matteo Pronzini an, der sie angeblich verleumdet haben sollte. Das Ziel war klar: zu versuchen, die einzige parlamentarische Opposition im Tessiner Kantonsparlament zum Schweigen zu bringen. Dies erwies sich als Bumerang, denn der oberste Staatsanwalt (der aus einer Unternehmerfamilie stammt und FDP-Mitglied ist) wies in diesen Tagen die Beschwerde der Regierung zurück.

Und was hat es genau mit den illegalen Rentenzahlungen auf sich?

Die Situation ist hier noch ernster. Seit Jahren erhalten Staatsräte [Mitglieder der Tessiner Kantonsregierung], die ihre Amtszeit beenden, neben einer Rente auch eine zusätzliche Pension von rund 22’000 Franken pro Jahr, die keine Rechtsgrundlage hat. Das zweite Problem ist, dass die Mitglieder der Regierung (einschließlich derjenigen, die im Amt sind) in den letzten Jahren verschiedene Tricks angewendet haben, um eine höhere Pensionskassenrente zu erhalten.

Wir haben diese Dinge vor Monaten angeprangert, wurden allerdings von der Regierung arrogant abgewiesen (die Regierung wurde hier ebenfalls von den großen Parlamentsfraktionen unterstützt). Wir haben nicht aufgegeben und einen bekannten Rechtsexperten für öffentliches Recht, Professor Etienne Grisel, gebeten, einen Rechtsbericht zu erstellen. Er tat dies und bestätigte unsere These: Die Rentenleistungen, welche die Regierung für sich selbst beschlossen hat, sind illegal. Inzwischen haben auch andere interne Rechtsberichte innerhalb der Verwaltung unsere Behauptung bestätigt.

Wie ich bereits sagte, wird auch der Frage der Renten große Aufmerksamkeit geschenkt. Denn dieselbe Regierung hat in den letzten Jahren die Rentenleistungen für Tausende von Lohnabhängigen im Kanton und in den Gemeinden radikal verändert und damit entscheidend verschlechtert.

Wie wird das Ganze weitergehen?

Da unser Abgeordneter dem Parlament Anträge auf Rückerstattung der illegalen Zahlungen übermittelt hat, muss dieses nun eine Stellungnahme abgeben. Bezüglich den Spesen haben wir einen ersten Sieg errungen, weil die Regierung bereits auf die Telefonzulagen verzichtet hat und die Abschaffung anderer Privilegien geprüft wird. Aber inwiefern auch Rückerstattungen für die in der Vergangenheit illegal bezogenen Gelder möglich sind, ist unklar.

Bei den Renten ist das Spiel noch offen, da sich diese Zahlen zusammen auf mehrere Millionen Franken belaufen.

Welche politischen Lehren zieht ihr daraus?

Wir machen uns keine Illusionen. Dieser grösstenteils institutionelle Kampf begegnet den für solche Kämpfe typischen Schwierigkeiten, und wir glauben nicht, dass er das Kräfteverhältnis zwischen der Regierung und den Lohnabhängigen im Kanton Tessin substanziell verändern wird. Es ist jedoch unbestreitbar, dass wir eine grosse Aufmerksamkeit erhalten haben. Der Kampf zwischen unserem Abgeordneten und der Kantonsregierung wird ein wenig wie David gegen Goliath betrachtet – und wir erhalten deshalb viel Sympathiebekundungen.

Matteo Pronzini, Abgeordneter der Bewegung für den Sozialismus (BFS/MPS) im Tessiner Kantonsparlament

Ich denke, dass es uns gelungen ist, im besten Sinne der revolutionären Traditionen der Arbeiter*innenbewegung das parlamentarische Forum als Bühne zu nutzen, um Korruption, die Privilegien der Herrschenden und den absoluten Mangel an “Repräsentativität” der bürgerlich-demokratischen Institutionen öffentlich zu verurteilen.

Darüber hinaus haben solche Kampagnen, die in einem Kanton mit hoher Medienkonzentration stark medialisiert werden, die Aufmerksamkeit vieler Menschen auf die Kämpfe gelenkt, die wir in den für uns grundlegenden politischen und sozialen Fragen führen – z.B. gegen die Schliessung und Privatisierung der Tessiner Spitäler, gegen das weitverbreitete Lohndumping und für den Erhalt der SBB-Werkstätten in Bellinzona.

Hintergründe und aktuelle Informationen zum Rimborsopoli und Pensionopoli unter: http://www.mps-ti.ch/

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3 Kommentare

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