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Schweizer Jugendliche: Ziemlich extrem?

…sei ein Teil der Jugendlichen in der Schweiz. Zu diesem Ergebnis kam eine Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Dabei wirft sie Islamisten, Neonazis und linke Aktivist*innen in einen Topf.  Doch das ist längst nicht der einzige Kritikpunkt, den man an dieser gänzlich missratenen Studie äussern muss.

von Henri Ott (BFS Jugend Zürich)

Ziemlich extrem ist auch, wie man zu solchen Ergebnissen kommt und sogar voll extrem ist, dass man für so eine schwachsinnige Studie 347‘000 CHF zur Verfügung gestellt bekommt. Aber der Reihe nach.

Wie es auf der Seite der ZHAW heisst, war das Ziel der Studie mit dem Titel politischer Extremismus unter Jugendlichen in der Schweiz (Publiziert am 6. November 2018), folgendes zu untersuchen: „Die Verbreitung und die Einflussfaktoren von drei Extremismus-Formen unter Jugendlichen: Rechtsextremismus, Linksextremismus und islamischer Extremismus. […] Damit können Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den drei betrachteten Formen herausgearbeitet werden.

Mal wieder werden Nazis, Antifas und der IS in einen Topf geworfen, die gute alte Extremismustheorie. Nazis, der IS und die Antifa sind also nur drei extreme Abweichungen, aber von was überhaupt? Damit etwas extrem sein kann, muss auch definiert werden, was denn nicht-extrem wäre, bzw. was der Status quo sei und das ist natürlich – ihr ahnt es schon – der bürgerliche Staat mit allem drum und dran. Auf Seite sechs der Studie heisst es dann auch „Politischer Extremismus kann daher wie folgt definiert werden: Es handelt sich um Einstellungsmuster und Verhaltensweisen, die durch eine Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates, seiner Grundwerte und Verfahrensregeln gekennzeichnet sind und die anstreben, diesen – unter Anwendung von Gewalt – zu überwinden.“ Rechtsextremismus, Linksextremismus und islamistischer Extremismus sind zwar irgendwie verschieden, allerdings wollen alle drei den Status quo verändern, wenn nötig auch mit Gewalt.

Gewalt gleich Gewalt gleich schlecht

Gewalt wird oft so behandelt, als sei sie ein immer gleicher, unveränderlicher Akt. Gewaltanwender*innen unterscheiden sich vielleicht ideologisch, aber nicht in der Praxis. Ob Nazi oder Kommunistin, das Resultat ist dasselbe, so die gängige Auffassung. Diese Ansicht hat zwei grosse Vorteile, man kann erstens jede Rebellion gegen die momentane Situation als illegitim und extremistisch einstufen, sobald nur schon eine Scheibe zu Bruch geht. Zweitens muss man nicht zu lange nachdenken, denn das strengt auch sooo an. Natürlich sind wir als Sozialist*innen für eine freie, friedliche Gesellschaft und dass für dieses Ziel in bestimmten Situationen Gewalt angewendet werden kann, erscheint nur an der Oberfläche als Paradoxon. Wenn man mehr als zwei Sekunden überlegt, gibt es aber durchaus Unterschiede, Gewalt ist nicht gleich Gewalt, das versteht sogar das bürgerliche Recht. Wenn mich jemand gewaltsam angreift, darf ich mich ebenfalls mit dem Einsatz von Gewalt zur Wehr setzen, das nennt sich dann Notwehr.

Wann und wie Gewalt angewendet wird, hängt von den Zielen ab, die damit verbunden sind. Nazis wenden Gewalt an, weil ihr Ziel die Tötung anderer „Rassen“ ist. Gewalt ist integraler Bestandteil faschistischer Weltanschauung, Faschismus ist nicht mal in der Theorie ohne Mord zu haben und natürlich in der Praxis noch weniger. Im Gegensatz dazu ist Gewalt kein zentraler Pfeiler von kommunistischen Gedanken, im Gegenteil. Wir Sozialist*innen wollen eine gerechte Welt, in der alle genug zum Leben haben. Doch die Kapitalisten verwehren sich einer solchen Welt, sie werden ihre Reichtümer niemals freiwillig aufgeben, man wird sie wahrscheinlich gewaltsam enteignen müssen. Das bedeutet jedoch nicht, dass man sie deshalb vierteilen sollte (denn es gibt nicht nur unterschiedliche Arten Gewalt anzuwenden, sondern auch eine unterschiedliche Intensität, wie viel Gewalt angewendet wird). Gewalt von „Linksextremen“ ist also kein Selbstzweck, sondern kann unter sehr speziellen Bedingungen gerechtfertigt sein, als Mittel um eine bessere Zukunft für alle zu erreichen.

Wie dem auch sei, die aufgeklärte Mitte der Gesellschaft, verabscheut jegliche Gewalt – jetzt mal abgesehen davon, dass man mittellose Menschen zwingt, auf der Strasse zu schlafen, obwohl es leere Wohnungen gibt – ja Gewalt ist wirklich schlecht, so was tut man nicht – also mal abgesehen davon, dass man Menschen gewaltsam in Krisengebiete ausschafft – ja die rechtschaffenen Bürger*innen sind wirklich gewaltfrei unterwegs. Wie auch der Waffenexport und die Rüstungsindustrie. Der CEO des Schweizer Waffenherstellers RUAG hat bspw. noch nie jemanden erschossen, wahrlich ein Vorbild.

Aber lassen wir all diese Gründe hinter uns, warum man bemängeln könnte, dass „Linksextreme“, Nazis und der IS in einen Topf geworfen werden und wenden uns endlich der Studie zu.

Linksextremismus – Sachbeschädigung, Mord, Gulag

Sieben Prozent der befragten Jugendlichen seien linksextrem, das ist ein Ergebnis der Studie. Ich – ebenfalls Extremist – habe mich natürlich erstmal etwas gefreut, nur um dann zu merken, dass die Studie auf eine ziemliche schräge Art auf dieses Ergebnis gekommen ist. Ja, ich bin etwas enttäuscht, in Wahrheit sind wahrscheinlich nicht 7% linksextrem, sondern haben einfach gemerkt, dass unser Wirtschaftssystem nicht so einwandfrei funktioniert wie in der Theorie. Also jetztmal konkret: Um zu erheben, ob die befragten Jugendlichen linksextreme Ansichten vertreten, wurde unter anderem nach der Zustimmung zu folgendem Satz gefragt:

„Ich finde es in Ordnung, wenn Gewalt gegen die Polizei eingesetzt wird“

Aha. Also ist jeder Hooligan schon mal verdächtig ein Linksextremer zu sein, aber natürlich reicht das nicht, man muss schon mehrere Antworten richtig haben, um so ein echter Linksextremer zu sein. Zum Beispiel muss man für Gewalt gegen Kapitalisten sein. Und wie erhebt man, ob jemand für Gewalt gegen Kapitalisten ist (das sind übrigens Menschen)? Mit der grossartigen Frage:

„Ich finde es in Ordnung, wenn die Gebäude oder Luxusautos der weltweiten Grossunternehmen und Wirtschaftsbosse beschädigt werden.“

Der Tesla ist dem ordinären Kapitalisten so wichtig, dass man einen aufgestochenen Reifen eigentlich schon als Gewalt gegen einen Menschen werten könnte. Wer eine Sachbeschädigung in Ordnung findet, erschiesst schon bald einen Menschen. Aus Sachschaden wird Mord, wer einmal kifft wird Heroinjunkie, usw. Eigentlich müssen wir glücklich sein, sind die Autor*innen dieser Studie keine Richter*innen. Also unser Hooligan, der sich mit der Polizei anlegt und im Suff einen Tesla-Rückspiegel zerdeppert, erhält schon fast einen Leninorden.

Weiter geht unsere Reise mit folgenden Fragen, die „Kapitalismusfeindlichkeit“ erfassen sollen. Hier finden sich Perlen wie:

„Die Wirtschaftsbosse zerstören den Lebensraum der einfachen Menschen in den Städten.“

„Die Reichen und Mächtigen beuten die einfachen Menschen immer mehr aus.“

„Heutzutage bestimmen nur noch die weltweiten Grossunternehmen, wo es langgeht.“

„Die weltweiten Grossunternehmen sind verantwortlich für Armut und Hunger in der Welt.“

Wenn unser Hooligan also neben Sachbeschädigung noch die Zeitung gelesen hat, wo Dinge stehen wie dass das reichste Prozent der Weltbevölkerung gleich viel Knete besitzt wie die Hälfte der übrigen Weltbevölkerung , ja dann hat er es schon fast geschafft, über Nacht ein Linksextremer zu werden. Vorausgesetzt man glaubt all den tausend Belegen, dass die Schere zwischen Reich und Arm immer grösser wird etc. Man kann es auch einfach wie die vernünftige Mitte machen und sagen: „Das System funktioniert.“urch Realitätsverleugnung kann man den Extremismus-Vorwurf abstreifen und zurück zur Mitte finden – ja, es funktioniert, Kapitalismus ist wirklich toll, nur Extremisten behaupten, dass es Dinge wie Gentrifizierung der Städte und Ausbeutung gibt.

Aber was macht einen waschechten Linksextremisten aus, ausser Zeitung lesen und Sachbeschädigung? Natürlich die Tatsache, dass er den Kommunismus toll findet. Und natürlich die Gewalt! Vergesst mir nicht die Gewalt! Wie erhebt man also in einer Umfrage ob jemand den Kommunismus gut findet? Mit folgenden Fragen:

„Wirklich frei können wir nur dann sein, wenn der ganze Staat abgeschafft wird“ (und nicht nur der Halbe oder so)

„Wir brauchen keinen Staat und keine Parteien; wir können uns selbst am besten regieren.“

„Gesellschaften, in denen alle Menschen das Gleiche haben (z.B. Einkommen, Besitz), sind viel besser als die Schweizer Gesellschaft.“

„Das Eigentum sollte abgeschafft werden; alles sollte allen gehören.“

Also wie jetzt? Überhaupt gar kein bisschen Eigentum, aber alle sollen das Gleiche haben, also eine Form von gemeinsamem Eigentum? Und nach der Abschaffung von Staat, Klassen und Geld haben dann alle das gleiche Einkommen, also alle verdienen gleich viel in einer Gesellschaft ohne Geld? Oder kriegen alle kein Geld, was dann gleiches Einkommen bedeuten würde? Fragen über Fragen, es scheint mir auf jeden Fall, als hätten sich die Autor*innen der Studie nicht wirklich damit auseinandergesetzt, was einen Kommunismus nach Marx ausmachen würde. Dass die Abschaffung von Eigentum überhaupt ein kommunistisches Ideal ist, ist wohl der grösste Anfängerfehler überhaupt (kurz vor: im Kommunismus müssen alle dieselben Hosen tragen und ich muss meine Zahnbürste teilen, buhuuu). Was würde da wohl der olle Karl Marx sagen, der übrigens aus heutiger Sicht zu einem der Begründer der Sozialwissenschaften zählt (ist so, hab ich nicht erfunden). Für Marx war die Welt etwas komplexer als für manche andere. Eigentum sei kein Ding, sondern eine Form, wie man sich Dinge aneignet. Der Kommunismus will das Privateigentum an den Produktionsmitteln aufheben, also dass nicht mehr ein CEO über die Entlassung von tausenden Menschen bestimmen darf und dass niemand gezwungen ist, seine Arbeitskraft an den Kapitalisten zu verkaufen, eben dass sich niemand durch die Ausbeutung fremder Arbeitskraft Dinge aneignen kann. Im Kommunismus gibt e eine andere Form der Aneignung, von Eigentum. Es gibt nicht gar kein Eigentum, sondern gesellschaftliches Eigentum. Kurzum, wenn man von jemandem wissen möchte, ob er Kommunist oder Kommunist*in ist, müsste man halt Fragen zum Kommunismus stellen.


Wir haben gesehen wie schnell man Linksextremist*in sein kann. Was so einen Nazi ausmacht, ist wohl allgemein bekannt, aber was macht einem zum islamistischen Extremisten?

Die Abwertung des Abendlandes

43% aller muslimischen Jugendlichen würden die „westliche Gesellschaft“ abwerten. Wie die Autor*innen zu diesem Ergebnis kommen ist höchst fragwürdig, aber die Zahl ist in der Welt und füttert die rechte Presse mit Argumenten. Aber stimmt sie denn? Zuerst müsste man sich natürlich fragen, was die westliche Gesellschaft eigentlich ist und wie man sie abwertet. Einen so vagen Begriff wie „westliche Gesellschaft“ überhaupt für eine wissenschaftliche Studie zu verwenden, ist schon sehr gewagt. Natürlich wird in der Studie auch nicht eingehend erklärt, was die westliche Gesellschaft genau ausmacht und was das ist, aber Hauptsache man weiss, wie man sie abwertet, zum Beispiel wenn man bei folgenden Fragen mit Ja antwortet:

„Die Frauen haben in Ländern wie der Schweiz viel zu viele Freiheiten.“

„In den westlichen Ländern gibt es keine Moral mehr.“

„Ich finde die Lebensweise der Menschen in der westlichen Welt (u.a. Tragen teurer Kleidung, offene Sexualität) abstossend.“

Diese Fragen wurden leider nur bei denjenigen Jugendlichen ausgewertet, die sich selbst als Muslim*innen bezeichneten. Spannend wäre es gewesen, diese Fragen bei allen auszuwerten. Bekanntlicherweise ist das Patriarchat und Frauenfeindlichkeit ein weltweites Phänomen, man hätte zumindest überprüfen müssen, ob die nicht-Muslim*innen nicht gleich oft zustimmen, dass die Frauen in der Schweiz zu viele Rechte haben (kleine Erinnerung: das Frauenstimmrecht in der Schweiz wurde erst 1971 eingeführt). Ebenfalls fragwürdig sind die beiden anderen Fragen, denn Faschist*innen wie solche der Identitären Bewegung beschweren sich ja ebenfalls andauernd über den Moral- und Sittenzerfall in ihren schönen Vaterländern. Diese Frage hätte man ebenfalls bei allen auswerten müssen um zu sehen, ob muslimische Jugendliche den „Moral-Zerfall“ stärker wahrnehmen als Menschen von anderen Glaubensrichtungen. Während auf diese Fragen die Mehrheit mit Nein geantwortet hat, stimmen über 60% folgenden Fragen zu:

„Es gibt nur deshalb Gewalt und Krieg in islamischen Ländern, weil die westliche Welt diese Länder ausbeutet und unterdrückt.“

„Muslime werden durch den Westen unterdrückt.“

Also nochmals zum Mitschreiben: wer der Ansicht ist, dass viele Probleme des Nahen Ostens eine Folge des westlichen Imperialismus und willkürlicher Grenzziehungen sind, der wertet die westliche Gesellschaft ab. Wer für das Chaos in Lybien und dem Irak westliche Militärinterventionen verantwortlich sieht, der wertet westliche Gesellschaften ab und ist auf dem besten Weg zum islamistischen Extremisten. Die Verurteilung des westlichen Imperialismus ist also gleichbedeutend mit der Abwertung einer ganzen Gesellschaft.

Müssten dann nicht auch die Linken ein bisschen islamistisch sein, die finden den Imperialismus auch ganz schön doof? Genau! In der Studie steht denn auf Seite 45 auch:

„Eine Überschneidung besteht mit dem islamistischen Extremismus insofern, als Linksextreme zu 44.3 % auch abwertend gegenüber westlichen Gesellschaften eingestellt sind.“

Die Lehren daraus ziehen

Für 347’000 CHF an Steuergeldern konnten besorgte Eltern heute lernen:

  • Wenn dein Kind Rückspiegel zerdeppert, ist es fast schon ein Linksextremer, (ausser es war kein Luxusauto, dann ist dein Kind einfach ein Vandale).  Bitte erkläre deinem Kind, warum eine eigene Zahnbürste etwas Tolles ist.
  • Wenn dein Kind die Nachwirkungen des Irak-Krieges bedenklich findet und dafür die westliche Militärallianz mitverantwortlich macht, dann geh mit deinem Kind wieder einmal einen Cervelat essen und erklär ihm, warum die westliche Gesellschaft wunderbar ist (aber erklär nicht was die westliche Gesellschaft überhaupt ist; das soll sich jeder selbst ausdenken).
  • Wenn dein Kind die Nase voll hat, dass man sogar Schokolade mit halbnackten Frauenkörpern bewirbt, dann zwing dein Kind, halbnackte Fotos auf Tinder hochzuladen. Nur so kannst du es vor dem Islamismus retten.
  • Wenn dein Sohn sich beschwert, dass Frauen zuviele Freiheiten haben, dann erklär ihm, warum er ein halber Islamist ist –  sein Opa aber nicht, der damals gegen das Frauenstimmrecht war.
  • Wenn dein Kind in Zürich eine Wohnung sucht und sich über die Mietpreise beschwert, erklär ihm, warum dieses Rumgemotze kapitalismusfeindlich ist und voll linksextrem.

Dafür doch ein herzliches Dankeschön und in Zeiten des Rechtsrutsches und steigender Gewalt gegenüber Geflüchteten bitte die wichtigste Lektion des Studienautors nicht vergessen, die am 7. November 2018 auch in der 20 Minuten zu lesen war:

Herr Baier, ist Linksextremismus harmloser als Rechtsextremismus? – Nein.

Titelbild: Der Panzer “Roter Oktober” wendet Gewalt gegen einen Kapitalisten an, sehr extrem.

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2 Kommentare

  1. Pingback:Ziemlich extrem… | Maulwuerfe

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