Menu Schließen

Syrien: Hände weg von Rojava!

In einem für Involvierte wie Beobachter*innen völlig überraschenden Schritt hat Präsident Trump den sofortigen Abzug aller US-amerikanischen Truppen aus Syrien angeordnet. Die Kurd*innen im Nordosten Syriens werden dadurch in eine militärisch wie politisch höchst prekäre Position gebracht.

von Matthias Kern (BFS Zürich)

Die Nachricht hat sich am Mittwoch, 19.12.2018, wie ein Lauffeuer verbreitet: Zuerst nur als Gerücht kursierte die Meldung, dass die USA ihre ungefähr 2‘000 Soldat*innen, die zur Zeit in Syrien stationiert sind, abziehen werden. Gegen Abend hat Donald Trump persönlich diese Meldung bestätigt. Der Abzug soll in Kürze beginnen und möglichst rasch vonstatten gehen. Trump stösst damit seine Verbündeten in Syrien, aber auch Teile des amerikanischen Militärs vor den Kopf. Diese befürchten, dass durch einen solchen Schritt Russland und der Iran an Einfluss gewinnen und die USA an geopolitischem Einfluss einbüssen werden. Der US-Aussenminister James Mattis hat aufgrund der Entscheidung Trumps sogar seinen Rücktritt bekanntgegeben.

Die Lage der Kurd*innen

Die Entscheidung des US-amerikanischen Präsidenten betrifft die strategische Verbündeten der USA im Kampf gegen den selbsternannten „Islamischen Staat“ in Syrien direkt: Die kurdischen Selbstverteidigungseinheiten YPG/YPJ und ihnen nahestehende Organisationen, die unter dem Namen Syrian Democratic Forces (SDF) operieren, verlieren ihren wichtigsten militärischen Partner. Die SDF haben in den letzten Jahren unter hohen Verlusten die „Drecksarbeit“ für die internationale Koalition gegen den IS geleistet und am Boden gegen die Islamisten gekämpft. Die Gefahr besteht, dass der IS das Vakuum, das sich durch den amerikanischen Abzug bildet, ausnutzt, und Gebiete zurückerobern wird.

Der Wegfall der amerikanischen Soldaten im Nordosten Syriens hat zudem die Gefahr eines Krieges um die kurdisch geprägte Region massiv erhöht. Denn der türkische Präsident Erdogan hat in den letzten Wochen unmissverständlich klar gemacht, dass er einen militärischen Angriff auf die selbstverwaltete Region plant und dafür auch bereit ist, grössere Opfer in Kauf zu nehmen. Das türkische Militär zieht zur Zeit an mehreren Grenzorten Truppen zusammen und hat Teile der Grenzmauer entfernt. Gleichzeitig hat die unter türkischem Protektorat aus Teilen der Freien Syrischen Armee gebildete Syrian National Army (SNA) erklärt, Rojava „befreien“ zu wollen und dafür bis zu 15‘000 Soldaten bereitzustellen. Es kann durchaus davon ausgegangen werden, dass Trump und Erdogan zu einem Deal irgendwelcher Art gekommen sind und es aus den USA somit grünes Licht für einen türkischen Einmarsch gibt.

Was passiert, wenn die von der Türkei ausgerüsteten Islamisten an die Macht kommen, kann im ehemaligen kurdischen Kanton Afrin beobachtet werden. Menschenrechtsorganisationen und Berichte von Personen vor Ort zeichnen ein Bild gravierender Menschenrechtsverletzungen. Folter, Tötungen und eine systematische Unterdrückung der Frauen* gehören zum Alltag und stehen in starkem Kontrast zur vergleichsweise progressiven Gesellschaftsordnung der kurdischen Bewegung. Es ist zu befürchten, dass den ostsyrischen Gebieten neben einer Zerstörung durch Krieg auch ein Rückfall in patriarchale und islamistisch geprägte Gesellschaftsstrukturen droht, sollte die Türkei und die von ihr unterstützten Milizen einmarschieren.

Rojava und die USA

Auch wenn das viele Linke in Europa nicht so gerne hören, war die Kooperation zwischen den USA und den Kurd*innen nicht nur taktischer Natur. Die kurdische Bewegung in Syrien hat über Jahre intensiv mit der internationalen Koalition gegen den Islamischen Staat zusammengearbeitet. Sie hat akzeptiert, dass die YPG für die eigens gebildete Struktur „Syrian Democratic Forces“ in den Hintergrund rückt und die Verbindungen zur PKK möglichst unsichtbar gemacht werden. Sie hat akzeptiert, dass der Name „Rojava“ aus dem offiziellen Wortschatz der Autonomieregion verschwunden ist. Sie hat teilweise sogar Portraits von Öcalan grossflächig entfernt, um den Forderungen der USA nachzukommen.

Was sie sich dabei erhoffte, war eine Rückendeckung für die Autonomiebestrebungen. Die PYD, die herrschende Partei im kurdischen Teil Syriens, setzte dabei vor allem darauf, dass die Präsenz Russlands und Irans in Syrien die USA ebenfalls zu einer langfristigen Präsenz im Land zwingen würde. Sie konnten den USA durch ihre Kontrolle über ungefähr einen Drittel des Syrischen Staatsgebiets ein gewichtiges Argument zur Zusammenarbeit liefern. Und lange Zeit missachtete die USA erstaunlich offensiv die Interessen ihres vielleicht wichtigsten Verbündeten in der Region, der Türkei. Für diese stellte die Zusammenarbeit der USA mit dem syrischen Ableger der PKK ein Affront dar.

Trotz dem Branding eines anarchistisch geprägten und auf Rätestrukturen setzenden Rojavas scheint sich die USA bis heute nicht wirklich an der politischen Ausrichtung des Projekts gestört zu haben. Vielmehr gab es auch nach der Verkündigung des amerikanischen Rückzugs sowohl aus der Demokratischen als auch aus der Republikanischen Partei in den USA Stimmen, die den Verrat an den „kurdischen Partnern“ aufs Schärfste verurteilten. Das mag daran liegen, dass in Rojava die progressiven Entwicklungen vor allem auf gesellschaftlicher Ebene voranschreiten. So wird zum Beispiel eine juristische und gesellschaftliche Gleichberechtigung der Geschlechter durchgesetzt. In Eigentums- und Machtfragen aber zeigt sich das Projekt bislang nicht so revolutionär, wie das manchmal suggeriert wird.

Was kommt nun?

Dieser Mahnfinger in Richtung derer, die bei Rojava in romantisches Schwärmen verfallen, soll in keinster Weise die Wichtigkeit und Dringlichkeit unserer Solidarität mit der kurdischen Bewegung schmälern! Gerade jetzt ist es umso dringender, dass wir auf der Strasse und überall sonst unsere Unterstützung für das Projekt Rojava und den kurdischen Kampf zeigen. Denn trotz gewisser Grenzen sind die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen im Nordosten Syriens von besonderer Wichtigkeit. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Revolution in Rojava zerschlagen wird!

Das bedeutet allerdings auch, dass wir darauf hoffen müssen, dass es noch unvorhergesehene Wendungen gibt. Denn wenn alles so abläuft, wie das im Moment zu befürchten ist, dann gibt es für die selbstverwalteten Kantone im Nordosten Syriens nach dem Wegfall des amerikanischen Schutzes eigentlich nur noch zwei Handlungsoptionen:

  1. Sie können versuchen die verbleibende Zeit bis zu einem mit Sicherheit stattfindenden türkischen Angriff für den Aufbau von militärischen Verteidigungsstrukturen zu nutzen. Die YPG würde dann in einen blutigen und mit Sicherheit höchst verlustreichen Krieg mit der zweitgrössten NATO-Armee treten, der die militärische Besetzung Rojavas und womöglich ein jahrelanger Guerillakrieg zur Folge hätte. Dass die Türkei militärisch besiegt werden kann, ist mehr als unwahrscheinlich
  2. Alternativ kann die kurdische Führung versuchen, zu einer Übereinkunft mit dem syrischen Regime zu gelangen. Es ist anzunehmen, dass die kurdische Autonomieregierung diesen Weg anstreben wird. Erste Gespräche zur Übergabe von Ölfeldern in der Nähe der Stadt Deir ez-Zor ans Regime scheinen bereits stattgefunden zu haben. Klar hierbei ist, dass sich das syrische Regime in einer ausgezeichneten Verhandlungsposition befindet. Es geht gestärkt aus den letzten Monaten hervor und konnte den Syrischen Bürgerkrieg praktisch auf eine Region rund um Idlib zurückdrängen, die von der Türkei protegiert wird. Sie wird die Integration der Volksverteidigungskräfte YPG/YPJ in die syrische Armee und die Übernahme der zivilen Verwaltung verlangen und so dem Föderalismus der Kurd*innen ein Ende setzen. Die Frage hier bleibt, ob Russland eine solche Übereinkunft erlauben wird. Bereits bei den Auseinandersetzungen um Afrin hat Putin eine Übernahme des Gebiets durch syrische Truppen verhindert, um seine Beziehungen zur Türkei zu verbessern.

Die Situation ist also sowohl militärisch als auch politisch relativ düster. Umso wichtiger ist unsere Unterstützung. Es wird in den nächsten Tagen ziemlich sicher verschiedene Demonstrationen zum Thema geben, an denen wir teilnehmen sollten. So zum Beispiel am 22. Dezember in Basel, wo um 14:00 Uhr eine Solidaritätskundgebung stattfinden wird. Treffpunkt Dreirosenmatte.

Verwandte Artikel

1 Kommentar

  1. Kuni

    Ich muss mich der ‚düsteren Aussicht‘ wie auch der Schlussforderung von @Matthias Kern nur anschließen. Vor dem Hintergrund des türkischen Truppenaufmarsches, Luftangriffen und Erdogans offener Drohung in Rojava einzumarschieren, stellt der Abzug der amerikanischen Streitkräfte ein öffentliches ‚go on‘ von Trump in Richtung der Osmanischen Expansionsbestrebungen dar. „Umso wichtiger ist unsere Unterstützung. Es wird in den nächsten Tagen ziemlich sicher verschiedene Demonstrationen zum Thema geben, an denen wir teilnehmen sollten.“
    Zwei Gedanken/Aspekte, die mir in diesem Zusammenhang wichtig erscheinen.
    1. Am 22. Dezember demonstrierten in Basel 1000 Menschen für ein Lebenszeichen, gegen die Totalisolation Abdullah Öcalans und gegen den sich abzeichnenden Einmarsch der Türkei in Rojava. Auf der Demonstration, auf die Matthias Kern am Schluss seines Artikels verweist, fehlte die BfS (nicht nur – aber eben auch).
    Anwesend war der kleine, wenn auch wachsende Kreis einschlägig bekannter Freundinnen und Freunde der Freiheitsbewegung (und hier nur am Rande, dieser Kreis umfasst nicht nur den Aufbau, die Revolutionäre Jugend und andere ‚linksradikale Romantiker‘, sondern auch Genoss*Innen von BASTA!, der SP (sehr vereinzelt) wie auch Aktivist*Innen feministischer, gewerkschaftlicher und außerparlamentarischer Initiativen. Warum sage ich das?
    Ich meine, dass die Abgrenzung gegen die vermeintlich falsche, ‚‚unkritische Kurdistansolidarität‘ auf einen imaginären Pappkameraden einschlägt. Niemand hindert die westeuropäische Linke an einer eigenen Bewertung und ihren eigenen Zugängen zur Solidarität mit der kurdischen Freiheitsbewegung. Auf kritiklose Gefolgschaft setzt eine emanzipatorische Bewegung nie – weder im Mittleren Osten, noch in Europa. Solidarität bedeutet das aufeinander zuzugehen und da tut sich, das ist zumindest meine Wahrnehmung, in erster Linie die Schweizer Linke schwer.
    2. Jenseits der solidarischen Anmerkungen des BfS spielen sich dieser Tage unschöne Kämpfe um lang gepflegte Traditionen und Definitionsmacht ab. Mit ungezügelter Häme äußern sich vermeintliche Antiimperialisten mit einem „ich wusste es, ihr habt euch an die Amerikaner verkauft“. Ich sage das deshalb, weil sich die Position des BfS wohltuend abhebt.
    Ich erwähne das aber auch, weil die kurdische Selbstverwaltung in Zeiten des Krieges einfach wenig Spielraum hat und sich die Frage der Durchsetzbarkeit ganz einfach als Frage des Überlebens als Verteidigung einer machtpolitischen Nische darstellt.
    Im Klartext: der PKK muss man nicht erklären, dass eine strategische Achse mit den Amerikanern nicht von Dauer seien wird und dass diese nicht auf die Übereinstimmung in den Zielen beruht.
    Das Entsetzen über den einseitigen, angekündigten Truppenabzuges bestehen vielmehr in der Unverfrorenheit, mit der die westliche Doppelmoral jedweden Menschenrechtsbezug für ihr Handeln einstellt und durch eine unverhohlene Machtperspektive des ‚Stärkeren‘ ersetzt (Gut ist was mir kurzfristig nützt).
    Die Politik von Obama oder Merkel bestand drin, rhetorisch manchmal auch nach links zu blinken, um dann möglichst unauffällig und geräuschlos die eigenen Anliegen (Flüchtlingsabkommen mit der Türkei) durch zu setzten.
    Nicht nur Trump setzt jetzt ganz auf die Karte gewaltsamer Durchsetzung nationaler Interessen. Er wirbt damit um Zustimmung in seiner Wählerschaft (Völkerrecht – egal, Flüchtlingsströme mit allen Mitteln wie Zäunen und militärischem Grenzregime fern halten und einer Bündnispolitik nach Carl Schmid als Freund-Feind-Bestimmung). Im Strafrecht würde das der Unterscheidung „unterlassener Hilfeleistung“ gegenüber „Aufforderung und Anleitung zu Straftaten“ entsprechen.
    Ich finde das ist ein Skandal und ich freue mich über jeden und jede, der/die dagegen aufsteht.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert