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Krise und weltweites Chaos

Zehn Jahre nach der Insolvenz der Bank Lehman Brothers werden zunehmend wieder Stimmen laut, die um zwei Themen kreisen: Wie konnte dies passieren? Und: Kann sich das wiederholen? Aber nahezu alle Beiträge drehen sich um die vergangenen oder bevorstehenden Auswüchse in der Finanzwirtschaft. Der vorliegende Artikel hingegen versucht, das weltweite Chaos von seinen ökonomischen Wurzeln her zu verstehen. Leitgedanke dabei ist, dass sich die Dynamik des Kapitalismus erschöpft hat und die Globalisierung deswegen und im Zuge der damals begonnenen Krise zunehmend chaotischere Züge annimmt und zu weiteren wirtschaftlichen und sozialen Krisen führen wird.

von Michel Husson; aus die Internationale

Die Dynamik des Kapitalismus rührt letzten Endes daher, dass die Produktivität immer weiter steigt, sodass immer mehr Waren pro Arbeitsstunde gefertigt werden können. Seit den weltweiten Rezessionen von 1974/75 und 1980/82 hat sich diese Produktivitätssteigerung tendenziell verlangsamt. Aus dem „Goldenen Zeitalter“ – wie es manche der Aussergewöhnlichkeit halber bezeichnen – ist nunmehr ein neoliberaler Kapitalismus geworden, dem eine lang anhaltende Stagnation droht. Dabei hat es der Kapitalismus in dieser Zeit immerhin fertiggebracht, die Profitrate wieder nach oben zu treiben, obwohl der Produktivitätszuwachs abnimmt (siehe untenstehende Grafik).

Grafik 1: Steigerung der Arbeitsproduktivität 1970 – 2018
rot: USA / blau: weltweit
grün: andere Industrieländer / orange: sogenannte “Schwellen- & Entwicklungsländer”

Möglich machte dies eine nahezu durchgängige Lohnbremse, weswegen der Lohnanteil am Gesamteinkommen tendenziell abnimmt. Verantwortlich dafür waren multiple Faktoren (Globalisierung, Finanzialisierung, technologische Innovationen, Verschuldung), die sich wechselseitig beeinflussen, ohne dass wir hier ihren relativen Anteil aufschlüsseln wollen. Die steigende Ungleichheit ist eine logische Folge dieses Systems, das wiederum selbst auf tönernen Füssen stand und dessen innere Widersprüche die Krise von 2007/08 ausgelöst haben. Die Globalisierung ist zwar integraler Bestandteil dieses Modells, hat aber unter dem Eindruck der Krise neue Formen angenommen.

Die Welt im Umbruch

Die Jahre vor der Krise waren durch den Aufstieg der Schwellenländer und besonders von China geprägt. Deren „Durchbruch“ verdankt sich der weltweiten Umstrukturierung des Produktionsprozesses, der vom Entwurf über die Fertigung bis hin zur Belieferung des Endverbrauchers segmentiert und auf mehrere Länder verteilt wird. Diese „weltweiten Wertschöpfungsketten“ werden unter der Ägide der multinationalen Konzerne eingerichtet, die die Weltwirtschaft regelrecht am Gängelband führen. Ein Smartphone wird heutzutage quer durch die Welt entworfen, gefertigt und gehandelt.

Diese neue Form der Globalisierung hat Anfang der 1980er Jahre als Schlupfweg aus der Krise fungiert, indem ein Reservepool an billigen Arbeitskräften geschaffen wurde, der nach dem Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ 1991 noch weiter zugenommen hat. Zugleich jedoch kam es dadurch zu einem regelrechten Umbruch in der Weltwirtschaft, was in erster Linie auf die Verteilung der industriellen Produktion (ohne Energiewirtschaft) zurückzuführen war: Sie wuchs zwischen 2000 und 2018 um insgesamt 62%, wobei sie sich in den Schwellenländern mehr als verdoppelt (+ 152%) und in den Industrieländern mit 16% nur geringfügig zugenommen hat. Auf die Schwellenländer entfallen mittlerweile 42% der weltweiten Industrieproduktion, während es im Jahr 2000 nur 27% waren (Grafik 2 weiter unten). In manchen Ländern wie China und Südkorea beschränkt sich diese Industrialisierung zunehmend weniger auf die Endfertigung (Textilien oder Elektronik), sondern geht mit einem Wachstum von Branchen einher, die Hochtechnologie oder Ausrüstungsgüter fertigen.

Grafik 2: weltweite Industrieproduktion
orange: Volumen der Produktion der Industrieländer
grün: Volumen der Produktion der Schwellenländer
blau: Anteil der Schwellenländer am weltweiten Volumen, Prozent

Die Gegenüberstellung von Industrie- und Schwellenländern folgt jedoch einem irreführenden Schema. Anfang des vorigen Jahrhunderts bezeichnete Rosa Luxemburg den Imperialismus noch als

politischen Ausdruck des Prozesses der Kapitalakkumulation in ihrem Konkurrenzkampf [zwischen den kapitalistischen Ländern] um die Reste des noch nicht mit Beschlag belegten nichtkapitalistischen Weltmilieus.

Nikolai Bucharin beschrieb einen:

Prozess der ‚Nationalisierung‘ des Kapitals, d. h. die Schaffung von gleichartigen, in staatliche Grenzen eingeschlossenen, einander schroff gegenüberstehenden wirtschaftlichen Organismen.

Jedes imperialistische Land strebte damals danach, die Welt zu erobern, was dann zum Ersten Weltkrieg zwischen den imperialistischen Staaten führte.

Inzwischen aber sind die Grenzen zwischen den Staaten und den Kapitalien nicht mehr deckungsgleich. Insofern ist die Vorstellung, dass imperialistische Länder und abhängige Länder einander ungleich gegenüberstehen, überholt. Stattdessen gilt ein Konzept, wonach die Weltwirtschaft gemäß einer ungleichen und kombinierten Entwicklungslogik, die von den transnationalen Konzernen getragen wird, strukturiert wird.

Staat und Kapital

Seit das Kapital in zunehmendem Masse nicht mehr nationalstaatlichen Grenzen folgt, haben sich auch die Beziehungen zwischen Staat und Kapital verschoben. Natürlich gibt es noch immer privilegierte Beziehungen zwischen einem multinationalen Konzern und „seinem“ Staat und letzterer wird weiterhin versuchen, die Interessen seiner nationalen Industriekonzerne zu verteidigen. Aber es gibt eine Entfremdung insofern, als die Konzerne den Weltmarkt im Visier haben und sie ihren Profit unter anderem dadurch mehren, dass sie ihre Kosten durch die Organisation ihrer Produktion im Weltmassstab minimieren und ihre Gewinne in Steuerparadiese transferieren. Sie unterliegen keinem Zwang, auf einheimische Arbeitskräfte zurückgreifen zu müssen und ihr Absatz ist weitgehend unabhängig von der Binnenkonjunktur ihres „Heimatlandes“. Dies bedeutet, dass die Unternehmen eines Landes mit einem schwachen Wachstum des Binnenkonsums in diesem Land leben können, sofern sie über alternative Absatzmärkte auf dem Weltmarkt verfügen. Die Funktion der Staaten liegt, besonders in Europa, nicht mehr so sehr darin, ihre „nationalen Weltmarktführer“ zu verteidigen, als vielmehr alles dafür zu tun, ausländische Investoren für ihr Land zu gewinnen.

Diese Organisation der weltweiten Produktion wurde durch politische Entscheidungen ermöglicht und umgesetzt, deren Ziel die Beseitigung aller Hindernisse für eine freie Kapitalzirkulation in der gesamten Welt war. Die praktische Umsetzung vollzog sich über Institutionen und internationale Verträge und meist durch Zwangsmassnahmen für die abhängigen Länder in Form von „Strukturanpassungsmassnahmen“.

Die Globalisierung führt insofern zu einer Verschachtelung der Machtverhältnisse, die sozusagen einer zweifach widersprüchlichen Regulierung gehorchen. Einerseits streben die Staaten danach, ihre Position in der weltweiten Rangliste zu behaupten und dabei das Funktionieren des globalisierten Kapitalismus zu gewährleisten. Andererseits müssen dieselben Staaten die divergierenden Interessen der Kapitalien, die auf den Weltmarkt orientiert sind, mit denen der Unternehmen in Einklang bringen, die für den Binnenmarkt produzieren, und dabei auch den sozialen Frieden im Land aufrechterhalten.

Die wirtschaftlichen Machtverhältnisse verlaufen heutzutage entlang zweier Achsen: Eine klassische vertikale, die die Nationalstaaten gegenüberstellt, und eine horizontale, die die Konkurrenz zwischen den Einzelkapitalien widerspiegelt. Die internationalen Institutionen fungieren dabei als eine Art Syndikus (Rechtsbeistand eines Unternehmens) der kapitalistischen Staaten, wobei es momentan weder einen „Ultraimperialismus“ noch eine „Weltregierung“ gibt. Der Kapitalismus entzieht sich gegenwärtig vielmehr jedweder tatsächlichen Regulierung und funktioniert in chaotischer Weise, hin und her gerissen zwischen scharfer Konkurrenz und dem Erfordernis verbindlicher Rahmenbedingungen. Dennoch sind die Vorrechte der Nationalstaaten nicht gänzlich verschwunden, wie manche behaupten. Innerhalb der Weltwirtschaft hält sich eines ganz hartnäckig, nämlich die Kontrolle über die Rohstoffe.

Kampf um die Rohstoffe

Der permanente Kampf um den Zugang zu den Rohstoffen hat niemals aufgehört und gebiert weiterhin Verwerfungen und Konflikte. Natürlich denkt man dabei an die Energieträger: Erdöl, Uran etc. Dazu kommen aber noch der Landraub zum Wohle der Agrarindustrie, der Wasserkraftwerksindustrie und dem Bergbau. Auch der Streit um den Zugang zu Wasser schürt zahlreiche Konflikte.

Eine Folge der Globalisierung ist die Zerstörung der bäuerlichen Landwirtschaft, ob durch die Importschwemme von Lebensmitteln oder durch Landraub. Zugleich werden internationale Investitionsentscheidungen oft danach getroffen, die Produktion in Länder zu verlagern, wo die Umweltbestimmungen am laxesten sind. Verschärft werden diese Mechanismen durch den Klimawandel, sodass man letztlich die Transfers im weitesten Sinne (Müll, Umweltverschmutzung, Klimaerwärmung, Dürren, Starkregen, subventionierte Lebensmittel, patentiertes Saatgut, Düngemittel und Pestizide) verantwortlich machen muss, für die erzwungenen Migrationsbewegungen.

Ein solches Schema birgt freilich die Gefahr, in einen allzu vereinfachten Determinismus zu verfallen und dabei das Zusammenwirken mit anderen sozialen und politischen Faktoren außer Acht zulassen. Beispielsweise wäre es arg verkürzt, den andauernden Bürgerkrieg in Syrien lediglich auf die dortigen Interessen der Energiekonzerne zurückzuführen. Diese spielen natürlich eine Rolle dabei, genauso wie der Waffenhandel, wie die Studie zweier Wirtschaftswissenschaftler gezeigt hat. Darin wird nachgewiesen, dass, immer wenn die Profitrate bei den vier grössten Energiekonzernen (BP, Chevron, ExxonMobil, Shell) unter den allgemeinen Durchschnitt fiel, Konflikte gefolgt sind, angefangen vom Sechstagekrieg 1967 bis hin zum Dritten Golfkrieg 2014. Auch wenn die Autoren zugestehen, dass ihre „Geschichte des Nahen Ostens grösstenteils märchenhaft ist“ und dass „die Dramen dieser Region ihrer ureigenen Logik folgen“, macht ihr Beitrag deutlich, dass neben anderen Aspekten auch der Zugriff auf Rohstoffe zu berücksichtigen ist.

Globalisierung – ein Auslaufmodell?

Der Beginn des neuen Jahrtausends wurde geprägt durch eine Achse zwischen China und den USA („Chinamerica“), die einander gewissermassen ergänzten. Die USA lebten auf Pump mit einem Aussenhandelsdefizit, dass durch quasi recycelte Überschüsse vorwiegend aus China finanziert wurde. Die Investitionen in China in Form von Joint-Ventures trugen zum dynamischen Wachstum der chinesischen Wirtschaft bei. Andere Länder passten sich in diese internationale Arbeitsteilung ein, wie die Schwellenländer oder auch die mittel- und osteuropäischen Länder, 11 ganz heterogene Staaten unter starkem Einfluss Deutschlands. Die transatlantische Wirtschaftsachse zwischen Europa und den USA machte ebenfalls Fortschritte. Aus dem Blickwinkel des Kapitals verlief die Globalisierung perfekt und sämtliche Apologeten des herrschenden Systems priesen deren Vorzüge, beschworen die unumgängliche Anpassung an die globale Konkurrenz oder drohten mit Standortverlagerungen.

Es sieht ganz danach aus, als hätte das vergangene Jahrzehnt seit der Krise von 2008 allmählich die Grenzen dieser wirtschaftlichen Entwicklung aufgezeigt. Auch wenn dies nicht das Ende der Globalisierung bedeutet, gibt es deutliche Anzeichen für eine anscheinend dauerhafte Ermüdung. Die Schaffung globaler Wertschöpfungsketten war nicht nur vom Wunsch getragen, Lohnvorteile zu nutzen, sondern auch die wirtschaftliche Dynamik und das Potential der Schwellenländer zu nutzen, die Produktivität zu steigern, und somit das nachlassende Potential in den klassischen Industrieländern zu kompensieren. Nun hat das vergangene Jahrzehnt jedoch gezeigt, dass sich der Produktivitätszuwachs in den peripheren Ländern deutlich verlangsamt hat: Statt +3,5 % zwischen 2000 und 2007 liegt die Steigerung nur noch knapp über 1 % (2011–2016). Dies trägt zweifelsohne zu der spektakulären Abschwächung des Welthandels bei, der nur noch im selben Mass wächst, wie dieProduktion, und nicht mehr doppelt so schnell. Einer der Gründe ist, dass sich China aus der Wertschöpfungskette rauslöst.

Die Importe von Produktionsfaktoren (Inputs, z. B. Rohstoffe, Maschinen) für die Herstellung von Exportgütern machen nur noch unter 20% der gesamten Warenexporte aus, während es in den 1990er Jahren noch 40% waren. Dafür verantwortlich sind höhere Löhne, der vermehrte Einsatz technologisch höherwertiger Verfahren, der Wunsch nach Teilhabe am Erlös und die gestiegene Währungsparität.

Lässt man China beiseite, könnte man sogar behaupten, dass die Schwellenländer ein Auslaufmodell sind. Die anderen BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und Südafrika) sind – anders als China und Südkorea – nicht über den Status von Rohstofflieferanten hinausgekommen. Manche Ökonom*innen sprechen im Falle Brasiliens sogar von einem Rückschritt in der wirtschaftlichen Entwicklung hin zur Erzeugung von Primär- statt Industriegütern. Zudem sind diese Länder besonders von den erratischen Kapitalflüssen betroffen, weswegen ihre Währungen und Aussenbilanzen besonders anfällig für Schwankungen sind. Jüngste Beispiele dafür sind die Türkei und Argentinien, aber auch die südeuropäischen Länder sind vom versiegenden Kapitalzustrom betroffen.

Soziale Polarisierung

Die Krise hat auch ein weiteres Phänomen zutage befördert, das durch die Austeritätspolitik noch weiter verschärft worden ist, nämlich dass die Globalisierung zu einer sozialen Polarisierung führt statt zu mehr „Gerechtigkeit“. Selbst die internationalen Institutionen wie IWF und OECD verweisen auf die Zersetzungszeichen durch die Globalisierung, die sich besonders auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar machen.

In allen Industrieländern lässt sich beobachten, dass die Beschäftigung „an beiden Enden der Fahnenstange“ zunimmt: Sowohl die hochqualifizierten Arbeitsplätze wachsen als auch – am anderen Ende – die prekären Jobs, während die „Mittelschicht“ stagniert und ihre Aussichten auf einen sozialen Aufstieg schwinden. Zugleich vertiefen sich die Einkommensunterschiede. Freilich ist dies nicht bloss auf die Globalisierung zurückzuführen, sondern auch Folge der Finanzialisierung und der Einführung von Hochtechnologien sowie der Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit.

An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass die Welt nicht nur aus Schwellen- und Industrieländern besteht, sondern dass ein Gutteil der weltweiten Bevölkerung in Ländern lebt, an denen die Dynamik der kapitalistischen Globalisierung vorbeigeht. Somit verlaufen die Bruchlinien quer durch alle sozialen Formationen und tragen zu deren Auflösung bei. Insofern überrascht es wenig, dass sich die Studien über die zunehmende Ungleichheit der Einkommensverteilung in jüngster Zeit häufen. Branko Milanović, einer der weltweit führenden Spezialisten auf diesem Gebiet, fasst diese mittlerweile gängige Feststellung so zusammen:

Die Einkommensungleichheiten vertiefen sich innerhalb der einzelnen Länder, nehmen aber durch den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas im Weltmassstab ab.

Diese wachsende Ungleichheit innerhalb der einzelnen Länder belastet die politische Stabilität dieser Staaten.

Diese Vorwürfe veranlassen die internationalen Institutionen gar zum Schuldeingeständnis, dass man die Segnungen der Globalisierung besser hätte verteilen müssen, um sie „gerechter“ zu gestalten. Dieser fromme Wunsch verträgt sich jedoch nicht mit einer der zentralen Triebfedern der Globalisierung, dem zunehmenden Steuerwettbewerb. Der durchschnittliche Steuersatz auf Unternehmensgewinne ist in den Industrieländern von 44% Anfang der 1990er Jahre auf 33% im vergangenen Jahr gefallen und beträgt dank der Massnahmen von Donald Trump inzwischen gar 27%. Auch global ist die durchschnittliche Steuerlast in diesem Zeitraum um ein Drittel gesunken.

Die Widersprüchlichkeit liegt auf der Hand: Um die „Attraktivität“ für die Unternehmen zu steigern, entgehen immer mehr Steuereinnahmen, die dann nicht mehr zur Verfügung stehen, um die Auswirkungen der Globalisierung „gerechter“ zu machen. Dieses weltweite Fiskaldumping für Profite ist der Türöffner für Steuerhinterziehung, die die Ressourcen der Staaten noch weiter schwächt: 2015 wurden 40% der Profite der multinationalen Konzerne in Steuerparadiesen ausgewiesen. Der Sozialstaat wird also von innen bedroht und es überrascht nicht, dass die Anpassung an die globalisierte Wirtschaft mit seiner „Verschlankung“ einhergeht. Damit verliert der Staat durch die Globalisierung nicht seine Daseinsberechtigung, sondern erhält nur andere Aufgaben: Aus dem Sozialstaat wird ein sozialfeindlicher Staat, der sich vorrangig um die Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts sorgt.

Das wachsende Misstrauen gegenüber der EU kann auch als Bumerangeffekt der krisenhaften Globalisierung gesehen werden, da die EU-Institutionen zunehmend als Erfüllungsgehilfen für die Interessen der globalisierten Wirtschaft gelten.

Der Trump-Effekt

Donald Trumps Durchschlagskraft erscheint grenzenlos, aber seine protektionistischen Massnahmen tragen den Abläufen in der US-Wirtschaft und den gegenwärtigen Kapitalverflechtungen keine Rechnung. Das Modell Chinamerica funktionierte u.a. deswegen, weil dadurch die Sparquote der US-Privathaushalte gesenkt und folglich der Konsum angeheizt werden konnte, wobei die Kehrseite im erheblichen Aussenhandelsdefizit bestand, das durch aus aller Welt und besonders aus China einströmendem Kapital finanziert wurde. Daneben betreibt Trump mit seinen Steuersenkungen eine Wachstumspolitik, die das Defizit noch weiter vergrössern wird. Ein ätzender Kommentar im Forbes-Magazin im August 2018 dazu lautete:

„Wenn es einen Geheimplan gäbe, um das Handelsdefizit in die Höhe zu treiben, dann sähe er so aus wie die gegenwärtige US-Politik.“

Was die US-Regierung unter Trump auch nicht kapiert, ist, dass der Welthandel hauptsächlich über zwischengeschaltete Güter und Dienstleistungen funktioniert, deren Anteil „nahezu doppelt so hoch liegt wie der der Güter und Dienstleistungen, die für den Endverbraucher bestimmt sind“, wie kürzlich der Generaldirektor der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) anmerkte. Dem ging es natürlich um ein Plädoyer für den Freihandel, aber dies macht seine Feststellung nicht unrichtig.

Ein Grossteil der Importe der USA entstammen US-Investitionen in Ländern wie Mexiko oder China. Nach IWF-Angaben hielten 2015 die USA 44% der ausländischen Direktinvestitionen in Mexiko und der Anteil von chinesischen Exporten in die USA aus Unternehmen mit ausländischer Kapitalbeteiligung lag 2014 bei 60%. Daher überrascht es kaum, dass die US-Geschäftswelt gespalten ist und dass zahlreiche Sektoren befürchten, dass sich ihre Importe von Produktionsgütern verteuern oder Gegenmassnahmen drohen könnten. Die Financial Times schrieb im August 2018:

„In der gesamten US-Wirtschaft wird die Unruhe über die Folgen der Protektionspolitik von Trump immer grösser, da viele Unternehmen die weltweiten Wertschöpfungsketten dazu nutzen, die Preise niedrig und die Profite hoch zu halten, und sie befürchten, dass dies bald vorbei sein könnte.”

Eine Gruppe von Unternehmen hat daher auch Rechtsmittel vor dem Internationalen Handelsgericht in New York eingelegt, um gegen die Strafzölle von 25% auf Stahlimporte zu klagen. Die IT-Branchenriesen haben auch die Einwanderungspolitik kritisiert, weil durch die Restriktionen hochqualifizierte Arbeitskräfte abwandern könnten.

Die neo-merkantilistische (protektionistische) Politik von Donald Trump ist daher wenig schlüssig. Aus dem Handelsdefizit der USA ergibt sich rechnerisch, dass die im Lande vorhandenen Ressourcen nicht ausreichen, um die Binneninvestitionen zu finanzieren, was durch den infolge der Steuersenkungen noch stärker defizitären Haushalt auch nicht kompensiert werden kann. Dieses Haushaltsdefizit wird auch nicht durch die Strafzölle ausgeglichen werden können, es sei denn, man drosselt den Konsum der Privathaushalte, was wiederum zu lasten des Wirtschaftswachstums in den USA ginge. Praktisch bedeutet dies, dass weiterhin Kapital aus der übrigen Welt einströmen muss, um das Handelsdefizit zu finanzieren. Dies setzt aber voraus, dass die Rolle des Dollars als Reservewährung nicht infrage gestellt wird, was freilich der Fall sein könnte, wenn die Gläubiger der USA keine Dollars mehr halten wollen, weil entweder der Wechselkurs fällt oder sie durch feindliche Massnahmen seitens der USA abgeschreckt werden.

Trumps Massnahmen betreffen auch Europa und insofern die transatlantische Achse, indem er bspw. das Transatlantische Freihandelsabkommen TTIP infrage stellt, dessen Ziel u.a. darin bestand, die Beziehungen zwischen den USA und Europa zu intensivieren, um China beiseite drängen zu können.

Chinas „Grosser Sprung nach vorn“

Während Trump offensichtlich entschlossen ist, die Handelsbeziehungen zwischen China und den USA zu blockieren, steht China seinerseits vor einer Neuausrichtung auf der Grundlage dreier Pfeiler. Der erste besteht darin, seine Wirtschaft wieder auf den Binnenmarkt auszurichten, was sehr zügig in Angriff genommen wird. Zum zweiten will die chinesische Regierung mit dem ehrgeizigen Programm Made in China 2025 die einheimische Produktionspalette ausbauen. Und drittens treibt China ein Projekt voran, das auf den Namen „One Road – One Belt“ – „Ein Gürtel – eine Strasse“ hört. Dies ist ein riesiges Infrastrukturprogramm über fast eine Billion Dollar und betrifft über 60 Länder. Der „Gürtel“ soll dabei China über Mittelasien und Russland mit Westeuropa verbinden, während die „Strasse“ auf dem Seeweg verläuft und Afrika und Europa über das Chinesische Meer und den Indischen Ozean erreichen soll.

Die geplanten Hauptachsen des Projekts One Road – One Belt

Branko Milanović sieht darin ein regelrechtes Entwicklungsmodell, das die Verständigungsklauseln mit Washington aushebeln würde, die da lauten:

„Man muss nur privatisieren, deregulieren und die Preise und den Freihandel etc. liberalisieren, dann ergreifen die Privatunternehmer die Initiative und die Wirtschaft entwickelt sich von selbst.“

Man muss diese positive Sichtweise nicht teilen, die das enorme Finanzrisiko für betroffene Länder wie Pakistan oder Sri Lanka und deren drohende Überschuldung unterschätzt. Zweifelsfrei ist dies auch eine Gelegenheit für China, die „Partnerländer“ fest in den Griff zu nehmen, so dass manche bereits von einem „neuen chinesischen Imperialismus“ sprechen.

Dies ändert aber nichts daran, dass diese „Neue Seidenstrasse“ und das Programm Made in China 2025 die chinesische Wirtschaft erheblich voranbringen und die Weltwirtschaft auf eine neue Grundlage stellen werden. Die OECD ist sich dessen bewusst und macht sich Gedanken über „die Grenzen dessen, was China allein bewältigen kann“, und unterstellt dabei, dass „die OECD-Länder dabei wesentliche Beiträge werden leisten müssen“, was eine „wachsende Rolle der Märkte“ und die Stärkung der „Eigentumsrechte und der Konkurrenz“ voraussetzt.

Der Rechtspopulismus als Ausgeburt der Finanzkrise

Weltweit wird die Vorkrisenordnung mittlerweile durch den Aufstieg und die Regierungsbeteiligung von rechtsextremen Kräften infrage gestellt, die sich zum Kritiker der Globalisierung aufschwingen und selbst der Krise ihren Aufschwung verdanken. Ein Leitartikler der Financial Times schrieb dazu, dass „der Populismus das wahre Erbe der weltweiten Finanzkrise ist.“

Natürlich muss man sich vor Schematisierungen hüten. So sind bspw. die am stärksten von der Sparpolitik betroffenen europäischen Länder (Griechenland, Spanien, Portugal) vom Aufstieg der extremen Rechten nur wenig betroffen, während sie in Italien, Österreich, Ungarn oder Polen an die Regierung gelangt sind. Natürlich hat dabei auch der Zustrom von Migrant*innen während der letzten Jahre eine Rolle gespielt, aber auch dieser Umstand hatte auf die einzelnen Länder eine unterschiedliche Auswirkung. Sieht man es als algebraische Formel, wirken die Folgen des Neoliberalismus und die Fremdenfeindlichkeit zusammen, aber in unterschiedlichem Ausmass.

In diesem Zusammenhang können wir auf eine recht reizvolle Studie über die Gründe für ein zustimmendes Votum zum Brexit verweisen. Der Autor untersucht darin die Senkung der Sozialausgaben zwischen 2010 und 2015. Im Durchschnitt liegt sie bei 23,4%, variiert aber von Bezirk zu Bezirk. Daraus lässt sich eine kartographische Verteilung der Austeritätspolitik ableiten, die mit den Stimmabgaben für die fremdenfeindliche UKIP (United Kingdom Independence Party) korreliert werden kann, wobei das Votum sich mit der Zustimmung zum Brexit deckt. Es ergibt sich ein sehr enger Zusammenhang zwischen den beiden, so dass der Autor die Behauptung wagt, dass es ohne die Austeritätspolitik keine Mehrheit für den Brexit gegeben hätte. Allerdings verhalten sich die Dinge komplizierter, je nachdem, ob die Senkung der Sozialausgaben am stärksten in den Bezirken waren, die am meisten von den Auswirkungen des Neoliberalismus betroffen waren: von De-Industrialisierung, Arbeitslosigkeit und Polarisierung des Arbeitsmarkts. Die ausschlaggebenden Faktoren sind insofern komplex und, selbst wenn der Autor die Immigration nicht berücksichtigt, hatte die Fremdenfeindlichkeit durchaus einen Stellenwert bei der Kampagne für den Brexit.

Eine kürzlich erschienene Studie erhebt die wirtschaftlichen Daten und Wähler*innenstimmen und korreliert sie mit den empirischen Daten einer sozialwissenschaftlichen Untersuchung über die Einstellungen in der Bevölkerung (European Social Survey). Dabei kommt sie zu dem Ergebnis, dass

„die Regionen mit einer höheren Arbeitslosigkeit eher geneigt sind, aus wirtschaftlichen Gründen Immigrant*innen abzulehnen“. – Die Wirtschaftskrise „hat derlei Ressentiments weiter verstärkt, was besonders bei Leuten zutage tritt, die durch die nachteiligen Folgen der Globalisierung und des technologischen Wandels am meisten betroffen sind“.

Die Autoren treffen hier eine Unterscheidung zwischen „wirtschaftlichen und kulturellen Wurzeln des Rechtspopulismus“. Ihre Ergebnisse zeigen, dass die Abneigung gegen Immigrant*innen eher wirtschaftlich als kulturell bedingt ist. Zwischen Arbeitslosigkeit und der Wahrnehmung der Immigrant*innen im kulturellen Leben gibt es keine strenge Korrelation. Es läuft viel mehr so, dass die rechtsextremen Parteien die ökonomischen Motive für diese Ablehnung mit kulturellen Ressentiments unterlegt haben, so dass eine gefestigte Fremdenfeindlichkeit daraus resultiert.

Wolfgang Streeck verweist darauf, dass es „linke“ und „rechte“ Interpretationen des „Einwanderungsproblems“ gibt, die nicht mehr dem klassischen Links-Rechts-Schema über den Antagonismus zwischen Arbeit und Kapital folgen. Patrick Artus wiederum äussert „Verständnis für das gesellschaftliche Unbehagen“ der Lohnabhängigen in den OECD-Staaten und verweist auf drei Faktoren, denen sie ausgesetzt sind:

„De-Industrialisierung und Polarisierung des Arbeitsmarkts; sinkende finanzielle Ressourcen der Staaten, die soziale Daseinsvorsorge zu erfüllen; sinkender Anteil der Löhne am Gesamteinkommen infolge des Lohndumpings und der wachsenden Renditeerwartungen des Kapitals“.

Dunkle Wolken am Horizont

Die Aussichten der Weltwirtschaft sind zehn Jahre nach der Krise eher düster. Die EU zerlegt sich zwischen Brexit und dem Aufstieg der Rechtsextremen; die Euro-Zone spaltet sich auf; etliche Schwellenländer sind wieder erratischen Kapitalflüssen ausgesetzt; die Schulden und besonders die privaten wachsen immer mehr; die Reichtümer kommen immer weniger denen zugute, die sie erzeugen, und die Ungleichheit wächst; der Sozialstaat wird durch den Steuerwettbewerb zwischen den Staaten finanziell ausgezehrt etc. Statt allmählich zu verschwinden, haben sich die Folgen der Krise verschlimmert. Der tiefere Grund dafür ist, dass es für die Herrscher der Welt kein hinnehmbares Modell gibt, das jenes ersetzen könnte, das vor zehn Jahren in eine Krise geraten ist. Die Koordinaten der Weltwirtschaft zerfallen nach und nach und besonders unter den plumpen Attacken von Donald Trump. Lediglich China verfügt über ein systematisches Konzept zur Restrukturierung eines Teils der Weltwirtschaft zum eigenen Vorteil.

Unter diesen Umständen gehen viele Kommentator*innen mittlerweile von einer weiteren Wirtschaftskrise aus (was mitunter auch daher rühren mag, weil sie sich gegen ihre einstige Blindheit diesem Phänomen gegenüber wappnen wollen), ohne dass jemand sagen könnte, was das auslösende Moment sein wird. Der damalige britische Premierminister Gordon Brown hat in einem BBC-Interview einen treffenden Ausdruck für diese Befürchtung gefunden:

„Wenn die nächste Krise kommt, werden wir merken, dass wir weder über einen fiskalischen oder geldpolitischen Spielraum verfügen, noch auch über einen Willen, einen solchen zu nutzen.“

Was ihn jedoch am meisten beunruhigt, ist dass

 „uns der Wille zur notwendigen internationalen Kooperation fehlt.“

Die Instrumente zu einer solchen Zusammenarbeit sind substanzlos geworden oder sind von den noch herrschenden Kräften ad acta gelegt worden. Es gibt keine richtungsgebende Kraft mehr in der Globalisierung. Dabei bedürfte die drohende Klimakatastrophe einer internationalen Kooperation oder vielmehr eines anderen Entwicklungsmodells. Aber das Chaos in der Weltwirtschaft, die fehlende Bereitschaft der Staaten zum Engagement und natürlich die dem Kapitalismus innewohnende Logik bewirken, dass eine solche Perspektive inzwischen tragischerweise ausserhalb der Reichweite zu sein scheint.

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