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Chile in Flammen: Aufstand gegen den Neoliberalismus

Am Wochenende vom 18. bis 20. Oktober griffen in Chile Demonstrierende zahllose Symbole des Neoliberalismus an. Ein Hochhaus – Sitz einer europäischen Elektrizitätsgesellschaft – ging in Flammen auf. Geplünderte große TV-Sets wurden in Brand gesteckt. Es gab einen Versuch, das größte katholische Kreuz Südamerikas in Brand zu stecken, in einem Museum, das Papst Johannes Paul II. gewidmet ist, der 1987 mit seinem Besuch in Chile den Diktator Augusto Pinochet legitimiert hatte.

Von Pablo Leighton aus sozonline.de

In Valparaíso wurde das Hauptquartier der Zeitung El Mercurio niedergebrannt, die von der Nixon-Administration der USA zur Vorbereitung des Putschs von 1973 finanziert worden war. In den Tagen davor waren verschiedene Metrostationen in Brand gesteckt worden – eine Fahrpreiserhöhung für die U-Bahn war der unmittelbare Auslöser für diese Explosion. 
Chile war das erste Land, in dem die neoliberale Doktrin ab 1975 – unter Pinochet – systematisch umgesetzt wurde, es wurde danach zum Modell. Auf Chiles neoliberale Schocktherapie folgten die konservativen «Revolutionen» von US-Präsident Reagan und der britischen Premierministerin Thatcher, China in seiner Rolle als Sweat­shop der Welt, der Aufstieg der russischen Oligarchie…
Der Neoliberalismus löste als extreme Form des Kapitalismus den «Wohlfahrtsstaat» ab. Nun zeigt die aktuelle chilenische Revolte, dass im Geburtsland des Neoliberalismus – 46 Jahre nachdem er dort mit brutalem Zwang durchgesetzt wurde – dieses System in der «individualistischsten, am meisten eingedämmten Gesellschaft Lateinamerikas» (Noam Chomsky) endlich in Frage gestellt wird.

Chiles Stabilität

Am Tag vor der Massenrevolte, dem 17.Oktober, veröffentlichte die Financial Times ein Interview mit dem milliardenschweren Präsidenten Chiles, Sebastián Piñera. Piñera hatte sein Vermögen erworben, indem er Kreditkarten in Chile einführte. Aus der früher staatlichen Fluggesellschaft LAN Chile, einer Fernsehstation und vielen anderen Unternehmen, darunter Chiles populärstem Fußballklub, Colo-Colo, schuf er sich ein Wirtschaftsimperium.
Die Financial Times nannte Chile einen «Hort der Stabilität und des gesunden Wirtschaftsmanagements auf einem Kontinent, der für beides nicht gerade berühmt ist», und Piñera einen «einsamen» Kämpfer gegen den «Populismus» – damit ist alles gemeint, was den Neoliberalismus in Frage stellt.
Piñera äußerte gegenüber der Financial Times: «Schauen Sie auf Lateinamerika … Argentinien und Paraguay befinden sich in einer Rezession, Mexiko und Brasilien stagnieren, Peru und Ecuador sind in einer tiefen Krise. Vor diesem Hintergrund sieht Chile aus wie eine Oase, denn wir haben eine stabile Demokratie, die Wirtschaft wächst, wir schaffen Arbeitsplätze, wir erhöhen die Löhne und wir halten ein makroökonomisches Gleichgewicht … Es ist nicht einfach», fügte Piñera hinzu, möglicherweise andeutend, was bereits unter der Oberfläche brodelte.
Vier Tage, bevor das Interview erschien, begannen die täglichen Aktionen zivilen Ungehorsams, nachdem die Regierung die Fahrpreise der U-Bahn in Santiago um 30 Pesos (3 Prozent) erhöht hatte. In diesem Land mit seiner extremen sozialen Ungleichheit hätte das vielen den Alltag noch schwerer gemacht.
Die Protestbewegung wurde von Studierenden der Hochschulen und Universitäten entfacht. Sie forderten die Fahrgäste auf, nicht zu bezahlen und über die Absperrungen zu springen. Piñera verkündete noch am folgenden Tag die Aufhebung der Fahrpreiserhöhung.

Preiserhöhungen

Doch der Aufstand ging weiter, anders als in Ecuador, wo es nach einer Revolte gegen die Streichung der Brennstoffsubventionen Präsident Lenín Moreno gelang, diese durch die Einleitung von Verhandlungen zu stoppen. Bevor sie die Symbole der Macht angriffen, zielten die chilenischen Rebellen auf das U-Bahn-System.
Die Metro war einer der wenigen Sektoren, die von Pinochets Neoliberalismus nicht angetastet worden waren. Die Metro ist ein zuverlässiges Transportmittel, um zur Arbeit zu kommen, und sie führt quer durch ganz Santiago. Von allen Regierungen war sie stets als Modell der «Urbanität» und «Modernität» präsentiert worden. Sie ist eine Quelle des Stolzes, Symbol der «entwickelten» Welt, zu der sich Chile verzweifelt zugehörig fühlt.
Für die Protestierenden war sie nunmehr ein öffentlicher Raum für zivilen Ungehorsam. Die wilde Polizeirepression in den U-Bahn-Stationen hatte besonders zerstörerische Folgen. Die chilenischen Massenmedien waren empört und verwirrt über den «unerklärlichen» Widerspruch, dass die Leute das einzige wirklich öffentliche Verkehrsmittel zerstörten.
Am 18.Oktober führte die Jugend den Protest aus dem Metrountergrund nach oben und die Massen schlossen sich an. Oben nahm die Massenbeteiligung an den Aktionen den Protestierenden die Angst. Nun trotzen sie auf den Straßen der Polizei und sogar dem Militär. Sie sind nun nicht mehr Teil des «Gesellschaftsvertrags» auf dieser «Insel» Lateinamerikas, diesem «Modell» des Konsumkapitalismus.

Nicht der erste Aufstand

Der zeitlich nahegelegenste Vorläufer der aktuellen Unruhen waren die Plünderungen, die auf das Erdbeben und den Tsunami 2010 in Südchile folgten. Die damalige Präsidentin Michelle Bachelet schickte nach einigem Zögern das Militär.
Doch die aktuelle Krise hat eine längere Vorgeschichte als selbst die neoliberale Übergangsdemokratie seit 1990. Einige alternative Medien erinnern an die «Chaucha-Revolution» von 1949, als eine Fahrpreiserhöhung von 0,20 Pesos (genannt chaucha) zu Straßengewalt und Repression führte. Erwähnenswert ist, dass diese «Revolution» damals auch zum Ende des Bündnisses zwischen den Mittelschichten und den werktätigen Massen, zur Entstehung einer starken linken Gewerkschaftsbewegung und 1952 zur ersten Präsidentschaftskandidatur Salvador Allendes führte.
Die engste Parallele zur gegenwärtigen Revolte ist jedoch der Zyklus nationaler Proteste und Streiks 1983–1986, der das ganze Land jeweils einen Monat lang lahmlegte, das Pinochet-Regime erschütterte und die in den Jahren der Diktatur herrschende Furcht besiegte. Am 11. und 12.August 1983 schickte Pinochet 8000 Soldaten gegen die Proteste. Diesmal wurden nach offiziellen Angaben 9500 Soldaten mobilisiert, um in den Straßen von Santiago und der größeren Städte zu patrouillieren.
Vom 19.Oktober um 22 Uhr bis zum 20.Oktober um 19 Uhr wurde eine Ausgangssperre verhängt. 1987 war zum letzten Mal in der Hauptstadt eine Ausgangssperre verhängt worden. Sie hat in einer neoliberalen Gesellschaft, die verlangt, dass die arbeitende Bevölkerung weiter ihre Dienstleistungen erbringt, Waren verkauft und «flexibel» arbeitet, sehr viel Chaos angerichtet. Der aktuelle Aufstand geht weiter und wird breiter getragen als alle Revolten seit 1990.
Die meisten internationalen Medien räumen ein, dass der Aufstand die Folge von drei Jahrzehnten neoliberalem Kapitalismus mit wachsender sozialer Ungleichheit ist. Seine Wurzeln ist die wachsende Wut der Bevölkerung über die zunehmende Klassenspaltung und das Fehlen von sozialen Rechten. Eine aktuelle Studie über Steuerhinterziehung und Korruption bei Privatfirmen, den Streitkräften, der Polizei, dem aktuellen Präsidenten Piñera und sogar in der Familie der früheren Präsidentin Bachelet kam auf eine Summe von 5 Milliarden US-Dollar.
Auch die chilenischen Medien müssen sich dieser neuen Realität stellen. El Mercurio war schockiert, dass sogar die Ausgangssperre und das Militär, die einst so erfolgreich von der Diktatur eingesetzt worden waren, keine lähmende Furcht mehr verbreiteten.

Die Propaganda ist durchschaut

Die Chilenen scheinen nun die Propaganda zu durchschauen, die neben dem militärischen und politischen Zwang hilft, die neoliberale Agenda durchzusetzen. Die sozialen Medien werden genutzt, um die Welt über die Proteste und die staatliche Repression zu informieren.
Neue Webseiten zeigen zahllose Fälle von Menschenrechtsverletzungen, darunter Polizeiautos, die Demonstranten überfahren und Militärs, die auf friedliche Demonstranten schießen.
Die genaue Anzahl dieser Menschenrechtsverletzungen ist unbekannt, die Angaben der Regierung sind untertrieben. Sehr viele Menschen wurden durch Gummigeschosse verletzt. Die Krankenhäuser wurden angewiesen, die Anzahl der Opfer nicht anzugeben. Die nötigen Mittel, sie zu behandeln, fehlen ihnen.
Doch die Bevölkerung hat ihre Furcht vor dem militarisierten Staat überwunden. In sieben aufeinanderfolgenden Nächten trotzte sie der Ausgangssperre, Frauen und ältere Menschen stellten sich dem schwerbewaffneten Militär entgegen.

Was nun?

Nach dem ersten Aufstandswochenende – mit der Inbrandsetzung von Metrostationen, öffentlichen und privaten Gebäuden und der Plünderung und Zerstörung von über 250 Supermärkten (die zumeist zur US-amerikanischen Walmart-Kette gehörten), 150 Apotheken und anderen Symbolen der Macht – riefen zivilgesellschaftliche Organisationen und Gewerkschaften zu täglichen landesweiten Streiks auf. Das Land war eine ganze Woche lang gelähmt, mit wenig oder gar keinem öffentlichen Verkehr und Unterricht. Die Regierung war gezwungen zu improvisieren.
Die Zukunft des Aufstands ist ungewiss. Sie könnte geprägt werden durch Piñeras Wiederholung von Pinochets Diktum: «Wir befinden uns im Krieg.»
Piñera hat sich danach für diese Äußerung dafür entschuldigt, doch die Drohung hat die Opposition zusammengeschweißt. Am 25. Oktober gab es die größte Demonstration in der Geschichte Chiles mit 1,5 Millionen Menschen in den Straßen von Santiago. Weitere Hunderttausende gingen in allen größeren Städten, Dörfern und Gemeinden auf die Straßen, viele von ihnen hatten noch nie an einem Protest teilgenommen.
Piñera und sogar einige extrem rechte Politiker gingen in die Defensive und sandten heuchlerische Sympathiebotschaften an die Proteste. Doch seine Reformversprechen, einschließlich einer minimalen Erhöhung der Löhne und Renten, wurden nicht ernst genommen.
Unidad Social, eine Allianz zivilgesellschaftlicher Organisationen, fordert ein Ende des Ausnahmezustands, die Abschaffung von Gesetzen, die das neoliberale Modell vertiefen, und eine verfassunggebende Versammlung. Die Regierung lehnt das ab.
Auf der Linken gibt es unterschiedliche Einschätzungen über die Unruhen und Plünderungen. Sind die gewaltsamen Krawalle Teil der Revolte oder getrennt davon zu sehen? Soll die Politik wieder an die Institutionen delegiert werden, etwa durch reguläre Wahlen?
Die Linke hat die Plünderungen verurteilt, aber sie hat sich schwer damit getan zu erklären, warum Tausende weiter an Straßengewalt teilnehmen und sich viele Chilenen weigern, die Zerstörung von Eigentum und besonders der Machtsymbole zu verurteilen.
Die Zukunft ist offen, aber eines ist sicher: Die von der chilenischen Regierung und Eliten ersehnte Normalität wird nicht zurückkehren. Die Erhebung wird auf verschiedene Weise weitergehen. Die Regierung, die Eliten und der monopolistische Privatsektor haben keine Niederlage eingestanden und keine Bereitschaft gezeigt, den Neoliberalismus aufzugeben.
Mehr Gewissheit bringt ein Graffito auf einer Wand in Santiago zum Ausdruck: «Der Neoliberalismus wurde in Chile geboren und in Chile wird er sterben.»

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