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Irak: Die Krise des politischen Schiitentums und der Kampf für das Recht auf Hoffnung (Teil 2)

Seit Oktober protestiert die Bevölkerung im Irak gegen die Korruption der Regierung, schlechte Lebensbedingungen, gegen ein miserables Gesundheits- und Bildungssystem. Die Proteste ebben nicht ab, im Gegenteil mit einer gut organisierten permanenten Platzbesetzung in Baghdad erreichten die Proteste ein neues Level an Organisierungswille und Kreativität. Wir veröffentlichen hier einen Artikel aus dem re:volt magazine in zwei Teilen. Der erste Teil analysiert die (Hinter-)Gründe der Proteste und die Ereignisse bis hierhin. Der zweite Teil beschreibt die Bewegung und deren Akteure und versucht eine Perspektive zu zeichnen. (Red.)

von Maurizio Copolla und Evrim Mustu; aus re:volt 

Eine „Baghdader Kommune“?

Die aktuellen Proteste werden von einigen Kommentator*innen als die grössten Proteste seit der Ära Saddam Husseins bezeichnet. Hervorzuheben sind diejenigen Aspekte der Proteste, die Hinweise auf einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel liefern. Sicherlich stellt diesbezüglich der 25. Oktober 2019 eine Zäsur dar: Nach dem Beginn der neuen Protestwelle fanden regelmässige, fast tägliche Demonstrationen und Strassenblockaden statt. Seit dem 25. Oktober jedoch ist der Tahrir-Platz in Baghdad permanent besetzt und mittlerweile hat er sich zu einem selbstorganisierten Zeltplatz verwandelt. Die gewalttätige Reaktion der Regierung gegenüber den Protesten hat seither zwar erneut hunderte Tote und tausende Verletzte gefordert, doch dies schwächt die Proteste nicht ab; im Gegenteil, sie betreffen einen immer grösser werdenden Anteil der Bevölkerung und entwickeln sich selbstorganisiert. Es handelt sich dabei um eine qualitative Veränderung, um einen Ausdruck von Kreativität und von kollektiv entwickelten, neuen sozialen Normen. Es ist eine Organisierung von unten, welche in nur wenigen Wochen an Kraft gewonnen hat.

Für viele Demonstrierende stellt der Tahrir-Platz heute tatsächlich all das zur Verfügung, was der irakische Staat Jahrzehnte lang nicht tat: Gesundheitsversorgung, Verteilung von Essen, Aufnahme von Armen, Bildung und Anerkennung aller gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten – all diejenigen sozialen Dienste also, für welche die Menschen auf die Straße gehen. Von Beginn an nehmen Frauen massenhaft an den Protesten teil. Die wachsende Vorreiter*innenrolle der Frauen ist beeindruckend: In den Protesten der letzten Jahren kamen frauenspezifische Forderungen kaum zum Ausdruck, Frauen wurden schlicht als Anhängsel der Familie betrachtet und sie beteiligten sich auch in dieser Position an den Protesten. Heute agieren sie hingegen also autonome, politische Subjekte, die eine tragende Rollen in der Tahrir-Platz-Besetzung innehaben und konkrete Forderungen äussern, in erster Linie in Bezug auf Rechtsgleichheit und gleiche gesellschaftliche Beteiligungsmöglichkeiten.

Unter den Zelten, die das Bild des Tahrir-Platzes zurzeit prägen, bieten Ärzt*innen und Pfleger*innen ihre Dienste an und behandeln sowohl verletzte Demonstrant*innen, als auch diejenigen, die keine Möglichkeiten haben, sich im Gesundheitssystem behandeln zu lassen. Das dafür notwendige medizinische Material wird durch Spenden von Apotheken zur Verfügung gestellt.

Auch die Student*innen beteiligen sich an den Protesten. Sie haben zusammen mit den Lehrer*innen in den Städten des Südens gestreikt. Ihre Präsenz auf dem Tahrir-Platz trägt zur Entwicklung einer Bildung von unten bei. In einem leerstehenden Gebäude am Platz, dem Turkish Restaurant, wurde eine Bibliothek mit Büchern in arabischer und englischer Sprache eröffnet. Es handelt sich dabei nicht nur um eine Antwort auf die realen Probleme des öffentlichen Bildungssystems, denn der Analphabetismus unter den Jugendlichen ist weit verbreitet und die Schulklassen zählen bis zu 50 Schüler*innen; die jungen Aktivist*innen der Bibliothek sind auch von größter Bedeutung für die Logistik der Proteste: Sie kümmern sich um die Sauberkeit auf dem Tahrir-Platz, stellen Duschmöglichkeiten zur Verfügung und garantieren die Sicherheit der Besetzung.

Darüber hinaus wird unter den Zelten kollektiv gekocht und das Essen kostenlos allen Anwesenden verteilt. Aus der Nachbarschaft beteiligen sich zahlreiche Familien an der Verteilung von Lebensmitteln. In den leerstehenden Gebäuden rund um den Tahrir-Platz haben sich Obdachlose einquartiert und somit eine sichere Unterkunft gefunden. Allgemein besteht ein hohes Sicherheitsgefühl in der Platzbesetzung, worauf die Protestierenden besonders bedacht sind. Und mittlerweile gibt es auch schon gedruckte Zeitungen, die als Sprachrohr für die Stimmen des Platzes fungieren.

Für die Proteste von zentraler Bedeutung bleiben weiterhin die Tuk-Tuk Fahrer*innen, die weit verbreiteten Dreirad-Taxis für ärmere Leute, die sich kein Auto-Taxi leisten können. Es handelt sich dabei meist um unter 18-Jährige, die aus den untersten Gesellschaftsschichten kommen, kaum berufliche und soziale Zukunftsperspektiven haben und von der Hand in den Mund leben. Durch die Solidarität mit den Ambulanzen, die während der Proteste nicht in der Lage waren, all die verletzten Demonstrierenden in die Krankenhäuser zu bringen, erlangten sie – wie viele andere marginalisierten Gruppen – eine soziale Anerkennung. Dieser Punkt ist insofern von grosser Bedeutung, als sich dadurch Perspektiven und Möglichkeiten auf eine alternative Zukunft beziehungsweise auf eine neue Gesellschaft auftun.

Bei den im August stattgefundenen Protesten im Irak fehlte es noch an Führung, Organisation und klaren Perspektiven. Heute scheinen diese Mängel Dank der Besetzung des Tahrir-Platzes und den sich darin entwickelten Instrumenten der Selbstorganisation zumindest teilweise überwunden zu sein.

Perspektiven der Demokratisierung

Bei den irakischen Protesten handelt es sich also um weitaus mehr als nur um einen neuen „Frühling“; die Protestierenden charakterisieren ihre Bewegung vielmehr als „(Oktober-)Revolution“. Die desillusionierten Menschen im Irak haben durch den sowohl radikalen wie auch offenen Charakter der Proteste an politischer Kraft und Zukunftshoffnung gewinnen können. Wie grundlegend und weitreichend der Wandel des Bewusstseins der Protestierenden ist, erkennt man an der Verschiebung der Konfliktlinien und der Art der Opposition, samt ihren Folgen: Die politischen Akteure als Ganzes stellen für die Protestierenden das Problem dar. Dieser Aspekt ist deshalb von grösster Wichtigkeit, weil dadurch die Möglichkeit entsteht, den unglaublich tiefen konfessionellen Charakter der Konflikte zu überwinden, der die Protestdynamiken der vergangenen Jahrzehnte bestimmte. Er wird bereits von den Protestierenden praktisch und täglich überwunden und stellt die Unmöglichkeit der Weiterführung konfessioneller Politik unter Beweis. Kaum jemand hatte eine solche Entwicklung erwartet. Doch plötzlich ist sie Realität und hat insofern den Namen „Revolution“ verdient; denn gestern noch war es ohne grösseres Unglück möglich, das Leben zu verlieren, weil man zur falschen Zeit und am falschen Ort der falschen Konfession angehörte. Allerdings: der irakische Machtapparat wird diesbezüglich das „Unmögliche“ versuchen. Um am Leben zu bleiben wird er weiterhin mit gewaltsamer Unterdrückung reagieren – und auch darauf müssen sich die Protestierenden einstellen.

Die aktuelle Protestwelle im Mittleren Osten und in Nordafrika kann Hinweise auf mögliche politische Ausgänge des irakischen Protests geben. Im Sudan und in Algerien haben die sozialen Bewegungen die Proteste und Mobilisierung lange aufrechterhalten, um so zu vermeiden, von Teilen der Regimes instrumentalisiert zu werden. Im Sudan konnte schließlich die Sudanese Professionals Association (SPA), eine Dachorganisation von 17 sudanesischen Gewerkschaften, die Stimmen der Plätze vereinen und so als von den Protesten legitimierter politischer Akteur mit dem Militär Verhandlungen für den demokratischen Übergang führen. In Algerien hingegen wurde bewusst darauf verzichtet, eine breit abgestützte politische Kraft zu gründen, um mit dem Regime einen demokratischen Übergang zu organisieren. Hier werden weiterhin Neuwahlen abgelehnt und die radikale Erneuerung des politischen Systems gefordert, welches mittels einer konstituierende Versammlung organisiert werden soll. In Ägypten schliesslich unterdrückte das Regime von al-Sisi die aufkommende Bewegung von Beginn an gewaltsam. Die Festnahme von Tausenden von politischen Aktivist*innen schränkte die Wiederbelebung der sozialen Bewegung noch einmal massiv ein und erstickte sie letztlich relativ schnell im Keim.

Der Ausgang der Proteste im Irak wird ebenfalls im Wesentlichen von einem machtinternen und von einem bewegungsinternen Faktor abhängig sein. Was den ersten betrifft, so haben mit Blick auf den Irak die Parlamentswahlen im Jahr 2018 die Karten neu gemischt: Die populistischen Kräfte um al-Sadr wurden in den institutionellen Machtapparat integriert und diese spielen nun eine zentrale Rolle für die Machtbalance innerhalb des irakischen Schiitentums. Es ist schwer vorstellbar, dass offene Konflikte ausgetragen werden, die zur Stärkung der sozialen Proteste beitragen und so die Möglichkeiten eines radikalen Bruches erhöhen würden. Vielmehr stellt sich die Frage, wie ein neues Machtgleichgewicht zwischen den sich teilweise konkurrierenden, teilweise zusammenarbeitenden Strömungen des politischen Schiitentums gefunden werden kann. Zudem wird sich zeigen müssen, wie groß die ökonomischen Möglichkeiten und der politische Wille der herrschenden Parteien für soziale Zugeständnisse sind.

In Bezug auf die inneren Dynamiken der Bewegung, handelt es sich bei der Tahrir-Platz-Besetzung um einen fundamentalen qualitativen Sprung nach vorn. Einen eigenen, selbst-repräsentativen und organisierten Ausdruck der Plätze gibt es jedoch noch nicht. Es geht hier nicht darum, einen charismatischen Leader oder schlicht die avantgardistische Partei zu finden, welche die Bewegung führen wird. Es wird darum gehen, ein Netzwerk von popularen Organisationen – unabhängige Gewerkschaften, Kollektive von Arbeitslosen, Nachbarschafts-Räte, Student*innenorganisationen, feministische Kollektive und so weiter – von unten aufzubauen, das gleichzeitig radikale und unmittelbar umsetzbare politische Forderungen über die herrschenden Koordinaten hinaus entwickeln und verteidigen kann. Der Aufbau einer solchen organisierten Struktur stellt die größte Herausforderung aufseiten des Aufstands dar.

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