Menu Schließen

Irak: Die Krise des politischen Schiitentums und der Kampf für das Recht auf Hoffnung (Teil 1)

Seit Oktober protestiert die Bevölkerung im Irak gegen die Korruption der Regierung, schlechte Lebensbedingungen, gegen ein miserables Gesundheits- und Bildungssystem. Die Proteste ebben nicht ab, im Gegenteil mit einer gut organisierten permanenten Platzbesetzung in Baghdad erreichten die Proteste ein neues Level an Organisierungswille und Kreativität. Wir veröffentlichen hier einen Artikel aus dem re:volt magazine in zwei Teilen. Der erste Teil analysiert die (Hinter-)Gründe der Proteste und die Ereignisse bis hierhin. Der zweite Teil beschreibt die Bewegung und deren Akteure und versucht eine Perspektive zu zeichnen. (Red.)

von Maurizio Copolla und Evrim Mustu; aus re:volt 

Die Massenproteste im Irak, die seit Oktober nicht abebben und bislang über 400 Todesopfer und zehntausende Verletzte forderten, stellen in vielerlei Hinsicht eine Zäsur in der jüngeren Geschichte des Landes dar. Im Hinblick auf ihre Ursachen tun sie dies allerdings nicht: Korruption auf allen Ebenen der Politik, hohe Arbeitslosigkeit und miserable Lebensbedingungen des Grossteils der Bevölkerung sind die übergreifenden Quellen der sozialen Spannungen, die sich nun entladen. Die Proteste läuten eine tiefe soziale und politische Krise ein, deren Folgen weit über den Irak hinausreichen. In den vergangenen Jahren kam es immer wieder zu Protesten, die auf diese oder jene Weise niedergeschlagen und beschwichtigt wurden. Diesmal jedoch scheint beides nicht mehr möglich zu sein.

Am 1. Oktober 2019 explodierten die ersten Demonstrationen gegen die irakische Regierung und insbesondere gegen den 77-jährigen Premierminister Adel Abdel Mahdi, der 2018 sein Amt angetreten hatte. Die Demonstrationen nahmen in der irakischen Hauptstadt Baghdad ihren Anfang und weiteten sich von dort in weitere Provinzen, hauptsächlich in den mehrheitlich schiitischen Süden, aus. Konkret wurde der Rücktritt Abdel Mahdis gefordert, der für die Protestierenden jedoch nicht nur die Regierung repräsentiert. Von Anfang an wurde deutlich, dass er als Teil eines über ihn hinausgehenden politischen Gleichgewichts zwischen staatlichen und nicht-staatlichen politischen Akteuren die „herrschende Ordnung“ als Ganzes symbolisiert. Das passiert nicht zuletzt deshalb, weil dieses Akteure in der „ausserirdischen“ Green Zone (einem hochmilitarisierten Stadtteil Baghdads, Anm. Red) lokalisiert werden, in der die wesentlichen Institutionen der Macht ihr Dasein hermetisch abgeschottet und vermeintlich unabhängig vom Rest der Stadt und des Landes fristen.

Die tiefen Risse, die durch die Proteste einerseits sichtbar gemacht wurden und die diese andererseits in die Herrschaftsstruktur geschlagen haben – und das politische System damit in eine umfassende Krise stürzten –, erklären sich zum Grossteil aus den verschobenen gesellschaftlichen Konfliktlinien: Die konfessionellen und ethnischen Feindseligkeiten, die insbesondere mit der US-Besatzung im Jahr 2003 institutionalisiert wurden, lösen sich mit den Protesten nach und nach auf und sind nicht durch bislang gewohntes Vorgehen zu übertünchen. Letzteres lässt sich beispielsweise an den Reaktionen der Sicherheitskräfte erkennen. Innerhalb der ersten drei Tage der Proteste zählte man bereits 38 Tote und hunderte Verletzte. Streitkräfte der irakischen Regierung (Polizei und Armee) und Paramilitärs, die auf Befehl der iranischen Milizen intervenieren, schossen mit Tränengaskanistern und scharfer Munition auf die protestierenden Menschenmengen. Ihre gnadenlose Antwort auf die Proteste stellt den unmittelbaren Grund für die Eskalation des Konfliktes dar und ebnete den Weg für einen massenhaften Aufstand gegen die herrschende politische und soziale Lage im Allgemeinen.

Die Gewalt der irakischen Sicherheitskräfte gegen die Protestierenden eskalierte noch einmal Ende November. In Nasiriya, im Süden des Landes, wurden 29 Menschen bei der Blockade einer Brücke getötet; in Najaf wurden 45 Menschen getötet, als die Protestierenden das iranische Konsulat stürmten; in Baghdad verloren schliesslich vier Menschen das Leben. Die Sicherheitskräfte hatten mit scharfer Munition geschossen.

Verelendung der Massen und Korruption

Die protestierenden Massen befinden sich offensichtlich zwischen dem Hammer der brutalen Unterdrückung und dem Amboss der nicht zu ertragenden Lebensverhältnisse. Wie ist es dazu gekommen?

Grosse Teile der irakischen Gesellschaft leiden unter akutem Mangel der Befriedigung von Grundbedürfnissen: zumutbarer Wohnraum, Nahrungs-, Elektrizitäts- und Wasserversorgung, Bildung, Gesundheit, Mobilität, Sicherheit und so weiter. Ein Blick auf die ökonomische Struktur und Entwicklung des Irak lässt schnell erkennen, weshalb das der Fall ist. In Folge von Krisen, Kriegen und Sanktionen über einen Zeitraum von 40 Jahren hinweg sind die Kapazitäten der allgemeinen Waren- und Dienstleistungsproduktion im Irak im Grunde komplett zerstört worden. Durch die neoliberale Öffnung der Wirtschaft im Zuge der Besatzung und Teil des Plans seitens der USA, den Irak zu einem neuen Modell des Regime-Changes umzuformen – inklusive Integration in den Weltmarkt, wurden die verbleibenden Reste der Produktion einer globalen Konkurrenz ausgesetzt. Dies beschleunigte den Zerfallsprozess weiter.

Die Kriege und Krisen, wie zuletzt der Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) 2014 bis 2017, sorgten auch dafür, dass derzeit die Entwicklung eines produktiven Sektors unmöglich scheint. Zu den Folgen zählen zum einen fünf Millionen Binnengeflüchtete, die zum großen Teil noch immer unter extrem prekären Verhältnissen in Lagern leben müssen. Andererseits verstärken derartige Konflikte auch die Zerstörung der Produktivkräfte, indem ihre Grundlagen wie elektrische Versorgung, Möglichkeiten des Warentransports und so weiter unterbunden werden.

Mit dem Zerfallsprozess ging auch ein starker Anstieg des Imports von Produkten des alltäglichen Konsums einher. Schien der Wert der importierten Waren vor dem Hintergrund der Sanktionen vor dem Krieg 2003 mit etwa zehn Milliarden US-Dollar bereits beträchtlich, beträgt er mittlerweile knapp 60 Milliarden US-Dollar. Das von Zeit zu Zeit feststellbare Wirtschaftswachstum geht dabei direkt auf den Output der Erdölproduktion zurück. 2018 machte der Erdölsektor 61 Prozent des nationalen Bruttoinlandsprodukts aus. Der Anteil der Erdölproduktion am gesamten Export belief sich indes auf ungeheure 99.6 Prozent. Zwischen 2003 und 2018 wurden durch den Verkauf von Erdöl 850 Milliarden US-Dollar erwirtschaftet. 2018 deckten die Einnahmen durch Erdölexporte 92 Prozent des budgetierten Haushaltes, während im Hinblick auf die Beschäftigungsverhältnisse nur ein Prozent der arbeitenden Bevölkerung in diesem Sektor ihr Einkommen generierten.

Die ökonomische Struktur des Iraks wird im Wesentlichen durch eine doppelte Abhängigkeit – genauer gesagt von Warenimporten und Erdölexporten – und durch Kriege bestimmt. Die sozialen Folgen sind Vertreibung, Massenarbeitslosigkeit, Armut. Letztere nahm innerhalb von vier Jahren rasant zu, sie stieg von 18 Prozent im Jahr 2014 auf 22 Prozent im Jahr 2017, wobei zu vermuten ist, dass die realen Verhältnisse diese offiziell erhobenen Zahlen weit übersteigen. Innerhalb eines Jahres (2014) gingen zudem die Einkommen der Lohnabhängigen um 14.9 Prozent zurück. Doch die Armut drückt sich nicht nur monetär aus. Sie berührt auch die „qualitativen“ Elemente in Form der Grundbedürfnisse, obwohl die Regierung die Investitionen in derlei Infrastruktur stark ausgeweitet hat. Auch weite Teile der Mittelschicht sind davon betroffen.

Das Regierungsbudget stieg 2019 im Vergleich zum Vorjahr um 45 Prozent, während 90 Prozent davon durch Erdölexporte finanziert wird. Über die Hälfte des erhöhten Budgets fliesst in Form von Löhnen an verschiedenste zivile und militärische Organe des Staates. Ein großer Teil geht an die Milizen und die restlichen Sicherheitskräfte, die nun auch an der Niederschlagung der Proteste beteiligt sind. Ein weiterer fließt in die staatlichen Unternehmen, die eigens für die Bereitstellung der Infrastrukturdienstleistungen gegründet wurde. 2017 arbeiteten ca. eine halbe Million Angestellte in diesen Unternehmen. Es wird geschätzt, dass insgesamt etwa fünf Millionen Menschen direkt und indirekt abhängig von diesen Löhnen sind. Insofern verspricht die Kontrolle eines Ministeriums für politische Akteure den lukrativen Zugriff auf Finanzquellen, um Strukturen und Positionen zu festigen und Einfluss geltend zu machen. Schätzungen zufolge sind seit 2003 etwa 450 Milliarden US-Dollar in den Korridoren dieses Apparates versickert. Angesichts dieser Dimensionen und der Verelendung im Lichte dieses enormen Reichtums war es also nur eine Frage der Zeit, bis „die Strasse“ Rechenschaft fordern sollte.

Brüche im Machtapparat und globale Einbindungsversuche

Der durch die Proteste entstandene Druck hat die internen Brüche des Machtapparates zutage gefördert und den Konsens über die Verteilung der Macht vor allem innerhalb des Staates durcheinandergebracht. Alle relevanten politischen Akteure wurden dazu gezwungen, sich zu bewegen und Stellung zu beziehen.

Als klar wurde, dass der anfangs kleine Aufstand sich aufgrund der exorbitanten Gewalt und ihr zum Trotz rasch in Massenaufstände verwandelte, war es Muqtada as-Sadr (ein nationalistischer shiitischer Geistlicher, Anm. Red.) der sich als erster öffentlich gegen die Reaktion der Regierung und des Sicherheitsapparates äusserte. Das überrascht nicht, da Sadrs Bewegung die revoltierenden und mehrheitlich schiitischen und verelendeten Massen bis dato vermeintlich repräsentierte und unter Kontrolle zu haben schien. Im Grunde war es seine Basis, die auf die Barrikaden ging.

Für die Regierung, an der seine Bewegung als größte parlamentarische Fraktion beteiligt und mit fünf Ministerien vertreten ist, zeichnete sich eine tiefe Krise ab. Sie wurde Ende Oktober dann auch öffentlich verhandelt, als Sadr den amtierenden Premierminister Mahdi zum Rücktritt aufforderte. Dieser erinnerte Sadr daran, dass man ihm offensichtlich nicht die alleinige Verantwortung für das harsche Vorgehen gegen die Aufstände geben könne – er sprach letztlich ganz im Sinne der Protestierenden, die sich gegen den Machtapparat als Ganzes erhoben haben.

Sadrs Antwort, dass Mahdi das Angebot hätte annehmen und würdevoll abtreten sollen, schien den Bruch innerhalb der Regierung zu besiegeln. Er brachte zudem seine Beziehung zur zweitgrößten parlamentarischen Fraktion, der Haschd al-Shaabi und dessen Anführer Hadi Amiri in Anschlag, der sich bereit erklärte, Folge zu leisten. Am selben Tag nahm Sadr an Protesten in Najaf teil, um sich weiter von der Regierung zu distanzieren und den Verdacht der Mitschuld seiner Bewegung zu verklären. Sadr ist seit jeher dafür bekannt, in der Lage zu sein, seine Positionen prompt zu verändern, ohne größere Konflikte mit Verbündeten oder seiner eigenen Organisation aufkommen zu lassen. Diesmal jedoch erhoben sich auf Seiten der Protestierenden und innerhalb seiner Bewegung viele Stimmen, die Sadrs Glaubwürdigkeit öffentlich anzweifelten. Sie sind wohl der Grund dafür, dass er sich seither nicht mehr wirklich zu den Entwicklungen geäußert hat.

Ein weiterer Grund dafür ist die Reaktion des Iran, die Krise durch die Festigung der Machtverhältnisse mittels Vermittlung zwischen den Konfliktparteien zu lösen. Der Iran macht seinen Einfluss meist auf diese Weise geltend. Der Minimalkonsens, der bei Hintergrundverhandlungen augenscheinlich erreicht wurde und auch Sadr einschließt, ist die erneute Sammlung aller relevanter Kräfte inklusive der Haschd hinter Premierminister Mahdi. Am 9. November wurde ein Abkommen mit dem Ziel unterzeichnet, den Premierminister Mahdi in seinem Amt zu bestätigen. Die Treffen wurden vom Kommandeur der al-Quds-Einheiten der iranischen Revolutionsgarde Qasem Soleimani geführt. Neben Sadr und Amiri nahm auch Mohammed Ridha Sistani teil, der Sohn des höchsten schiitischen Würdeträgers, Grossayatollah Ali as-Sistani.

Der Irak stellt gleichzeitig den wichtigsten konkreten Schauplatz der Auseinandersetzung zwischen dem Iran und den USA dar. Abgesehen von Drohnenangriffen seitens Israel auf iranisch-militärische Kräfte im Irak spielt dieser in der Verteidigungsstrategie des Irans eine zentrale Rolle. Im November 2018 erklärten die USA unter Trump das – von der Vorgängerregierung Obama mit dem Iran und weiteren internationalen Akteuren ausgehandelte – „Atomabkommen“ für nichtig und erhöhte die Angriffe auf den Iran, sowohl in quantitativer wie qualitativer Hinsicht. Als Teil ihrer Strategie der „Sanktionskriege“, die unter anderem auch in Venezuela, Kuba und Syrien geführt werden, verhängten sie die bis dato härtesten und umfassendsten kollektiven Sanktionen gegen den Iran. Im Falle eines militärischen Angriffs seitens der USA und dessen Hauptverbündeten Israel und Saudi Arabien muss der Iran in der Lage sein, zurückzuschlagen. Das bedeutet, die Front möglichst weit in die Breite zu ziehen: von Afghanistan und Pakistan im Osten bis ans Mittelmeer im Westen und den Persischen Golf und das Arabische Meer im Süden. So ist es möglich, den Feind zu beschäftigen, seine Kräfte zu binden und ein Minimum an Kontrolle und Zeit zu gewinnen, um diplomatische Lösungen zu finden, da sich die iranische Führung keine Illusionen über einen militärischen Sieg macht.

Die USA betrachten den Auflösungsprozess der Regierung als Chance, die Karten neu zu mischen und den Iran angesichts seiner Vermittlungsinitiative im Irak zurückzudrängen. Sie unterstützen die Initiative der Vereinten Nationen, Neuwahlen unter ihrer Aufsicht abzuhalten und Reformen innerhalb des Staates zu begleiten. In Anbetracht des großen Legitimitätsverlustes der politischen Eliten als Ganzes scheint der Spielraum, der sich den USA vor dem Hintergrund von Neuwahlen bietet, eine Gelegenheit zu sein, die sie nicht verpassen dürfen.

Die Initiative wird im Irak seitens des obersten Klerikers Ali al-Sistani getragen – während der Sohn des Großayatollahs den Auflösungsprozess unterstützt. Daran ist die Tiefe der politischen Krise zu erkennen, die weit über das Parlament hinausreicht, zumal al-Sistani grosse moralische Autorität innerhalb der schiitischen Massen geniesst und sich nur selten politisch äussert. Die Verurteilung der Gewaltakte der irakischen Sicherheitskräfte gegen die Protestierenden drängten Premierminister Mahdi am 30. November dazu, dem Parlament seine Rücktrittbereitschaft vorzulegen welche vom Parlament dann am 1. Dezember auch tatsächlich angenommen wurde. Es handelt sich sicherlich um einen ersten Erfolg für die Bewegung; ein Sieg jedoch, der die Proteste kaum eindämmen wird.

Was in den öffentlichen Institutionen seither diskutiert wird, sind mehr oder weniger umfassende Reformen im Hinblick auf das Wahlrecht, Korruptionsbekämpfung und weitere Verfassungsänderungen. Sie stellen in den Augen der Protestierenden jedoch nichts weiter als Beschwichtigung dar. Aus diesem Grund halten sie ihren Aufstand bis heute am Leben und wissen, dass alle etablierten Akteure Teil des Problems und nicht Teil der Lösung sind.

Verwandte Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert