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Proteste in Bosnien-Herzegowina: "Entscheidend ist das Klassenbewusstsein!"

Zum Anlass des 25. Jahrestages der Gründung der Organisation International Workers Aid (IWA) trafen sich im Mai 2018 rund 50 Leute, um sich über die aktuelle Situation in Bosnien-Herzegowina auszutauschen. Der Balkanstaat kann auf eine bemerkenswerte Tradition von Arbeitskämpfen und Mobilisierungen gegen neoliberale Politik zurückblicken, die von westlichen Linken zu selten zur Kenntnis genommen wird.

von Hanspeter Gysin (BFS Basel)

Das Treffen fand im zentralbosnischen Tuzla im ehemaligen Atelier eines angesehenen Revolutionsmalers aus Zeiten der Herrschaft Österreich-Ungarns statt und wurde von der Organisation Front Slobode (Front der Freiheit) organisiert. Die Beteiligten aus dem nördlichen Europa waren vorwiegend Mitglieder oder Sympathisant*innen der schwedischen, anarchosyndikalistischen Gewerkschaft „Arbetaren Centralorganisation“ (SAC) oder der Vierten Internationale nahestehende Aktivist*innen.

IWA – ein Hilfswerk klassenbewusster Tradition

In den Jahren 1984 und 1985 tobte in Grossbritannien der grosse Bergarbeiterstreik, in dessen Folge das britische Bürgertum unter Thatcher, nicht ohne Beihilfe eines wesentlichen Teils der Gewerkschaftsbürokratie, den militanten Flügel der National Union of Mineworkers (NUM) ausmanövrierte und der Arbeiter*innenbewegung einen bleibenden Schaden zufügte. In dieser für die britische Arbeiter*innenklasse schwierigen Zeit spendeten unter anderen die gewerkschaftlich organisierten Bergleute in Tuzla (Bosnien und Herzegowina, Jugoslawien) monatlich den Lohn eines Arbeitstages an ihre britischen Kollegen. Zehn Jahre später, während des jugoslawischen Bürgerkrieges, der auch Bosnien und Herzegowina erfasste, erinnerten sich Gewerkschafter*innen daran und lancierten eine Solidaritätsaktion mit ihren Genoss*innen im zentralbosnischen Tuzla. 1993 wurde in London beschlossen, eine Organisation unter dem Namen International Workers Aid (IWA) (1) zu gründen. Die Bewegung für den Sozialismus, damals unter dem Namen Sozialistische Alternative, war aktiver Teil der Kampagne. IWA gelang es in den Kriegsjahren und unmittelbar danach, mit eigenen LKW-Konvois Überlebenshilfe an die multiethnischen Kräfte in Bosnien und Herzegowina, insbesondere die dortigen Kohle-Minenarbeitergewerkschaften, zu leisten. Insbesondere die Arbeiter der Kohleminen Tuzlas hatten beschlossen, sich nicht in Ethnien oder nach Religionszugehörigkeit auseinanderdividieren zu lassen, sondern auf ihrer Identität als Angehörige der Arbeiter*innenklasse zu beharren.

Auf dem Plakat: ” Die Regierung ist eine kriminelle Vereinigung.”

Das Desaster nach „Dayton“

Die seit Kriegsende geltende „Dayton-Verfassung“ (2) gibt die Macht in Bosnien-Herzegowina (BiH) nicht der Bevölkerung, sondern gewährt sie den Vertreter*innen der drei bosnisch-herzegowinischen Nationalitäten. Nach dem Zusammenbruch des titoistischen „Sozialismus“, dem vom Westen politisch und militärisch geschürten Bürgerkrieg der 90er Jahre, der militärischen Intervention der Nato unter Führung der USA 1999 und dem Einzug des Kapitalismus liegt die Wirtschaft im südlichen Teil des ehemaligen Jugoslawien und damit auch in BiH in Trümmern. In Trümmern nicht nur als Folge des Krieges, sondern auch der neoliberalen Privatisierungspolitik der vergangenen Jahre. BiH ist heute ein Staatsgebilde, welches nicht nur innerlich ethnisch zerstritten bleibt, sondern zudem massiv am Tropf von ausländischem Kapital hängt. Das politische System ist mit dem Segen der Europäischen Union durch und durch von mafiösen Seilschaften durchsetzt. Das ist deshalb so, weil das oberste Gebot des internationalen Kapitals die sogenannte Stabilität der eingesetzten politischen Strukturen sowie die Weiterführung neoliberaler Reformen ist. Die grassierende Korruption effizient zu bekämpfen, würde bedeuten, die dem Westen und der eigenen Neu-Oligarchie verpflichtete korrupte Politikelite von der Macht zu entfernen und so die Stabilität der Machtverhältnisse in Frage zu stellen. Der von der UNO ernannte sogenannte Hohe Repräsentant verfügt noch immer über weitreichende Interventionsrechte in die Politik des Landes und stützt seinen Einfluss auf militärische Truppen (EUFOR), die aus dem Ausland stammen. BiH ist demnach bis heute kein wirklich souveräner Staat.



Eine weitere Einschränkung der Selbstbestimmung bedeuten die laufenden Beitrittsverhandlungen mit der EU und der Nato, die beide Loyalität gegenüber den imperialistischen Mächten und ihrer Politik fordern. Und nicht zuletzt steht neben den anderen Balkanstaaten auch BiH in der Pflicht, Geflüchtete, die die EU nicht haben will, an der Weiterreise Richtung Norden zu hindern. Institutionen der internationalen Gemeinschaft (IWF, EU, UNO etc.) haben in der Nachkriegszeit Unmengen Geld nach BiH gepumpt. Dieses ist aus den oben genannten Gründen vorwiegend in die Taschen der Eliten geflossen. Oft wurden die vormals staatseigenen, respektive „volkseigenen“ Grossbetriebe an private Investor*innen verkauft (3), welche danach die Firma mit Hypotheken belasteten oder Beiträge von staatlichen oder internationalen Stellen erhielten. Diese inverstierten nicht in das Unternehmen, sondern brachten das Kapital und manchmal auch die Produktionsmittel ausser Landes.

Als Resultat gibt es mittlerweile ca. 90 Milliardär*innen im Land. Viele von ihnen haben sich im westlichen Ausland dem Krieg entzogen, einige haben sich aus dem Kriegselend der im Land Gebliebenen durch Schwarzmarktgeschäfte Extraprofite angeeignet und sich, einmal zurückgekehrt, dank guter Beziehungen zu den Eliten an der Aneignung des übriggebliebenen Reichtums des Landes beteiligt. Auf diese Weise wurde erreicht, dass eine „postsozialistische“, zum Teil mit der alten Bürokratie verbandelte, oligarchische Oberschicht geschaffen wurde.

Im Juli 2015 verabschiedete das Parlament von BiH ausserdem, beraten von westlichen „Politik-Expert*innen“ und gegen den Willen der Gewerkschaften, ein neues Arbeitsgesetz. Dieses erleichtert Entlassungen, gestaltet die Arbeitsbedingungen flexibler, macht bestehende Gesamtarbeitsverträge leichter kündbar und erschwert die Gründung von Betriebsräten. Die EU, die internationalen Finanzinstitute und der neue Unternehmer*innenverband von BiH haben durchgesetzt, was sie „wichtige sozio-ökonomische Strukturreform“ nennen. (4) Die an den „sozialistischen Gang“ stabiler, wenn auch nicht grosszügiger, sozialer Absicherung gewohnte Arbeiter*innenschaft und ihre Gewerkschaften, waren nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens und dem darauffolgenden Krieg dieser Entwicklung nicht gewachsen. Viele liessen sich zunächst von den Versprechungen grosszügiger Investitionen blenden und zahlreiche Gewerkschaftsleitungen fuhren gehorsam damit fort, den Direktiven der Obrigkeit zu folgen.

Die Deindustrialisierung ganzer Landstriche

Besonders die früheren Industriezentren mit ihren Kohle-, Salz- und Erzvorkommen und zahlreichen Chemie- und Produktionsbetrieben wie Tuzla, wurden durch diese Ausplünderung ihrer wirtschaftlichen Substanz massiv deindustrialisiert. Die grosse Schuhfabrik Tuzlas „Aida“, in der früher 200 Arbeiter*innen rund 80’000 Schuhe im Jahr produzierten, steht im Konkursverfahren und wartet seit Jahren auf eine*n Käufer*in. 16 Monate lang musste die Belegschaft der privatisierten Schuhfabrik „Fortuna“ im nahen Gracanica gegen die Betriebsschliessung streiken. 9 Monate lang hatten die Leute in Zelten vor ihrer Fabrik campiert, um die seit Monaten ausstehenden Löhne einzufordern. Die Zukunft der Firma bleibt ungewiss. Auch „Konjuh“, früher mit etwa 5’000 Arbeiter*innen ein wichtiger Möbelhersteller Jugoslawiens, steht am Ende. Der Lohn wird nur etwa alle vier Monate ausbezahlt und Sozialbeiträge werden schon seit Jahren nicht mehr geleistet. Heute arbeiten noch 27 Leute im von Insolvenz bedrohten Betrieb. Die Reinigungsmittelfabrik „Dita“, ehemals Marktleader für solche Produkte im ganzen Balkanraum, wurde nach 2005 an einen privaten Investor verkauft, der den Komplex zwei Jahre später weiterveräusserte. Ende 2011 besetzte die Belegschaft angesichts des drohenden Untergangs der Firma den Betrieb und versuchte die Produktion in Eigenregie. Mittlerweile wurde „Dita“ an einen überregionalen Grossverteiler verkauft, der eine gewisse Warenabnahme zusichert und immerhin einen Teil der Arbeitsplätze erhalten will. Die Arbeiter*innen der Kokswerke „KHK Lukavac“ mussten 30 Monate lang auf ihre Löhne warten, bis eine Holding mit Sitz auf der Isle of Man den Betrieb kaufte, um mit reduzierter Belegschaft weiterhin Gase und andere Grundstoffe für die Chemieindustrie zu produzieren. Auch die Amonium und Sodafabrik „Soda Lukavac“ (nebenbei eine Partnerfirma der schweizerischen Vetropack) wurde, nachdem die Arbeiter*innen lange Zeit ohne Bezahlung waren, an eine türkische Firma verkauft, welche die Belegschaft gleich darauf auf einen Drittel reduzierte. „Polihem“, einer der wichtigsten Chemiebetriebe der Region, stellte nach dem Verkauf an Private über 600 Arbeiter*innen auf die Strasse. Fast 40 Prozent der ehemals Werktätigen sind heute arbeitslos, über 50 Prozent sind es bei den unter 25-jährigen. Mehr als ein Viertel der Einwohner*innen leben unter der Armutsgrenze.

Widerstand formiert sich

Gegen diese Zustände hat sich in den letzten Jahren auch Widerstand entwickelt und es ist aus geschichtlichen Gründen naheliegend, dass der Funke dazu in Tuzla gezündet wurde. Nach unzähligen wirkungslosen Streiks und Protesten haben sich am 5. Februar 2014 wütende Arbeiter*innen unter den Rufen „Diebe, Diebe“ vor den Verwaltungsgebäuden der kantonalen Regierung in Tuzla versammelt. Forderungen waren die Auszahlung ihrer ausstehenden Löhne sowie die Rückgängigmachung der Privatisierungen. Den Protesten schlossen sich an diesem Tag spontan um die 3’000 Einwohner*innen an. Die brutale Reaktion der Polizeikräfte, die Verletzte zur Folge hatte, führte dazu, dass sich tags darauf in der relativ kleinen Stadt mit 120’000 Einwohner*innen, über 10’000 Menschen mobilisierten und auf die Strasse gingen. Erneut wurden zahlreiche Demonstrierende bei Zusammenstössen verletzt. Dann gingen Gebäude der Kantons- und Staatsregierung in Flammen auf. Interessant dabei ist, dass jüngere Polizist*innen in dieser Situation versuchten, sich auf die Seite der Demonstrierenden zu schlagen, während die älteren Einsatzkräfte an der Überzeugung festhielten, die Institutionen um jeden Preis verteidigen zu müssen. In zahlreichen Städten von BiH fanden in der Folge Solidaritätsdemonstrationen mit mehreren Tausend Beteiligten statt. Als Reaktion auf die Proteste wurde von der Kantonsregierung Tuzlas ein Gesetz erlassen, welches verbietet, sich näher als 500 Meter vor den Toren staatlicher Institutionen zu versammeln.

Tuzla, das zeigt unter anderem das heroische „Husino-Denkmal“ nahe des Bahnhofes, welches an einen Abeiter*innenaufstand von 1920 erinnert, ist eine Stadt mit langer proletarischer Tradition und guten interethnischen Beziehungen. Fragen der ethnischen Zugehörigkeit spielten folglich auch bei diesen Protesten keine Rolle. Spontan einberufene, sogenannte Plenarversammlungen der Bürger*innen signalisierten ausserdem deutlich, dass es nun an der Zeit sei, dass die Menschen ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen und sich unabhängig und basisdemokratisch organisieren.

„Sindikat Solidarnosti“ ― eine Gewerkschaft neuen Typs

In der Folge der Massenproteste wurde in Tuzla die Gewerkschaft „Sindikat Solidarnosti“ gegründet. Den Hauptanstoss zur Gründung gaben die Arbeiter*innen der Reinigungsmittel-Fabrik „Dita“. Die Belegschaft kam zum Schluss, dass auf den offiziellen Gewerkschaftsbund (Savez samostalnih sindikata / Föderation der unabhängigen Gewerkschaften / SSSBiH) kein Verlass ist. Solidarnosti traten auf Anhieb hunderte Arbeiter*innen vor allem liquidierter Unternehmen bei, denn statutengemäss bezahlen Opfer der Privatisierungen, die ohne Einkommen sind, keine Mitgliederbeiträge. In den letzten vier Jahren hat die noch kleine Gewerkschaft trotz massiven Gegendrucks und obrigkeitlicher Drohungen erreicht, dass entlassene Arbeiter*innen einiger Unternehmen frühzeitig ihren Ruhestand antreten konnten. Mit Unterstützung prominenter Rechtsexperten ist es ihr ausserdem gelungen, vom Verfassungsgericht der Föderation von BiH das aktuelle Gesetz, welches Konkurse regelt, für verfassungswidrig erklären zu lassen. Dieses sah unter anderem vor, bei Konkursen die Löhne auf die unterste Stufe der Entschädigungspflicht zu stellen. Bei der Schuhfabrik „Fortuna“ in Gracanica wird „Solidarnosti“ weiterhin den Kampf mit den Institutionen des Landes führen müssen. Der Direktor der Firma wurde inzwischen wegen Betrugs zu fünf Jahren Haft verurteilt, das illegal erworbene Geld geht jedoch gemäss Gerichtsentscheid nicht an die Firma, obwohl diese gegenüber den Arbeiter*innen noch Sozialversicherungsbeiträge in Millionenhöhe ausstehend hat. Im Kanton Tuzla sind noch immer 98 Konkursverfahren am Laufen. Die meisten von ihnen dauern mehr als 10 Jahre und einige der Konkursverwalter*innen sind mittlerweile über 80 Jahre alt, einer schon lange nicht mehr am Leben.

Die zu Beginn erwähnte Konferenz 2018 wurde von einer neuen, linken Aktivist*innengruppe mit dem Namen „Front Slobode“ im Rahmen ihres Projektes einer Radnicki Univerzitet (Arbeiter*innen-Universität) organisiert und stand unter der Parole, „die Arbeiter*innen zu Wort kommen lassen!“. Die Gruppierung ist im gesamten Balkanraum, aber auch in Rumänien und Bulgarien vernetzt und versucht, eine programmatische Basis für eine sozialistische Alternative der Zukunft zu erarbeiten und zu koordinieren. Das Treffen war dann auch inhaltlich geprägt von Lageberichten der Arbeiter*innen aus den genannten Betrieben und den Minenarbeiter*innen, die damals von IWA unterstützt wurden. Es wurden aber auch Initiativen vorgestellt, wie das Projekt einer neuen sozialkritischen Zeitschrift oder die Idee eines lokalen Judolehrers präsentiert, der sein internationales Judoka-Treffen unter das Motto der Völkerverständigung stellt. Auch der Bürgermeister aus Zeiten des Krieges, der damals viel dafür tat, die multiethnische Tradition der Stadt zu verteidigen, ist kurz zu Wort gekommen.

Die Zukunft wird zeigen, ob sich wieder Gelegenheiten für eine Zusammenarbeit über Parteigrenzen und ideologische Differenzen hinaus ergeben werden.


1 Zu IWA siehe: debatte.ch/2014/02/seemed-like-good-idea-time/

2 Der 1995 unter US-Führung zustande gekommene sogenannte Friedensvertrag von Dayton enthält verfassungsrechliche Bestimmungen für das Land, welche die Spaltung in einen kroatisch-bosnischen und einen serbischen Landesteil zementiert.

3 Anlässlich der Privatisierungen „volkseigener“ Betriebe wurden meist etwas weniger als die Hälfte der Eigentumstitel in Form von Gutscheinen an die Arbeiterschaft ausgegeben. Für die anderen Anteil des Wertes wurde die Firma von der zuständigen staatlichen Agentur zur Privatisierung angeboten. Da in der Folge jedoch die Löhne nur noch sporadisch oder gar nicht mehr bezahlt wurden, waren die „Vermögen“ in den Händen der Arbeiterfamilien schnell aufgebraucht und die Gutscheine wurden, im Hinblick auf deren Entwertung, zum Zweck des Lebensunterhaltes weiterverkauft.

4 Das EDA sagt: Die Schweiz unterstützt Bosnien und Herzegowina beim Übergang hin zu einer demokratischen Gesellschaft und einer sozialen Marktwirtschaft.


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