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Geschichte: 80 Jahre Vierte Internationale

1938 wurde in einem Vorort von Paris die IV. Internationale gegründet. Als revolutionär-marxistischer Gegenpart zur reformistischen II. Internationale der sozialdemokratischen Parteien und der stalinistischen III. Internationale hatte sie zum Ziel, ein internationales Netzwerk von revolutionären Arbeiter*innenparteien zu werden. Dies bleibt bis heute zwar vielfach mehr Wunsch als Realität. Trotzdem vermögen die Organisationen, die sich an der IV. Internationale orientieren, bis heute wertvolle Beiträge zur revolutionären Erneuerung der Arbeiter*innenbewegung und der marxistischen Theorie zu leisten. Der folgende Artikel beschreibt die Ursprünge der IV. Internationale und stellt gleichzeitig eine Widmung ihrer zentralsten Errungenschaften dar. (Red.)

von Michael Löwy*; aus inprecor.fr

Die Entstehung der internationalen linken Opposition

Die russische linke Opposition hatte von Anfang an in verschiedenen Ländern Anhänger*innen zunächst in den kommunistischen Parteien, doch ab 1929, als Trotzki, nach seiner Ausweisung aus der Sowjetunion in die Türkei, einen Brief an die Oppositionellen richtet, organisierte sie sich als internationale Strömung. Eine erste internationale Konferenz der Bolschewiki-Leninisten (diesen Ausdruck wählte diese Strömung für sich selber) fand im April 1930 in Paris statt; es wurde ein kleines internationales Sekretariat gebildet (es bestand aus Kurt Landau, der 1937 in Spanien von den Stalinisten ermordet wurde, Alfred Rosmer und Leo Sedow).

Eine weitere Besprechung fand im November 1932 in Kopenhagen unter Beteiligung von Trotzki statt; auf der Konferenz vom Februar 1933 wurde eine Erklärung mit 11 Punkten angenommen, mit der man das Erbe der ersten vier Kongresse der Kommunistischen Internationale (1919 bis 1922) für sich in Anspruch nahm. Bis dahin orientierte die Opposition auf eine Regeneration der Komintern und ihrer Sektionen. Nach Hitlers Sieg ohne Widerstand vonseiten der deutschen kommunistischen Partei, die während der entscheidenden Jahre jegliche Politik der antifaschistischen Arbeitereinheitsfront abgelehnt hatte, wurde im Sommer 1933 auf einem internationalen Plenum die Entscheidung getroffen, den Weg hin zu einem Bruch und dem Aufbau einer neuen Internationale einzuschlagen. Zu dieser Zeit, im August 1933, fand in Paris außerdem eine internationale Konferenz verschiedener Gruppierungen, die in Opposition zum Stalinismus standen; von dieser Konferenz ging das als „Erklärung der Vier“ bekannte Dokument hervor. Es wurde unterzeichnet von: der Internationalen Kommunistischen Liga (den Anhänger*innen von Trotzki), der deutschen Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) und zwei niederländischen Organisationen, die sich bald darauf zur Revolutionair-Socialistische Arbeiderspartij (RSAP) vereinigten, die von Henk Sneevliet geleitet wurde (er wurde während des Zweiten Weltkriegs von den Nazis erschossen). Leider ist diese Initiative folgenlos geblieben; als im Juli 1936 in Paris die erste Konferenz für die IV. Internationale zusammenkam, nahmen daran nur die trotzkistischen Organisationen teil. Die Konferenz war jedoch der Auffassung, dass die Bedingungen, um die neue Internationale zu proklamieren, noch nicht gegeben waren.

Die Gründung der IV. Internationale

Also fand die Gründung der IV. Internationale im September 1938 in einem Gartenhaus von Alfred Rosmer in Périgny, einem Vorort von Paris statt. Und zwar unter tragischen Umständen: Rudolf Klement und Leo Sedow, in deren Händen die Vorbereitung der Konferenz gelegen hatte, waren kurz vorher von der GPU (dem Staatssicherheitsdienst der UdSSR) ermordet worden. Und unter den Teilnehmern der insgeheim abgehaltenen Konferenz war ein Russe, Mark Zborowski, der unter dem Namen „Étienne“ auftrat, ein eingeschleuster Agent der GPU… Es ist anzumerken, dass Trotzki die Idee einer breiteren Internationale nicht aufgegeben hatte. In einem Artikel, mit dem er auf einen Brief an Marceau Pivert vom linken Flügel der französischen sozialistischen Partei einging: „Die Bolschewiki-Leninisten betrachten sich als eine Fraktion der Internationale im Aufbau. Sie sind bereit, Hand in Hand mit den anderen wahrhaft revolutionären Fraktionen zu arbeiten.“[1] Die PSOP und die POUM wollten Beobachter schicken, doch wegen der Bedingungen der Klandestinität war das nicht der Fall.

Die Teilnehmer des Kongresses kamen aus elf Ländern, doch gab es Organisationen, die der neuen Internationale angehörten, in 28 Ländern. Unter den Teilnehmern an diesem Kongress waren: mehrere Franzosen (Pierre Naville und Yvan Craipeau), US-Amerikaner (Max Shachtman und James P. Cannon), ein Belgier (Léon Lesoil), ein Brasilianer (Mario Pedrosa), ein Grieche (Michel Raptis, bekannt als „Pablo“). Der Kongress verabschiedete ein bedeutendes Dokument, das für den revolutionären Marxismus bis heute ein Bezugspunkt geblieben ist: das Übergangsprogramm.

Das Übergangsprogramm

Zur Vorbereitung des Gründungskongresses hatte Trotzki dieses bedeutende Dokument verfasst, dessen eigentlicher Titel „Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale“ lautet, es ist aber weit bekannter als das „Übergangsprogramm“. Wie jeder politische Text findet es seine Grenzen, die dem besonderen historischen Moment geschuldet sind. Die offensichtlichste Einschränkung tritt schon im Titel des Dokuments zutage: die Überzeugung, dass der Kapitalismus im Sterben liegt, dass die Produktivkräfte aufgehört haben zu wachsen, dass die Bourgeoisie orientierungslos sei, dass es keinen Ausweg für die ökonomische Krise gibt. Trotzki tappte jedoch nicht in die Falle des „optimistischen Fatalismus“: Er ist sich vollkommen dessen bewusst, dass der Kapitalismus nicht eines natürlichen Todes sterben wird. Die Zukunft ist nicht von den „objektiven Bedingungen“ entschieden oder vorbestimmt: Wenn der Sozialismus nicht siegt, wird die Menschheit einen neuen Krieg, eine Katastrophe, von der die menschliche Zivilisation bedroht sein wird, durchmachen ‒ das waren prophetische Worte… Trotzkis Marxismus schreibt dem „subjektiven Faktor“, dem Bewusstsein und dem Handeln des historischen Subjekts eine entscheidende Rolle zu: „Alles hängt vom Proletariat ab.“

Wichtig, ja sogar genial ist in diesem Dokument eine bestimmte Methode des politischen Eingreifens, also das, was sich als die Methode des Übergangsprogramms bezeichnen lässt. Diese Methode, die von den Erfahrungen der Oktoberrevolution 1917 und der sozialen Kämpfe der 1920er und 1930er Jahre Anstöße bezog, hat die Marx’sche Philosophie der Praxis, d. h. das Verständnis, dass das gesellschaftliche Bewusstsein der Ausgebeuteten, ihre Selbstveränderung, ihre Fähigkeit, zu historischen Subjekten zu werden, vor allem Ergebnis ihrer eigenen Praxis, ihrer eigenen Erfahrungen in sozialen Konflikten und Kämpfen sind.

Im Bruch mit der alten sozialdemokratischen Tradition der Trennung zwischen einem reformistischen „Minimalprogramm“ und einem abstrakt sozialistischen „Maximalprogramm“ schlug Trotzki „Übergangsforderungen“ vor, die, ausgehend von dem realen Niveau des Bewusstseins der Lohnabhängigen, von ihren konkreten und sofortigen Forderungen, zu einem Zusammenprallen mit der Logik des Kapitalismus, zu einem Konflikt mit den Interessen der Großbourgeoisie führen. Beispielsweise die Aufhebung des „Geschäftsgeheimnisses“ ‒ oder des „Bankgeheimnisses“ ‒ und die Arbeiterkontrolle über die Fabriken oder als Antwort auf die Arbeitslosigkeit die gleitende Skala der Löhne und die gleitende Skala der Arbeitszeit sowie die Expropriation der Großbanken und die Verstaatlichung des Kreditwesens. Mehr als diese oder jene Forderung ist in diesem Dokument der dialektische Ansatz, der „Übergang“ vom Unmittelbaren zur Infragestellung des Systems entscheidend.

Das „Übergangsprogramm“ von 1938 ist trotz der schrecklichen Niederlagen und der Krisen der Arbeiterbewegung der 1930er Jahre von einer rationalen Wette auf die Möglichkeit eines revolutionären Wegs heraus aus der Krise des Kapitalismus, auf die Fähigkeit der Arbeitenden zur Bewusstwerdung durch ihre praktischen Kampferfahrungen und ihre grundlegenden Interessen inspiriert, kurzum eine Wette auf die Bestimmung der ausgebeuteten Klassen und der Unterdrückten, die Menschheit vor der Katastrophe und der Barbarei zu retten. Diese Wette hat zu Beginn des 21. Jahrhunderts nichts von ihrer Aktualität verloren.

Ein moralischer und politischer Imperativ

Es lässt sich unter vielerlei Geschichtspunkten sagen, dass der Akt dieser Gründung 1938 unvernünftig war: Während die Dritte Internationale 1919 nach einer siegreichen Revolution, mitten in einer aufsteigenden revolutionären Welle in Europa, unter Beteiligung von Organisationen mit Zehn- oder Hunderttausenden Mitgliedern gegründet worden war, wurde die IV. Internationale inmitten eines Zusammenbruchs der Arbeiterbewegung und zu einer Zeit gegründet, als Europa nahe an dem stand, was Victor Serge als „Mitternacht im Jahrhundert“ bezeichnet hat; auf einer im Verborgenen abgehaltenen Konferenz, mit Delegierten, die (mit Ausnahme der USA und vielleicht Griechenland) ganz kleine Organisationen repräsentierten; die überragende Führungspersönlichkeit konnte nicht teilnehmen und lebt im Exil in Mexiko; die Gründung wurde ohne die Unterstützung der Parteien vollzogen, die der Linken Opposition nahestanden wie die POUM, die PSOP, die SAP oder die holländische RSAP. Die vorgebliche „Weltpartei der sozialistischen Revolution“ wurde von einer Handvoll von isolierten Unbezwingbaren gegründet. Daniel Bensaïd hat an die Argumente des polnischen Delegierten Hersch Mendel auf dem Gründungskongress erinnert: Marx, Engels und Lenin hatten sich gehütet, die I., die II. oder die III. Internationale in Perioden des Rückflusses der Klassenbewegung zu gründen.[2]

Und dennoch war der Bruch mit der stalinisierten Komintern ein unabweisbarer politischer und moralischer Imperativ; dadurch ist das Erbe der russischen Revolution und des Kommunismus vor dem Stalinismus gerettet worden! Durch die Gründung der IV. Internationale ist 80 Jahre lang dank eines aktiv handelnden internationalen Netzwerkes die Existenz einer unabhängigen revolutionären Linken möglich geworden. Dagegen sind die großen nicht-stalinistischen Organisationen, die sich der neuen Internationale nicht anschließen wollten ‒ die deutsche SAP, die holländische RSAP, die spanische POUM, die französische PSOP, die englische ILP ‒, seit langem verschwunden. Dank der Beiträge von Genossen wie Ernest Mandel oder Daniel Bensaïd, aber auch der Weltkongresse, die zu Themen wie Feminismus, Ökologie, der LGBTI gearbeitet haben, hat die Vierte Internationale die Theorie, die Strategie und das Programm des revolutionären Marxismus zu erneuern vermocht. Gewiss, wir sind eine ganz kleine Bewegung geblieben, weit entfernt von den ehrgeizigen Zielen der Gründer; doch sind wir eine Bewegung, die in einigen Ländern ‒ wie in Portugal oder in Spanien, eigenständig oder in Einheit mit anderen antikapitalistischen Strömungen ‒ einen größeren Einfluss hat als die Erben der stalinistischen Dritten Internationale. Wenn unsere Internationale lebendig geblieben ist, dann liegt das nicht nur an den großen Denkern und Denkerinnen, die unsere Reflexion reicher gemacht haben und unsere Praxis beeinflusst haben, sondern auch und vor allem den anonymen Aktivistinnen und Aktivisten. In einem bewegenden Artikel zum Gedenken an Roberto MacLean, einen schwarzen Aktivisten unserer Organisation in Kolumbien, der am 11. Juli 1997 in Barranquilla von den Paramilitärs ermordet wurde, hat Daniel Bensaïd diesen Umstand unterstrichen: Die revolutionäre Geschichte wird von diesen unbekannten und anonymen Kämpfern und Kämpferinnen gemacht, die ihr Leben der Sache der Emanzipation der Ausgebeuteten und der Unterdrückten widmen. Aus dem Französischen und Englischen übersetzt und bearbeitet von Wilfried Dubois

*Michael Löwy ist 2018 ebenfalls 80 Jahre alt geworden und lebt seit 1969 vorwiegend in Paris. Er ist Sozialwissenschaftler, Ökosozialist, aktives Mitglied der Vierten Internationale. Der Text basiert auf einem Vortrag, den er im Oktober 2018 am Internationalen Institut für Forschung und Bildung (IIRE) in Amsterdam gehalten hat. Von Löwys zahlreichen Werken, die in über 25 Sprachen erschienen sind, liegen einige wenige auf Deutsch vor. Zuletzt erschien das zusammen mit Olivier Besancenot verfasste Buch: Revolutionäre Annäherung. Unsere roten und schwarzen Sterne, Berlin: Die Buchmacherei, 2016. Seine Bücher können unter info@bfs-zh.ch bestellt werden.


[1] Zitiert nach: Daniel Bensaïd, Les trotskysmes, Paris: Presses Universitaires de France, 2002, (Que sais-je? Bd. 3629), S. 34; dt. Ausg.: Was ist Trotzkismus? Ein Essay, aus dem Französischen übersetzt von Harald Etzbach, Paul B. Kleiser, Patrick Ramponi, Köln: Neuer ISP Verlag, 2004, S. 33.
[2] Les trotskysmes, 2002, S. 33; dt.: Was ist Trotzkismus? S. 32.

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