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Nicaragua & Venezuela: Utopie, Verfall und neue Perspektiven

Vom 5. bis 7. April 2019 fand in der Kulturmarkthalle in Berlin die Konferenz «Nicaragua und die Zukunft der Linken» statt, um über Utopie und Verfall emanzipatorischer Gesellschaftsentwürfe zu reflektieren. Die ReferentInnen kamen aus Nicaragua, anderen lateinamerikanischen Ländern und Deutschland, sie repräsentierten unterschiedliche Generationen und Arbeitsschwerpunkte von WissenschaftlerInnen und AktivistInnen. Die TeilnehmerInnen der Konferenz bestanden überwiegend aus Aktiven der Solidaritätsbewegung mit Nicaragua und aus NicaraguanerInnen, von denen sich viele als Flüchtlinge hier aufhalten.

von Matthias Schindler; aus sozonline.de

An der Auftaktveranstaltung nahmen am Freitagabend über 250 BesucherInnen teil, an der dann folgenden Konferenz am Wochenende etwa 150 Teilnehmende. Veranstaltet wurde das Treffen vom Informations-büro Nicaragua, dem INKOTA-Netzwerk, medico international, der Rosa-Luxemburg-Stiftung und SOS Nicaragua Alemania. Die Auftakt-veranstaltung stand unter dem Motto «Utopie und Verfall: Nicaragua, Venezuela und neue Perspektiven». Die sandinistische Revolution der 80er Jahre in Nicaragua und das Projekt des Sozialismus des 21.Jahrhunderts unter Hugo Chávez ab 1999 in Venezuela galten der internationalen Linken als Hoffnungsträger für einen selbstbestimmten Weg mit anti-kapitalistischer Perspektive. Beide Länder sind jedoch in tiefste innere Widersprüche geraten, und beide werden von politischen Führern – Daniel Ortega und Nicolás Maduro – regiert, die für sich beanspruchen, eine fortschrittliche oder gar sozialistische Orientierung zu verfolgen, die aber mit bürokratischen und repressiven Maßnahmen gegen ihre Opposition vorgehen.

Edgardo Lander aus Venezuela, Mitglied der Initiative Bürgerplattform zur Verteidigung der Verfassung (PCDC), erläuterte, dass von den ursprünglichen emanzipatorischen und basisorientierten Zielen dieser Revolution kaum noch etwas übriggeblieben ist. Stattdessen stehen sich aktuell zwei Machtblöcke gegenüber: die direkt mit den USA verbundene Opposition mit ihrem Führer Juan Guaidó und die in chavistischer Tradition stehende Gruppe um Maduro. Beide blicken auf eine bedeutende Anhängerschaft, agieren aber so, als ob sie kurzfristig ihren jeweiligen politischen Gegner besiegen und die ganze Macht im Lande übernehmen könnten.
Lander warnte eindringlich vor der Gefahr eines Bürgerkriegs, die umso größer wird, je länger die beiden Lager an ihren ultimativen Positionen festhalten und sich einem nationalen Kompromiss verweigern.

Die Präsidentin des Nicaraguanischen Menschenrechtszentrums CENIDH, Vilma Núñez, beeindruckte die Zuhörerschaft durch ihren selbstkritischen Beitrag über die sandinistische Revolution. Sie war von 1979 bis 1987 stellvertretende Vorsitzende des Obersten Gerichtshofes von Nicaragua. Schon während dieser Periode hatte sie sich – häufig mit wenig Erfolg – für mehr Rechtsstaatlichkeit in der Revolution eingesetzt, z.B. gegen Sondertribunale oder auch für die Rechte von Angeklagten. Sie stellte sich damit mehrfach direkt gegen die berühmten neun Comandantes de la Revolución, insbesondere gegen den damals ebenso beliebten wie gefürchteten Innenminister Tomás Borge.

Dennoch übernahm sie in Berlin öffentlich ihren Teil der Verantwortung dafür, an einem Regime mitgewirkt zu haben, das letztlich einen Diktator wie Daniel Ortega hervorbringen konnte: «Irgendetwas haben wir falsch gemacht!» Bis heute hat kein einziger dieser Comandantes eine derart nachdenkliche und selbstkritische Position geäußert.

Die traurige Hinterlassenschaft

Es folgten fünf weitere Diskussionsrunden über die Bedeutung demokratischer Strukturen im Staat und in der Zivilgesellschaft, über Neoextraktivismus, über assistenzialistische Politikkonzepte, feministische Perspektiven emanzipatorischer Bewegungen und über das Menschenrecht auf Wahrheit und Gerechtigkeit für Opfer von staatlicher Gewalt. Die Ausführungen der Bauernführerin Francisca Ramírez über ihren Kampf gegen das Projekt des interozeanischen Kanals (der duch Nicaragua führen soll), für die Landrechte der Campesin@s [Kleinbäuer*innen, Anm. d. Red.], gegen die staatliche Repression und auch über das Leid der nicaraguanischen Flüchtlinge in Costa Rica gehörten sicherlich zu den Höhepunkten dieser Konferenz.

Viele VertreterInnen aus Nicaragua betonten in ihren Diskussionsbeiträgen, dass es sich bei dem Konflikt in Nicaragua nicht um eine «ideologische» Konfrontation handle, sondern dass es um Demokratie und Menschenrechten gehe. Dass dies für die AktivistInnen der hiesigen Nicaraguasolidarität essenzielle Bestandteile linker Politik sind, war für viele nicaraguanische TeilnehmerInnen und Gäste kaum zu verstehen. Nach elf Jahren «sozialistischer» und «sandinistischer» Propaganda seitens des orteguistischen Regierungs- und Repressionsapparats treffen linke oder gar sozialistische Positionen kaum mehr auf offene Ohren in Nicaragua.
Zusammenfassend ist hervorzuheben, dass die Beiträge der ReferentInnen – weit überwiegend Frauen – und die Diskussionen aus dem Publikum ein sehr hohes Niveau hatten und Hoffnungen auf eine neue politische Generation in Lateinamerika haben aufkommen lassen.

Bild oben:
Die Exponentin der Kleinbäuer*innen- und Landlosenbewegung Francisca Ramírez berichtet vom Kampf gegen den Interozeanischen Kanal, welcher in Nicaragua verheerende ökologische Folgen hätte und unzähligen Bäuer*innen die Lebensgrundlage rauben würde sowie, wie sie 2018 ihren Kampf mit jenen der Student*innen gegen Ortegas Repression verbinden konnten.

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