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Die belgische Klimabewegung (Teil 1)

In Belgien ist die Klimabewegung besonders gross und dynamisch. Im ersten Teil dieses Artikels beschreiben Mauro Gasparini und Axel Farkas die ökologische Bewegung in Belgien und diskutieren strategische Fragen. (Red.)

von Mauro Gasparini und Axel Farkas; aus intersoz.org

Seit dem Winter steht Belgien im Bann der Klimabewegung, die das Bewusstsein von vielen umgekrempelt hat. Diese Bewegung ist ausgesprochen verschiedenartig. Die neue Phase, in der wir uns jetzt befinden, hat im September 2018 mit mehreren Versammlungen begonnen, die „Rise for Climate“ im Europaviertel in Brüssel organisiert hat. Im Winter wollte man zum Auftakt des internationalen COP24-Gipfels in Katowice die größte Demonstration für das Klima in der Geschichte des Landes zustande bringen.

Streiks für das Klima von „Youth for Climate“

Das ist gelungen, denn zu dieser Mobilisierung kamen 70.000. Zur selben Zeit rief die junge Schwedin Greta Thunberg dazu auf, ihrem Beispiel international zu folgen und Schulstreiks für das Klima durchzuführen. Ihre Aktion fand ein weltweites Echo und ist in mehreren Ländern nachgeahmt worden (zumeist in „reichen“ Ländern). Bei uns fanden die ersten spontanen Versammlungen ebenfalls im Dezember statt, hunderte Schüler*innen von mehreren Brüsseler Schulen haben sich mehrere Male in Brüssel und vor der Europäischen Kommission versammelt.

Donnerstag, den 10. Januar lösten 3000 überwiegend niederländischsprachige Schüler*innen, die einem Aufruf von Anuna De Wever und Kyra Gantois auf Facebook folgten, massive Streiks für das Klima aus. Die Bewegung, deren Führung sich „Youth for Climate“ nennt, hat sich in der zweiten Woche auf den frankophonen Landesteil ausgeweitet. Seit 13 Wochen gehen Jugendliche jeden Donnerstag für das Klima auf die Straße.

Die Bewegung zeichnet sich durch eine historische Hartnäckigkeit und Breite aus. In der dritten Woche haben über 40.000 junge Menschen in Brüssel demonstriert. Es entstanden unterstützende Gruppierungen in der Studierendenbewegung (Students for Climate) und in der Arbeitswelt (Workers for Climate), die allerdings nicht sehr groß geworden sind.

Hunderte von Naturwissenschaftler*innen veröffentlichten einen Aufruf zur Unterstützung. Die flämische Umweltministerin Joke Schauvliege von den flämischen Christdemokraten (Christen-Democratisch en Vlaams, CD&V) wurde zum Rücktritt gedrängt, nachdem sie verschwörungstheoretische Lügen über den Charakter der Bewegung verbreitet hatte.

Parallel hierzu gelang es dem Bürger*innenkomitee „Rise for Climate“, dem sich sehr institutionenbezogene Verbände (z. B. das Klimabündnis) und Jugendliche anschließen, am 27. Januar 90.000 Menschen auf den Straßen von Brüssel zusammenzubringen. Unter den frankophonen Jugendlichen entsteht ein neues Komitee namens „Génération climat“, das für eine radikalere und kämpferische Form des Klimakampfs eintritt.

In den Erziehungsministerien begriffen die politisch Verantwortlichen, dass es weniger riskant wäre zu versuchen, die Bewegung zu begleiten bzw. zu kooptieren, als die Karte direkter Repression auszuspielen. So wurde in zahlreichen Schulen reihum einer Klasse gestattet, im Rahmen eines pädagogischen Projekts und unter Begleitung eines Lehrers bzw. einer Lehrerin an den Demonstrationen teilzunehmen. Damit sollten sowohl die Zahl der Streikenden als auch ihre Kampfbereitschaft heruntergeschraubt werden, sodass die Bewegung in den Rahmen der Schulordnung eingepasst wäre.

Gewerkschaftsstrukturen mobilisieren für Klimastreik

Auf den internationalen Aufruf für einen Klimastreik hin sind am 15. März in Belgien wieder 45.000 Menschen auf die Straßen gegangen. Hierfür hatten mehrere Gewerkschaftsstrukturen der beiden Dachverbände [1] ihre Mitglieder zu Aktivitäten aufgerufen. Es gab einige Arbeitsniederlegungen, zwei offen auftretende Blöcke der beiden Gewerkschaftsverbände gingen Seite an Seite mit den Jugendlichen.

Wir waren natürlich weit weg von einer Welle von Streiks von unten, aber in Bezug auf ein Zusammengehen von Jugend und Gewerkschaftsbewegung war ein wichtiger Schritt getan worden. An dieser Aktion beteiligten sich über 1,5 Millionen Streikende in 112 Ländern. Es war ein historischer erster internationaler Streik für das Klima, auf den ein Aufruf für einen weiteren internationalen Streik am 24. Mai folgte.

Kristallisierungspunkt für die Bewegung war die Forderung nach einem von Spezialist*innen ausgearbeiteten „Klimagesetz“, das darauf abzielen soll, dass eine Reihe von allgemeinen Zielen, Methoden und Leitplanken festgelegt wird, um die gesamte Politik der Regierung auf allen Feldern so auszurichten, dass die Klimafrage berücksichtigt wird.

Dieses Gesetz war unzureichend [2], es hat jedoch das Tempo der Mobilisierungen bestimmt und die Dringlichkeit unterstrichen, und sollte vor der Periode der relativen Untätigkeit der Regierung vor und nach den Wahlen durchgebracht werden. [In Belgien wurden für den 26. Mai außer der Wahl für das Europaparlament Wahlen für die föderale Repräsentant*innenkammer und fünf Parlamente der Regionen bzw. Gemeinschaften angesetzt (Anm. d. Übers.)]

Blockade der Bank BNP-Paribas-Fortis

Neben den Massendemonstrationen bildete sich um „Act For Climate Justice“ (AFCJ) ein radikalerer und „aktivistischerer“ Pol heraus, mit einem „Aufruf zu direkten Aktionen und Aktionen zivilen Ungehorsams, der von einer Reihe von Klimagruppen und -aktivist*innen ausgeht“. AFCJ hat die Initiative zur Blockade von BNP-Paribas-Fortis am 18. März ergriffen, um die Investitionen der Banken in fossile Energien anzuprangern, und sich an der Organisierung der Besetzungsaktion der Rue de la Loi [3] beteiligt, mit der Druck auf die Regierung gemacht werden sollte, damit das Klimagesetz durchkommt.

In den letzten Wochen sind die Donnerstagsdemonstrationen weitergegangen, wie aber abzusehen war, mit einer von Mal zu Mal niedrigeren Zahl von Jugendlichen. Für den 31. März hat „Rise for Climate“ zu neuen Demonstrationen aufgerufen. Wir waren 8000 in Brüssel und 7000 in Lüttich. Ungefähr 200 Gilets Jaunes (Gelbwesten) aus Belgien, Frankreich und den Niederlanden beteiligten sich an der Demonstration, um die Klimakämpfe mit denen für soziale Gerechtigkeit zu verbinden. Innerhalb ihres Demonstrationszugs befand sich eine kleine Zahl von „Black Blocks“. Am 4. April sind nur noch 500 Menschen zur Donnerstagsdemonstration in Brüssel gekommen (im Hainaut waren es aber 700 Schüler*innen).

Das Klima ist durch die Bewegung Wahlkampfthema

Nach all diesen Mobilisierungen mag von einem spektakulären Sieg keine Rede sein, es kann ein Nachgeschmack der Unzufriedenheit bleiben, aber es hat sich einiges getan. Die Bilanz der Bewegung ist im Ganzen betrachtet positiv.

Hatte die N-VA4 gehofft, Rassismus gegen die Migrant*innen, Sicherheit und EU-Politik würden die zentralen Themen des Wahlkampfs bis Mai werden, ist es der massiven Bewegung von Jugendlichen, die von Flandern ausgegangen ist, gelungen, als zentrales Thema dieses Wahlkampfs das Klima durchzusetzen. Die rechtsradikalen „Schild en Vrienden“ [5], die am 16. Dezember in Brüssel in einer braunen Parade aufmarschierten, haben wenigstens vorerst ihre Dynamik verloren. Schlimmer für sie ist, dass ihr Sprecher Dries Van Langenhove ohne viel Federlesens und eher unsanft aus den Klimademonstrationen herausbefördert worden ist.

Die Bewegung hat mehr als vier Monate lang mit Massendemonstrationen eine exemplarische Hartnäckigkeit unter Beweis gestellt. Sie ist in zahlreichen, verschiedenen Formen und mit verschiedenen Taktiken aufgetreten und hat Tausende von Debatten über die wahrscheinliche Klimakatastrophe ausgelöst.

Eine ganze Generation hat viel früher als vorausgegangene Generationen ihre erste soziale und politische Erfahrung gemacht, mit Ungehorsam gegenüber der Autorität in Schule und Elternhaus, mit dem Schulstreik, mit dem Schreiben und Malen von Schildern und Transparenten, der Aneignung von politischen Themen, mit Demonstrieren usf. Sehr bald werden diese jungen Leute eine höhere Ausbildung beginnen und/oder auf den Arbeitsmarkt kommen. Was auch immer noch geschieht, sie haben gelernt, die Dinge nicht als gegeben hinzunehmen und die Routine der etablierten Ordnung in Frage zu stellen.

Belgien ist aus seiner Erstarrung gerissen

Die großen Parteien sind von dieser Bewegung der Jugend überrascht worden – von der N-VA, die Verachtung an den Tag gelegt hat und für einen angeblichen „Öko-Realismus“ eintrat (der weder ökologisch noch realistisch ist), bis zum Rücktritt der Ministerin Schauvliege und zum Mouvement réformateur [6], das den Diskurs zu diesem Thema viermal geändert hat („wir sollten Klima-Coachs losschicken“, „das Klimagesetz, das bin ich“, „wir sind dagegen“, was sich nach der Besetzung der Rue de la Loi in „wir sind dafür“ verwandelt hat). Ebenso die Gewerkschaftsverbände der beiden Dachverbände: Ihre Haltung reichte von begeisterter Unterstützung für den Streik am 15. März – bei CNE [7], LBC [8], Algemene Centrale-ABVV/ Centrale Générale – FGTB [9] – bis zum Schulterzucken bei den Gewerkschaften im Bildungsbereich …

Dem historischen Streik für das Klima war in Belgien ein historischer Frauenstreik vorausgegangen. Wenn auch in beiden Fällen die Zahl der streikenden lohnabhängig Beschäftigten noch nicht hoch war, so waren es doch wichtige Leuchtfeuer, die umgehend die Frage der historischen Rolle der Bewegung der Lohnarbeitenden in den Kämpfen gegen die Unterdrückung und im Kampf gegen die Zerstörung unseres einzigen Lebensraums, der Erde, aufwerfen.

Die Klimabewegung, deren Motor die Jugendlichen sind, hat das Land ganz allgemein aus seiner Erstarrung am Ende der Legislaturperiode und aus der Demoralisierung herausgerissen, die in den sozialen Bewegungen immer mehr um sich gegriffen hatte. Sie hat außerdem eine ganze Reihe von strategischen Fragen aufgeworfen. […]

Paradoxien der Bewegung

Die Bewegung hat mit dem Problem umzugehen, dass es einen zeitlichen Abstand gibt zwischen dem Moment, zu dem Maßnahmen ergriffen werden müssen, wenn die Katastrophe vermieden werden soll, und dem Moment, zu dem konkrete Auswirkungen der Klimakrise (jedenfalls in den reichen Ländern des Nordens) zum ersten Mal spürbar werden.

Der Hitzesommer im vergangen Jahr war ein Alarmsignal. Doch ist diese Hitzeperiode etwas geradezu Lachhaftes verglichen mit dem, was passieren wird, wenn nicht kurzfristig, innerhalb von zehn Jahren, äußerst radikale Maßnahmen umgesetzt werden.

Dieser zeitliche Abstand kann zu einer ganzen Reihe von möglicherweise gefährlichen Haltungen führen: zu einer Relativierung bzw. Leugnung des Problems, auch in unserem gesellschaftlichen Lager (in dem das unmittelbare wirtschaftliche Überleben – am Monatsende – logischerweise Priorität bekommt) oder aber umgekehrt zu einer lähmenden und defätistischen Panik, die Anlass zu Varianten des Rückzugs auf sich selbst und die eigene kleine Welt ist, darunter auch die Version „resiliente Gemeinschaften“ (im Stil „wir bereiten unser Stückchen Land vor, um für den Zusammenbruch gewappnet zu sein“) oder auch mit Appellen an „alle, die guten Willens sind, über alle politischen Trennlinien hinweg“.

Gegen diese drei Sackgassen setzen wir uns für einen kollektiven Griff nach der Notbremse ein, mit demokratischen und massenhaften Aktionen von allen, die kein Interesse am Weiterbestehen des kapitalistischen Systems haben. Anders ausgedrückt: Klimakrise und globale soziale Krise, „das Ende der Welt und das Ende des Monats“, können längerfristig nur zu zweierlei führen: zu demokratischen, ökologischen und sozialen Revolutionen oder aber zur Regression in eine verheerende Barbarei. Wir richten uns nach dieser zweifachen Perspektive, sie gibt uns Anhaltspunkte für Losungen und Forderungen in der Gegenwart.

Die Klimademonstrationen, vor allem „Youth for Climate“ und „Rise for Climate“, verbleiben vorwiegend bei einer fordernden Haltung, beim Warten auf Taten der kapitalistischen Regierungen, selbst wenn sie radikal auftreten („act now“). Manche führende Personen nähren den Glauben, man müsse die Regierungen davon „überzeugen“, dass sie tun, „was getan werden muss“, beispielsweise ein Klimagesetz verabschieden.

Unsere Regierungen sind jedoch in Bezug auf die Klimagefahren sehr wohl auf dem Laufenden – ihre Loyalität und ihre erste Priorität bleiben jedoch der Schutz des Wachstums des BIP und der Profite der Bosse. So gesehen enthält selbst der Entwurf für ein Klimagesetz, auch wenn es unzureichend ist, für die Bourgeoisie viel zu viele Vorschriften. Wir müssen also die Vorstellung kategorisch ablehnen, wonach „das Klima keine Frage der Politik“ sein soll.

Die Bewegung demokratisieren und politisieren

Diese abwartende Haltung gegenüber Regierungen wird durch ein anderes Problem verschärft: das Fehlen von grundlegenden programmatischen Alternativen bei der Bewegung. So hat der viel in den Medien präsente David Van Reybrouck [10] Anuna De Wever [11] ermahnt, sie solle auf keinen Fall auch nur eine einzige konkrete Maßnahme fordern, „damit man nicht in Streitigkeiten hineingezogen wird“, beispielsweise über „Details“ wie den Gegensatz zwischen den erneuerbaren Energien und der Atom­energie (!).

Die großartigen Massenaktionen der letzten Monate haben bewiesen, dass wir Kraft haben, weil wir viele sind und weil wir entschlossen kämpfen wollen. Was schon mal sehr wichtig ist. Doch hat bis jetzt keiner der Pole der Klimabewegung ein Programm des Bruchs vorgelegt.

Ein „grüner“ Kapitalismus ist unmöglich: Ein System, das auf endloser Akkumulation, Wettbewerb und verallgemeinerter Warenproduktion, Produktivismus und Konsumismus beruht, ein System, das seine Sternstunden hatte und dabei fossile Energien verbrannt hat, kann in keinem Fall die Krise lösen, die es herbeigeführt hat. Die Klimabewegung muss diesen grundlegenden Widerspruch bearbeiten und Lösungen suchen, die nur mit einem Bruch mit dem kapitalistischen System verbunden sein können.

Verhältnis der Klimabewegung zum Kapitalismus

Das bringt uns zu einem weiteren Punkt, an dem Spannungen auftreten: zu dem Verhältnis der Klimabewegung zum Staat und der kapitalistischen Klasse. Die Klimabewegung, aber auch Parteien wie Écolo, ein Teil der Nichtregierungsorganisationen oder auch Gewerkschafter*innen, sind in zwei Fragen wenig klar: Wer ist das kollektive Subjekt, das imstande ist, der Dringlichkeit der Klimafragen gerecht zu werden, und wer ist der Gegner oder vielmehr der Feind?

Was die erste Frage angeht, möchten wir als erstes mit einem reaktionären Mythos aufräumen: Das Klima ist kein „Zeugs von Wohlstandsbürgern, die alternativ drauf sind“. Die führenden Köpfe von „Youth for Climate“ haben in der Tat politische Positionen geäußert, zu denen wir Widerspruch anmelden müssen. Die soziale Zusammensetzung der Jugendbewegung ist in der Tat zu weiß geblieben, zu sehr aus der Mittelschicht; es sei jedoch angemerkt, dass der Anteil der rassisch diskriminierten Jugendlichen und der Jugendlichen aus armen Teilen der Bevölkerung bei den Demonstrationen mit 30.000 bis 40.000 Menschen höher gelegen hat. Doch ist die Frontlinie des weltweiten Klimakampfs eine Klassen-, eine Gender- und Rassenlinie.

Diejenigen, die auf planetarer Ebene den Kampf führen, sind Menschen, die aus den ärmeren Klassen stammen, aus Afrika, Asien, Lateinamerika, es sind Frauen, junge Menschen, streikende Eisenbahner*innen, Bäuerinnen und Bauern aus dem globalen Süden, die Klimaflüchtlinge. Diejenigen, die wegen der Klimakatastrophe als erste sterben, gehören zu den armen Klassen im Süden und im Norden. Ein Hinweis darauf, wer an den Hitzewellen und den Dürreperioden stirbt, dürfte genügen.

Die Konsequenz aus all dem ist, dass es keines vorgeblichen „Komplotts des grünen Kapitalismus“ bedarf, damit diese Bewegung groß wird. Die Reden von Greta Thunberg, auch die, die sie in Davos und vor der Europäischen Kommission gehalten hat, sind radikaler als die Reden von zahlreichen führenden Leuten von Mitte-Links-Parteien oder von Gewerkschaften, wenn es um Gesellschaftsveränderung geht: „Unsere Zivilisation wird geopfert, um es einer sehr kleinen Zahl von Menschen zu ermöglichen, weiter enorm viel Geld zu verdienen. Unsere Biosphäre wird geopfert, damit die Reichen in Ländern wie meinem im Luxus leben können. Mit den Leiden der großen Mehrzahl wird der Luxus von ganz Wenigen bezahlt.“

Auswirkung des niedrigen Klassenbewusstseins

Wenn die Antworten der Sprecher*innen von „Youth for Climate“ zu beschränkt sind, wenn es die Farcen im Stile „Sign for my future“ [12] und dergleichen mehr gibt, so sind das Ergebnisse von jahrzehntelangem Rückgang des Klassenbewusstseins und den heftigen Attacken des Neoliberalismus und den Niederlagen der Klasse der Lohnabhängigen. Das darf also nicht als Ausrede gelten für eine Weigerung, die Bewegung zu unterstützen, im Gegenteil: Die radikale Linke muss sich einbringen und darauf hinweisen, dass die Klimakrise das Produkt von gesellschaftlichen Ausbeutungs-, Herrschafts- und Machtverhältnissen ist.

Es gibt einen gemeinsamen toten Winkel in den Betrachtungen von Klimabewegung und Gewerkschaftsbewegung: Viele sehen noch nicht, dass das kollektive Subjekt der Bewegung und das, was ihre Stärke ausmacht, die Arbeitenden, die Jugend, die Landwirt*innen und die örtliche Bevölkerung selber sind; nur sie selbst können die notwendige soziale und ökologische Transformation in die Hand nehmen. Und der Feind – das ist der produktivistische, hetero-patriarchale und vom Rassismus durchsetzte Kapitalismus.

Fehlende demokratische Strukturen

Wir kommen damit zu einem weiteren sehr bedeutenden Hindernis für die Bewegung: das Fehlen einer demokratischen Strukturierung, einer wirklichen Selbstorganisation von unten. In Belgien gibt es keine nennenswerte Tradition von kämpferischen Schüler*innengewerkschaften und wir haben seit Jahrzehnten sehr wenige geschichtliche Beispiele für Massenkämpfe der Jugend (abgesehen von der Studierendenbewegung).

Außerdem ist keine kämpferische linke Organisation in dieser Schicht er Gesellschaft tief verankert. Schließlich haben die oberflächliche Einstimmigkeit in Sachen Klima und die typisch belgische Manie der „Konzertierung“ Regierungen und Schulleitungen motiviert, zu versuchen, die Bewegung zu kooptieren und von oben wieder unter Kontrolle zu bringen. In den letzten Monaten sind daher in der Bewegung wenige Räume für Debatten und die Herausbildung eines Forderungsprogramms entstanden. „Act for Climate Justice“ hat in Zusammenarbeit mit [der Brüsseler Aktionsgruppe] „Acteurs des temps présents“ und mit „Climat et Justice sociale“ [13] solch einen Prozess mit zwei Volksversammlungen angestoßen, die aber bislang folgenlos geblieben sind.

Im Gefolge von Demonstrationen und im Kontext von „Occupy for Climate“ gab es Versuche, andere kleine Versammlungen zustande zu bringen. Doch insgesamt wird die Bewegung von sehr kleinen informellen Zirkeln getragen, die nicht gewählt worden sind, kein Mandat haben, keiner Basis gegenüber rechenschaftspflichtig sind; sie nutzen die sozialen Netzwerke, um mit einer sehr viel zahlreicheren Masse von Jugendlichen und Aktivist*innen zu kommunizieren. Daneben gibt es die NGOs, die per Definition vertikal strukturiert sind und arbeiten (wie kleine Ämter oder Unternehmen) und die nicht vom Staat unabhängig sind.

Wenn es keine demokratische und transparente Struktur gibt, konzentrieren sich die Machthabenden auf die medialen Figuren oder auf unsichtbare Personen in den Netzwerken der Aktivist*innen: Damit werden sie noch autoritärer. Ohne demokratische Räume kann die Bewegung weder leben noch sich an der Basis und in breiten Kreisen radikalisieren, denn dann ist es auch nicht möglich, von unten nach oben Debatten zu führen, Entscheidungen zu Alternativen zu treffen und die Sprecher*innen und die Koordinator*innen der Bewegung auszuwählen und wenn nötig auszutauschen.

Alle, die in der Bewegung sind, sollten etwas zu sagen haben und verstehen können, wie Entscheidungen zustande kommen. Diese Demokratie läuft über offene Vollversammlungen sowie mit gewählten und abrufbaren Sprecher*innen. Informelle Koordinationen von Verbänden und Aktivist*innen reichen nicht aus. Offenheit, Bereitschaft zum Einbeziehen und Transparenz der verschiedenen Strukturen, die die Aktionen organisieren sollten zu Prioritäten werden, wenn wir einen qualitativen Sprung nach vorne machen wollen. Sie sind der Sauerstoff und die Zukunft der Bewegung.

Schlüsselfragen für das Kräfteverhältnis: ziviler Ungehorsam und Streik

Die Demonstrationen sind vor allem Demonstrationen der zahlenmäßigen Stärke, massenhaft und mit Entschiedenheit zum Ausdruck gebracht worden ist, was für den Aufbau einer Massenbewegung unbedingt notwendig ist. Ein hohes Ausmaß von Konfliktbereitschaft ist unvermeidlich. Humor und Spötteleien haben in unseren Aktionen durchaus ihren Platz, doch ist auch Wut mehr als legitim, wenn von der Gefahr der Zerstörung der Menschheit die Rede ist.

Mit „Occupy for Climate“ ist der Unterschied zwischen Legalität und Legitimität ins Zentrum der Bewegung gerückt. Die Möglichkeiten, legal zu demonstrieren, sind demokratische Errungenschaften, die denen unten nach sehr harten Kämpfen, bei denen die bestehenden Gesetze nicht eingehalten wurden, zugestanden werden mussten. Heute wie damals sind ziviler Ungehorsam, Besetzungen, Blockaden, Schutz von Naturräumen, die von Zerstörung bedroht sind, die ZAD [14] usw. legitime Aktionen, um die Bevölkerung aufmerksam zu machen und um die für die Zerstörung des Planeten Verantwortlichen direkt anzugreifen.

In den Demonstrationen kommen ebenso wie in der Bewegung ganz allgemein verschiedene Grade von Radikalität zum Ausdruck. Am 31. März haben sich beispielsweise die Gruppe der Gilets Jaunes und der kleine Schwarze Block an der Rue de la Loi aus dem Demonstrationszug gelöst. Ein paar aus dem Black Block haben die Gebäude von EU-Institutionen attackiert und einen infiltrierten Polizisten unsanft entfernt.

Die Polizei hat 70 Personen präventiv festgenommen, die Gleichgültigkeit demgegenüber war sehr weit verbreitet – die Slogans „Police partout, justice nulle part!“ (Überall Polizei, nirgends Justiz/Gerechtigkeit“) sind kaum aufgegriffen worden ‒, das wiederum ist von den Organisator*innen begrüßt worden, sie haben sich auf eine in keiner Weise zu billigende Art und Weise den Verhafteten gegenüber entsolidarisiert.

Auf der anderen Seite – maskiert zu demonstrieren und im Rahmen einer wenig kämpferischen Demonstration mit familiärer Atmosphäre Fensterscheiben einzuschlagen, das war nun nicht gerade dazu angetan, die Bewegung breiter werden zu lassen. In der Hoffnung auf Radikalisierung der gesamten Bewegung Konfrontationen mit der Polizei zu provozieren, das hieße, die Gefahr des Gegenteils heraufbeschwören, nämlich dass die am wenigsten radikalen Teile nicht mehr mitmachen und/oder sich von den kämpferischsten Teilen distanzieren.

Die paar wenigen zerbrochenen Fensterscheiben sind allerdings absolut nicht mit den massiven Verbrechen und Zerstörungen zu vergleichen, die von den Konzernen und den ihnen verpflichteten Institutionen begangen werden, wenn sie das Überleben der Menschheit in Gefahr bringen. Solidarität angesichts staatlicher Repression, ohne taktische Differenzen zu verschweigen, das ist für uns eine Grundsatzfrage.

Abgesehen von diesem elementaren Grundsatz darf diese Art von „avantgardistischen“ Aktionen nicht an die Stelle der Bewegung insgesamt treten und an das gemeinsamen Interesse daran, dass sie größer wird. Es ist sinnvoller, zu beweisen, dass die reale Gewalt gegen unsere Leben von oben ausgeht, anstatt ein Spektakel aufzuziehen, das für unsere Gegner*innen im Staat wie ein wahres Geschenk kommt, damit sie aus ein paar Schaufensterscheiben einen Fetisch machen können.


[1] Dies sind: Algemeen Belgisch Vakverbond (ABVV) / Fédération générale des travailleurs de Belgique (FGTB) und Algemeen Christelijk Vakverbond (ACV) / Confédération des syndicats chrétiens (CSC) (A.d.Ü.).

[2] Vgl. den am 5.2.2019 auf der Website von Gauche Anticapitaliste veröffentlichten Artikel von Daniel Tanuro über den Ende Januar veröffentlichten Entwurf für ein „Klima-Sondergesetz“, https://www.gaucheanticapitaliste.org/pour-le-climat-union-sacree-ou-convergence-des-combats/; auf Flämisch: https://www.sap-rood.org/kritische-bedenkingen-bij-de-klimaatwet/.

[3] Rue de la Loi oder Wetstraat ist eine Hauptstraße im Zentrum von Brüssel. Dort befinden sich Gebäude des föderalen Parlaments, des Ministerpräsidenten, der Europäischen Kommission (A.d.Ü.).

[4] Die Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA) ist eine flämische Rechtspartei, die die für die Unabhängigkeit Flanderns eintritt; sie ist die führende Partei im flämischen Parlament und seit 2010 auch in der Repräsentantenkammer (dem belgischen Parlament) die größte Partei. Von Oktober 2014 bis Dezember 2018 gehörte sie der Regierungskoalition und der von Charles Michel angeführte Föderalregierung an.

[5] Schild en Vrienden (S&V) ist eine 2017 gegründete rechtsradikale flämisch-nationalistische Jugendbewegung.

[6] Das Mouvement réformateur (MR, Reformbewegung) ist ein belgisches frankophones und deutschsprachiges politisches Kartell der neoliberalen Rechten; es entstand 2002 aus einem Bündnis von Parti réformateur libéral (PRL), Partei für Freiheit und Fortschritt, le Mouvement des citoyens pour le changement (MCC), Mouvement réformateur des libéraux bruxellois sowie Front démocratique des francophones (FDF), die 2011 aus dem MR austrat. Der Vorsitzende des MR Charles Michel leitet die derzeitige Regierung.

[7] Die Centrale nationale des employés (CNE) ist eine der wichtigsten Gewerkschaften in Belgien. Sie gehört der Confédération des syndicats chrétiens (CSC) an, steht jedoch links von der Leitung der Konföderation. Sie ist in Wallonien und in Brüssel aktiv und organisiert Angestellte im Privatsektor.

[8] Landelijke Bediendencentrale (LBC) ist die flämische Angestelltengewerkschaft des Algemeen Christelijk Vakverbond.

[9] Die Algemene Centrale-ABVV / Centrale Générale – FGTB ist die größte Einzelgewerkschaft des Landes. 2014 hatte sie 430 000 Mitglieder, sie organisiert Arbeiterinnen und Arbeiter in zahlreichen Industriebranchen (außer Metall) und Dienstleistungsbereichen (A.d.Ü.)

[10] David Van Reybrouck ist ein belgischer, niederländisch sprechender Autor, Historiker und Archäologe. Er hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, von denen auf Deutsch u. a. vorliegen: Kongo. Eine Geschichte (Berlin: Suhrkamp, 2012; zuerst 2010); Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist (Göttingen: Wallstein, 2016; zuerst 2013); Für einen anderen Populismus. Ein Plädoyer (Göttingen: Wallstein, 2017; zuerst 2008). Siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/David_Van_Reybrouck (A. d. Ü.).

[11] Anuna De Wever, 18 Jahre, ist eine flämische Klimaaktivistin, die mit ihrer Freundin Kyra Gantois die belgische Bewegung „Youth for Climate“ (https://youthforclimate.be/) angestoßen und die ersten Schulstreiks organisiert hat, die vor allem in Flandern stattgefunden haben, mit zentralen Demonstrationen jeweils an Donnerstagen in Brüssel (A. d. Ü.).

[12] „Sign for my future“ ist eine Kampagne, die von einer belgischen Biomarktkette ausgeht und zum Unterschreiben einiger Forderungen für sofortiges Handeln zur Rettung des Klimas (Klimagesetz, Investitionsplan, Klimarat) im Internet auffordert; gewollt wird „ein Ort, wo es sich gut leben lässt und wo die Wirtschaft stark ist“ (A.d.Ü.).

[13] „Klima und soziale Gerechtigkeit“ (in Flandern: „Klimaat & sociale Rechtvaardigheid“) stellt Klimagerechtigkeit in den Mittelpunkt und tritt dafür ein, den Klimakampf und ökologische Nachhaltigkeit mit sozialer Gerechtigkeit zu verknüpfen; einige Mitglieder von Gauche Anticapitaliste/SAP Antikapitalisten arbeiten in dieser eher kleinen Aktionsgruppe mit. Webseiten: https://www.climatetjusticesociale.org und https://www.klimaatensocialerechtvaardigheid.org (A.d.Ü.).

[14] Zone à Défendre (ZAD), um 2010 entstandene Wortneuschöpfung der aktivistischen Besetzerszene, die das Bauvorhaben eines internationalen Großflughafens bei Nantes bekämpft hat, das im Januar 2018 aufgegeben wurde; geht zurück auf die ab 1974 verwendete amtliche Bezeichnung „zone d’aménagement différé (ZAD)“ für das 1225 Hektar große Gelände des künftigen Flughafens; die ZAD sollte mehrfach geräumt werden; die Bewohner*innen der Hütten in der ZAD wurden „zadistes“ genannt (was genau wie „Sadisten“ klingt), die betroffene, vor allem bäuerliche Bevölkerung „zadés“; in der französischen alternativ-militanten Szene werden die Wiesen- und die Baumbesetzung am bzw. im Hambacher Wald ZAD genannt; die Bezeichnung ZAD wurde auf verschiedene Hausbesetzungen oder Protestcamps gegen unnütze Großprojekte in Frankreich ausgeweitet, bei denen alte Häuser, Wälder etc. im Interesse von Investoren zerstört werden sollen (Staudamm-, Autobahnringbauvorhaben etc.) (A.d.Ü.).

Übersetzt aus dem Französischen von Intersoz.org.

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