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Was Marx über Umweltzerstörung zu sagen hat

Viele marxistische Gruppierungen interessierten sich lange Zeit nur am Rande für ökologische Themen. Der Fokus galt in erster Linie der Bekämpfung zwischenmenschlicher Unterdrückung und Ausbeutung. Dabei finden wir bei Marx sehr wichtige Einsichten über die umweltzerstörerische Kraft des Kapitalismus.

von Luca Caplero (BFS Basel)

1843 muss sich der 25-jährige Karl Marx mit seiner Ehefrau Jenny ins Pariser Exil begeben. Dort verfasst er im darauffolgenden Jahr die berühmten «Ökonomisch-philosophischen Manuskripte», das Resultat einer ersten intensiven Auseinandersetzung mit den grossen Werken der Ökonomie. Eine zentrale These dieser Manuskripte lautet, dass der Mensch zwar Teil der Natur ist, sich jedoch im Kapitalismus von dieser äusseren Natur entfremdet hat. In Marx’ philosophischer Sprache ausgedrückt: «Dass das physische und geistige Leben des Menschen mit der Natur zusammenhängt, hat keinen andren Sinn, als dass die Natur mit sich selbst zusammenhängt, denn der Mensch ist ein Teil der Natur.»

Mehr als zwanzig Jahre später. Marx’ erster Band des Kapitals ist veröffentlicht und er wird mit der Gründung der Ersten Internationalen zu einer führenden Figur der internationalen Arbeiter*innenbewegung. Seit vielen Jahren in London lebend, beginnt Marx mit einer intensiven Lektüre naturwissenschaftlicher Texte. Er schreibt seitenlange Passagen ab und notiert sich Gedanken. Besonders begeistert ist er von den Arbeiten des deutschen Agrarwissenschaftlers Carl Fraas. Dieser befasste sich mit dem Klimawandel, der seiner Meinung nach durch die Abholzung und die damit einhergehende Veränderung der Luft- und Wasserzirkulation ausgelöst wurde – in jener Zeit eine weit verbreitete Ansicht. Karl Marx meint in diesen Texten eine «sozialistische Tendenz» vorzufinden, wie er niederschreibt.

Marx ist vielen deshalb bekannt, weil er die Ausbeutung der Menschen durch das Kapital einer erbarmungslosen Kritik unterzog. Seit sein Freund Friedrich Engels Anfang der 1840er Jahre durch die Armenviertel Manchesters zog, um die unmenschliche Lage der Arbeiter*innenklasse kennenzulernen und zu beschreiben, sind Marx’ und Engels Texte voll von Bildern des Horrors kapitalistischer Bedingungen: Hunger, Krankheiten, Kinderarbeit, nicht enden wollende Arbeitstage, lebensgefährliche Arbeitsbedingungen, repetitive Tätigkeiten usw.

Marx bemühte sich immer zu zeigen, dass die kapitalistischen Bedingungen nichts Natürliches an sich haben

Die oben genannten Episoden aus Marx’ Leben zeigen uns aber eine andere Seite. Sie zeigen einen Marx, der dem Umgang mit der Natur immer wieder Aufmerksamkeit schenkte. Einige Marxist*innen sagen sogar, dass Marx’ Kritik des Kapitalismus auch immer eine systematische Kritik an der Umweltzerstörung war. Wie intensiv auch immer sich Marx mit ökologischen Fragen auseinandergesetzt haben mag: Seine Analyse des Kapitalismus erweist sich als zentraler Ansatzpunkt, um die aktuelle Klimakatstrophe zu verstehen und angemessen zu handeln.

1. Wo der Kapitalismus blut- und schmutztriefend die Welt erblickt

Der Kapitalismus fiel nicht vom Himmel. Der Kapitalismus, schrieb Marx im Kapital, erblickte die Welt vielmehr «von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend». Kolonialismus, Imperialismus, Enteignung und Sklaverei sind somit keine unangenehmen und zufälligen Begleiterscheinungen, sondern die notwendigen Voraussetzungen dieser Produktionsweise.

Marx bemühte sich immer zu zeigen, dass die kapitalistischen Bedingungen nichts Natürliches an sich haben. Während die bürgerliche Ideologie so tat, als wäre der Kapitalismus das Normalste der Welt, drehte Marx den Spiess um. Er zeigte, dass der Kapitalismus eine spezifische Geschichte hat – eine Geschichte, die bei genauerem Hinsehen wenig Rühmliches vorzuweisen hatte. Zu den notwendigen Bedingungen für die Entstehung des Kapitalismus gehörte die Aneignung des Bodens durch Privatbesitzende. Kein Kapitalismus ohne die Privatisierung des Bodens und die Vertreibung der Landbevölkerung in die Städte; kein Kapitalismus ohne die Trennung der Menschen von ihren Subsistenzmitteln.

Bis sich der Privatbesitz als vorherrschende Form des Eigentums durchsetzte, brauchte es eine jahrhundertelange Geschichte von gewaltsamer Enteignung. Frappantestes Beispiel ist die Kolonisierung Amerikas, wo zahlreiche indigene Gemeinschaften riesige Landstriche kollektiv nutzten. Doch auch im frühmodernen Europa gab es grosse Flächen, die von den Dorfgemeinden gemeinsam verwaltet wurden – die sogenannten Allmenden oder Commons. Andere Parzellen unterstanden zwar dem Privatbesitz, doch verschiedene Anwohner*innen besassen weiterhin bestimmte Nutzrechte und konnten beispielsweise auf dem fremden Land ihr Vieh weiden lassen oder Brennholz sammeln. Nachdem es den Grossgrundbesitzern trotz teilweise grossem Widerstand gelungen war, sich diese Gemeingüter anzueignen, verlor die Landbevölkerung den Zugang zu den natürlichen Subsistenzmitteln und wurde gezwungen, in den Städten ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Im Kapitalismus sind die Lohnabhängigen laut Marx somit in einem doppelten Sinn frei. Sie sind frei vom Besitz der Produktionsmittel und gleichzeitig frei, jedem beliebigen Arbeitgeber ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Das paradoxale am Kapitalismus ist, dass diese formale und scheinbare «Freiheit» nicht mit einer realen, vollständigen Befreiung der Arbeitenden einhergeht. Alle, die einmal eine schlechtbezahlte, langweilige und anstrengende Stelle annehmen mussten, um ihren Lebensunterhalt bezahlen zu können, haben das schon erlebt.

Einer der ersten Texte von Marx handelt von genau dieser Privatisierung der Natur. Als junger Journalist im deutschen Rheinland prangerte er 1842 die Verabschiedung eines Gesetzes an, welches das Sammeln von totem Holz auf fremdem Boden untersagte. Dabei handelte es sich um ein altes Gewohnheitsrecht, von dem die Armen Gebrauch machen konnten, um ihre Werkzeuge zu reparieren, sich im Winter zu wärmen, zu kochen oder ihre Häuser auszubessern. Mit dem neuen Gesetz aber wurde die Diktatur des Privatbesitzes vorangetrieben und die Natur weiter privatisiert. Was damals im Rheinland geschah, folgte somit derselben Logik wie heute, wenn beispielsweise Agrarkonzerne in Südamerika Kleinbauern in den Ruin treiben, um sich ihr Land unter den Nagel reissen zu können.

Nicht selten wurde bzw. wird die Privatisierung der Natur damit gerechtfertigt, dass sie zu einer nachhaltigeren Ressourcennutzung führe. So meinte etwa der Ökonom Garrett Hardin mitten im Kalten Krieg zeigen zu können, dass die «Tragödie» von gemeinschaftlich genutzten Gütern darin bestehe, dass sie zwingend übernutzt werden. Seither aber haben anthropologische, historische und soziologische Forschungen diese These der «Tragödie der Allmende» reihenweise widerlegt.

Nicht-kapitalistische Gesellschaftsformen, so Marx, zeichnen sich dadurch aus, dass die Produzierenden eine direkte Beziehung zur Natur haben. Der Kapitalismus hingegen bricht diese Beziehung auf – er entfremdet die Menschen von der Natur. Erstaunlich für Marx war somit «nicht die Einheit der lebenden und tätigen Menschen» mit der Natur. Diese Einheit könne man in zahlreichen nicht-kapitalistischen Gesellschaften beobachten. (Was nicht bedeutet, dass in diesen Gesellschaften alle glücklich im Einklang mit der Natur lebten bzw. leben.) Erklärungsbedürftig war für ihn vielmehr das Gegenteil: Die Trennung der arbeitenden Menschen von ihrer natürlichen Umwelt durch den Kapitalismus. Und diese Trennung setzte eine Dynamik in Gang, durch die das Kapital Mensch und Natur immer weiter ausbeutete.

2. Wenn alles Stehende verdampft

Marx beschrieb den Kapitalismus als verkehrte Welt; eine Welt, in der das Erwirtschaften von Profit und nicht die Erfüllung der Bedürfnisse der Menschen das oberste Ziel ist. Wir sehen tagtäglich Beispiele dieser verkehrten Welt: Wenn Arbeiter*innen entlassen werden, obwohl die Firma Profit erwirtschaftet; wenn Staaten zur Kürzung von Sozialabgaben gezwungen werden, weil das «Vertrauen der Märkte» schwindet; wenn Spitäler geschlossen werden, um die «Gesundheitskosten» zu senken. Oder wenn Ölfirmen in der Arktis nach Öl suchen, obwohl schon jetzt genügend Ölvorkommen bekannt sind, um die Erde um mehrere Grad Celsius zu erhitzen…

Indem er seine eigenen Grenzen immer wieder zu überwinden versucht, presst der Kapitalismus immer mehr aus den Arbeitern und der Natur.

Das hat eine tiefliegende Ursache. Oberstes Ziel des Kapitalismus ist das Erwirtschaften von Profiten, nicht die Erfüllung der Bedürfnisse der Lohnabhängigen. Mit welchem Produkt das Kapital angehäuft wird, ist zweitrangig. Kapital kann wahlweise in die Produktion von Waffen, gesundheitsschädlichen Pestiziden, Elektroautos oder Solaranlagen investiert werden, sofern die Investition die erhofften Gewinne abwirft.

Dies erklärt einerseits die Dynamik des Kapitalismus: Angetrieben durch den Zwang, immer mehr zu produzieren, sucht der Kapitalismus neue Absatzmärkte, verlängert den Arbeitstag oder erhöht die Produktivität mittels neuer Technologien. Auf diese Weise ist der Kapitalismus in der Lage, die Produktion immer wieder umzukrempeln. «Alles Stehende und Ständische verdampft», schreiben Marx und Engels im Kommunistischen Manifest. Denn die «Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren.»

Andererseits erklärt dies aber auch die zerstörerische Kraft des Kapitalismus: Indem er seine eigenen Grenzen immer wieder zu überwinden versucht, presst der Kapitalismus immer mehr aus den Arbeiter*innen und der Natur. Neue Technologien sind somit nicht in erster Linie dafür da, den Menschen Erleichterung zu bringen, sondern um die Arbeiter*innen und die Natur immer weiter auszubeuten. Oder wie es in einem bekannten Satz im Kapital heisst: «Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik […], indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.»

Das Beispiel der Dampfmaschinen verdeutlicht diesen Zusammenhang von technologischen Erneuerungen, Klassenkampf und Naturzerstörung sehr gut. In der ersten Phase der Industrialisierung der Textilproduktion im England des frühen 19. Jahrhunderts setzten die Kapitalisten in erster Linie auf Wasserkraft. Denn die wasserbetriebenen Maschinen waren effizienter und das Wasser ausserdem kostenlos und in grossen Mengen verfügbar. Erst in einem zweiten Schritt gingen die Industriellen zu dampfbetriebenen Maschinen über. Aber nicht etwa, weil die neuen Maschinen kostengünstiger oder effizienter waren. Der marxistische Geograf Andreas Malm hat gezeigt, dass diese Maschinen zu Beginn sogar teurer und ineffizienter waren. Sie verschafften den Kapitalisten aber ganz andere Vorteile: Erstens konnten die Fabrikbesitzer ihre Manufakturen in die Städte verlegen, wo eine ganze Menge an ausgehungerten Proletarier*innen nach Arbeit suchten und die Löhne gedrückt werden konnten. So konnte die Verhandlungsmacht der Textilarbeiter*innen eingeschränkt werden. Die Einführung der Dampfmaschine war somit ein Instrument, mit dem Klassenkampf von oben geführt wurde. Zweitens war die Textilproduktion nicht mehr den Launen der Natur ausgeliefert. Die Industriellen konnten sich von den Schwankungen der Gewässer befreien, indem sie kohlebetriebene Maschinen installierten und so Tag und Nacht, unabhängig vom Wasserstand, die Produktion am Laufen halten konnten. Dass sie sich dabei aber keineswegs gänzlich von den Schranken und Launen der Natur befreiten, sondern nur noch grössere, diesmal globale Naturkreisläufe aus den Angeln hoben, zeigt die aktuelle Klimakatastrophe nur allzu deutlich.

«Nach uns die Sintflut ist der Wahlruf jedes Kapitalisten und jeder Kapitalistennation», schrieb Marx prophetisch. Und welche Folgen das konkret hatte, konnte er in Echtzeit beobachten.

3. Von ausgelaugten Böden und Vogelkacke

Ein zentrales Problem im Europa des 19. Jahrhunderts war die Auslaugung der agrarwirtschaftlich genutzten Böden. Ein Autor, der sich sehr früh und intensiv mit diesem Thema befasste, war der deutsche Chemiker Justus von Liebig. Dieser kritisierte die Trennung von Stadt und Land, da dadurch Nahrungsmittel um weite Strecken verschoben wurden, ohne dass genügend Nährstoffe an die Böden zurückgegeben wurden.

Marx war begeisterter Leser von Liebigs Schriften. Von Liebig inspiriert, verwendete Marx den Begriff des Metabolismus – zu Deutsch Stoffwechsel –, um die Beziehungen zwischen den Menschen und der Natur zu beschreiben. So kam er zum Schluss, dass der Kapitalismus zwingend die stofflichen Kreisläufe der Natur unterbrechen oder zerstören muss: «Und jeder Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur ist nicht nur ein Fortschritt in der Kunst, den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu berauben, jeder Fortschritt in Steigerung seiner Fruchtbarkeit für eine gegebene Zeitfrist zugleich ein Fortschritt im Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit.»

Dank seiner Anpassungsfähigkeit und Dynamik gelang es dem Kapitalismus allerdings, dieses Problem der ausgelaugten Böden vorübergehend zu lösen – indem jedoch andere, weitaus grössere Brüche in den natürlichen Kreisläufen hervorgerufen wurden.

Eine solche vorübergehende Lösung des Problems der Nährstoffarmut europäischer Böden wurde auf einigen unbewohnten Inseln vor der Küste Perus gefunden. Dort lagen meterdicke Schichten von «Guano», einem Produkt, das entsteht, wenn Kot von bestimmten Meeresvögeln mit Kalkstein reagiert. Das Guano enthält grosse Mengen an Stickstoff und Phosphat: Genau das, was den europäischen Böden durch die expandierende Landwirtschaft entzogen wurde.

Unter sklavenähnlichen Bedingungen, der Willkür der Arbeitgeber und körperlicher Züchtigung ausgesetzt, bauten diese Arbeitenden so viel Guano ab, bis die Inseln vollkommen kahl zurückgelassen und die lokalen Ökosysteme zerstört waren.

Das Peru der damaligen Zeit war tief verschuldet. Um seine britischen Gläubiger zufriedenzustellen, entschied sich die Regierung für einen massenhaften Abbau dieses Rohstoffs. Ab 1850 stieg der Guano-Abbau schlagartig an, sodass im Jahr 1871 80% der peruanischen Staatseinnahmen aus dem Export des Guanos stammten. Da das Guano jedoch nicht automatisch auf die europäischen Felder kam, sondern in mühsamer Arbeit von den Felsen abgekratzt werden musste, wurden tausende chinesische Zwangsarbeiter eingestellt – sogenannte «Coolies». Unter sklavenähnlichen Bedingungen, der Willkür der Arbeitgeber und körperlicher Züchtigung ausgesetzt, bauten diese Arbeitenden so viel Guano ab, bis die Inseln vollkommen kahl zurückgelassen und die lokalen Ökosysteme zerstört waren.

Das Beispiel des Guanos zeigt somit anschaulich, wie der Kapitalismus mit Brüchen im natürlichen Stoffwechsel umgeht. Anstatt diese zu schliessen und mit der Natur nachhaltig umzugehen, verschiebt der Kapitalismus mithilfe von Kolonialismus, Imperialismus und Ausbeutung die Probleme im Raum und in der Zeit.

Eine weitere «Lösung» dieser Art wurde kurz vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland gefunden. Der Chemiker Fritz Haber und der Industrielle Carl Bosch entwickelten ein Verfahren zur synthetischen Herstellung von Ammoniak, das zur Bodendüngung und Sprengstoffherstellung verwendet wurde. Damit wurde ein zentraler Grundstein für die weitere Modernisierung und Intensivierung der Landwirtschaft gelegt. Denn nun war es nicht mehr nötig, auf menschenverlassenen Inseln nach Vogelkacke zu suchen. Was es nun aber brauchte, waren fossile Brennstoffe, denn das sogenannte «Haber-Bosch-Verfahren» ist sehr energieintensiv. Bis heute ist es die einzige Methode, um synthetisches Ammoniak herzustellen. Insgesamt gehen 2% der weltweiten Kohlenstoffemissionen auf das Konto dieses Verfahrens.

4. Kommunismus als Versöhnung von Mensch und Natur

Der einzige Ausweg aus dieser verkehrten Welt des Kapitalismus lag für Marx in der radikalen Umgestaltung der bestehenden kapitalistischen Gesellschaft. Der Ausbeutung der Arbeiter*innen und der Zerstörung der Natur kann nur ein Ende gesetzt werden, wenn die Produktion gemeinsam und demokratisch kontrolliert wird. Schon in den eingangs erwähnten Manuskripten aus dem Jahr 1844 beschrieb Marx den Kommunismus als «wahrhafte Auflösung des Widerstreits zwischen dem Menschen mit der Natur».

Darüber, wie diese kommunistische Gesellschaft im Detail aussehen wird, sagt uns Marx aber wenig. Grund hierfür ist nicht etwa Denkfaulheit oder mangelnde Vorstellungskraft. Marx war vielmehr der Überzeugung, dass die neue Gesellschaft nicht am Schreibtisch entworfen werden kann. Die neue Gesellschaft entspringt im Gegenteil aus den konkreten Kämpfen der Menschen für eine bessere Welt. Kämpfe, die nicht nur gegen zwischenmenschliche Unterdrückung und Ausbeutung geführt werden, sondern auch gegen die Ausbeutung und Zerstörung der Natur.

Trotzdem gibt uns Marx einige Grundgedanken mit auf den Weg. Dazu gehört die kollektive und demokratische Kontrolle der Arbeitenden über die Produktion. In einer freien, kommunistischen Gesellschaft darf Demokratie nicht wie heute nur für einige Bereiche des Lebens gelten. Denn spätestens vor den Fabriktoren, Lagerhallen, Kitas, Spitälern, Schulen oder Unis macht die Demokratie heutzutage halt. Hingegen bedeutet eine wirklich demokratische Gesellschaft auch, dass die Menschen gemeinsam über das entscheiden können, was produziert wird. Und selbstverständlich auch darüber, wie es produziert wird. Nicht mehr der Drang nach Profit, sondern die Bedürfnisse der Menschen sind so das Kriterium, nach dem über die Produktion entschieden wird. So wird die verkehrte Welt des Kapitalismus wieder auf die Füsse gestellt.

Es wird deutlich, dass eine solche Alternative zum Kapitalismus nichts mit den autoritären Systemen der Sowjetunion oder der Volksrepublik China zu tun hat. Denn diese Systeme haben nicht nur die Menschen ausgebeutet und in Gefängnisse gesteckt, sondern – wie könnte es auch anders sein – in ihrem Wettlauf mit dem Kapitalismus auch die Natur zerstört.

5. Keine blinde Gefolgschaft

Wir sehen: Marx’ Analyse des Kapitalismus gibt uns wichtige Anhaltspunkte, um die systematische Zerstörung der Natur durch das Kapital zu verstehen. Trotzdem müssen wir uns davor hüten, in Marx einen allwissenden Propheten der aktuellen Klimakatastrophe zu sehen. Im Gegenteil. Angesichts der aktuellen Herausforderungen gilt es auch einiges kritisch zu überdenken.

Dazu gehört ein teilweise unkritisches Verständnis von Technologien. In vielen Schriften von Marx und Engels drückt eine grosse Bewunderung für neue kapitalistische Technologien durch. Vor allem in ihren jungen Jahren bewunderten sie die «zivilisatorische» Kraft des Kapitalismus. Dampfmaschinen waren für sie grosse Errungenschaften der kapitalistischen Zivilisation, die alle Gegenden der Welt aus ihrer Rückständigkeit befreien und in Richtung Sozialismus vorwärtsbringen sollten.

Ein solcher Glaube in die befreiende Kraft der Technologien blieb lange Zeit ein wichtiger Charakterzug des Marxismus. Lenin und Trotzki etwa sprachen mit Hochachtung über die amerikanische Massenproduktion, ihre Flugzeuge und Automobile. «Die Zeitgenossen von Marx», so Trotzki im Jahr 1936, «kannten weder Automobil noch Kino noch Flugzeug. Indes, heute wäre die sozialistische Gesellschaft undenkbar ohne freien Genuss all dieser Dinge.» In Trotzkis kommunistischer Utopie sollte allen die grenzenlose Nutzung dieser Fortbewegungsmittel möglich sein. Jeder und jede dürfe «sich in beliebiger Richtung per Auto» bewegen und sich «unterwegs mühelos mit Kraftstoff» versorgen können. Dass der Autoverkehr nicht nur ein Mittel des Fortschritts und der Befreiung des Menschen war, sondern auch eine Technologie, die neue Formen der Unterdrückung und vor allem der Umweltzerstörung mit sich brachte, war für Trotzki offenbar kein Thema.

Solche blinden Flecken sind aber nur für jene ein Problem, die eine religiöse Beziehung zu den grossen Figuren des Marxismus pflegen. Nur jene, die die Texte dieser Revolutionäre gerne unkritisch nachplappern, geraten angesichts der gegenwärtigen Klimakatastrophe in Erklärungsnot.

Für alle anderen sollte diese kritische Auseinandersetzung nichts Aussergewöhnliches sein. Sie wäre wahrscheinlich sogar ganz im Sinne der grossen Marxist*innen. Denn weder Marx und Engels noch Lenin, Luxemburg oder Trotzki waren je der Meinung, dass ihre Gedanken der Weisheit letzter Schluss waren.

Somit besteht die Aufgabe eines kritischen Marxismus darin, das eigene Denken stets den aktuellen Umständen anzupassen, um den Kontakt mit der Realität nicht zu verlieren. Freilich ohne den Horizont einer Gesellschaft ohne Unterdrückung der Menschen und Ausbeutung der Natur aus den Augen zu verlieren. Eine Aufgabe, die heute dringender ist denn je.

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1 Kommentar

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