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Arbeitswertketten und ökologisch-epidemiologisch- ökonomische Krisen (2)

Im ersten Teil des Artikels beschrieben die Autor*innen, wie die globalen Handels- und Arbeitswertketten die Ausbreitung von Pandemien massiv begünstigen. Im zweiten Teil gehen sie nun spezifischer auf die global ungleichen Auswirkungen der Pandemie ein und zeigen auf, inwiefern Pandemien, die imperialistische Ausbeutung des globalen Südens und die zunehmenden ökologischen Katastrophen zusammenhängen und die Folge des entstehenden Katastrophen-Kapitalismus sind. (Red.)

von John Bellamy Foster und Intan Suwandi; aus monthlyreview.org

Imperialismus, Klasse und die Pandemie

SARS-CoV-2 ist, wie andere gefährliche Krankheitserreger, die in den letzten Jahren aufgetaucht oder wieder aufgetaucht sind, eng mit einer komplexen Reihe von Faktoren verbunden: 1. der Entwicklung der globalen Agrarindustrie mit ihren sich ausbreitenden genetischen Monokulturen, die die Anfälligkeit für die Übertragung zoonotischer Krankheiten von Wildtieren auf Haustiere auf den Menschen erhöhen; 2. der Zerstörung von Wildlebensräumen und die Störung der Aktivitäten wildlebender Arten; und 3. mit Menschen, die in grösserer Nähe zusammenleben.

Ohne Zweifel sind die globalen Warenketten und die Art der Konnektivität, die sie hervorgebracht haben, zu Vektoren für die schnelle Übertragung von Krankheiten geworden; dadurch wird dieses ganze ausbeuterische globale Entwicklungsmuster in Frage gestellt. Wie Stephen Roach von der Yale School of Management, ehemaliger Chefökonom von Morgan Stanley und Hauptverantwortlicher für das Konzept der globalen Arbeitsarbitrage, im Zusammenhang mit der Coronavirus-Krise geschrieben hat, wollten die Finanzzentralen der Konzerne «preiswerte Güter, unabhängig davon, was diese Kosteneffizienz in Bezug auf [die fehlenden] Investitionen in die öffentliche Gesundheit, oder ich würde auch sagen, [die fehlenden] Investitionen in den Umweltschutz und die Qualität des Klimas, mit sich bringt». Das Ergebnis einer solchen nicht nachhaltigen Herangehensweise an «Kosteneffizienz» sind die gegenwärtigen globalen ökologischen und epidemiologischen Krisen und ihre finanziellen Folgen, die ein bereits fragiles System weiter destabilisieren.[48]

Gegenwärtig befinden sich die reichen Länder im Epizentrum der Covid-19-Pandemie und der finanziellen Auswirkungen, aber die Gesamtkrise, einschliesslich ihrer wirtschaftlichen und epidemiologischen Auswirkungen, wird die armen Länder härter treffen. Wie mit einer solchen planetarischen Krise umgegangen wird, wird letztlich durch das imperiale Klassensystem gefiltert. Im März 2020 gab das Covid-19-Reaktionsteam des Imperial College in London einen Bericht heraus, aus dem hervorgeht, dass in einem globalen Szenario, in dem SARS-CoV-2 ohne Social Distancing oder Abschottung ungebremst ausbrechen würde, vierzig Millionen Menschen auf der Welt sterben würden, wobei die Sterblichkeitsrate in den reichen Ländern höher wäre als in den armen Ländern, da der Anteil der Bevölkerung, der 65 Jahre oder älter ist, im Vergleich zu den armen Ländern größer ist. Diese Analyse berücksichtigte angeblich den besseren Zugang zu medizinischer Versorgung in den reichen Ländern. Aber sie liess Faktoren wie Unterernährung, Armut und die grössere Anfälligkeit für Infektionskrankheiten in armen Ländern ausser Acht. Dennoch ging das Imperial College auf der Grundlage dieser Annahmen davon aus, dass sich die Zahl der Todesfälle in einem ungemilderten Szenario im Bereich von 15 Millionen in Ostasien und im Pazifik, 7,6 Millionen Menschen in Südasien, 3 Millionen Menschen in Lateinamerika und in der Karibik, 2,5 Millionen Menschen in Afrika südlich der Sahara und 1,7 Millionen im Nahen Osten und in Nordafrika bewegen würde – gegenüber 7,2 Millionen in Europa und Zentralasien und rund 3 Millionen in Nordamerika.[49]

Basierend auf dem Ansatz des Imperial College schrieben Ahmed Mushfiq Mobarak und Zachary Barnett-Howell von der Yale University einen Artikel für die etablierte Zeitschrift Foreign Policy mit dem Titel «Poor Countries Need to Think Twice About Social Distancing». In ihrem Artikel waren Mobarak und Barnett-Howell sehr explizit und argumentierten, dass «epidemiologische Modelle deutlich machen, dass die Kosten eines Verzichts auf Interventionen in reichen Ländern Hunderttausende bis Millionen von Toten betragen würden, ein Ergebnis, das weit schlimmer ist als die tiefste wirtschaftliche Rezession, die man sich vorstellen kann». Mit anderen Worten: «Soziale Distanzierungsmassnahmen und aggressive Unterdrückung, selbst mit den damit verbundenen wirtschaftlichen Kosten, sind in Gesellschaften mit hohem Einkommen in überwältigendem Masse gerechtfertigt» – um Leben zu retten. Das Gleiche gelte jedoch nicht für arme Länder, da es dort relativ wenige ältere Menschen in der Gesamtbevölkerung gebe, so dass die Sterblichkeitsrate nach Schätzungen des Imperial College nur etwa halb so hoch sei. Dieses Modell, geben sie zu, «berücksichtigt nicht die höhere Prävalenz von chronischen Krankheiten, Atemwegserkrankungen, Umweltverschmutzung und Unterernährung in Ländern mit niedrigem Einkommen, die die Sterblichkeitsrate durch Coronavirus-Ausbrüche erhöhen könnten». Aber diese Autoren ignorieren dies in ihrem Artikel (und in einer damit zusammenhängenden Studie des Yale Economics Department) weitgehend und beharren darauf, dass es angesichts der Verarmung und der enormen Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung in diesen Ländern besser wäre, wenn der Bevölkerung kein Social Distancing oder grossflächiges Testing und Lockdowns auferlegt würden und die Anstrengungen auf die wirtschaftliche Produktion gelenkt würde; damit könnten vermutlich die globalen Versorgungsketten intakt gehalten werden, deren Beginn hauptsächlich in Niedriglohnländern liegt.[50] Zweifellos wird der Tod von Dutzenden Millionen Menschen im globalen Süden von diesen Autoren als ein vernünftiger Kompromiss für das weitere Wachstum des Kapitalimperiums angesehen.

Wie Mike Davis argumentiert, weist der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts auf «eine permanente Triage der Menschheit hin … die einen Teil der Menschheit dem Untergang preisgibt». Er fragt:

«Aber was passiert, wenn sich Covid in Bevölkerungsgruppen mit minimalem Zugang zu Medikamenten und dramatisch erhöhter schlechter Ernährung, ungepflegten Gesundheitsproblemen und geschädigtem Immunsystem ausbreitet? Der Altersvorteil wird für arme Jugendliche in afrikanischen und südasiatischen Slums weitaus weniger wert sein.»

Es besteht auch die Möglichkeit, dass eine Masseninfektion in Slums und armen Städten den Coronavirus-Infektionsmodus verändern und die Art der Krankheit umgestalten könnte. Vor dem Auftreten von SARS im Jahr 2003 waren hochpathogene Coronavirus-Epidemien auf Haustiere, vor allem Schweine, beschränkt. Die Forscher erkannten bald zwei verschiedene Infektionswege: die fäkal-orale Infektion, die das Magen- und Darmgewebe angriff, und die respiratorische Infektion, die die Lungen angriff. Im ersten Fall gab es in der Regel eine sehr hohe Mortalität, während der zweite in der Regel zu milderen Fällen führte. Ein kleiner Prozentsatz der aktuellen positiven Fälle, insbesondere die Fälle auf Kreuzfahrtschiffen, berichten über Durchfall und Erbrechen, und, um einen Bericht zu zitieren, «die Möglichkeit der Übertragung von SARS-CoV-2 über Abwasser, Abfall, kontaminiertes Wasser, Klimaanlagen und Aerosole darf nicht unterschätzt werden. Die Pandemie hat inzwischen die Slums Afrikas und Südasiens erreicht, wo die Fäkalien überall zu finden sind: im Wasser, im selbst angebauten Gemüse und als windgetriebener Staub. (Ja, shitstorms sind real.) Wird dies den Weg über den Verdauungstrakt begünstigen? Wird dies, wie im Falle von Tieren, zu mehr tödlichen Infektionen führen, möglicherweise in allen Altersgruppen?»[51]

Davis‘ Argument macht die grobe Unmoral einer Position deutlich, die besagt, dass Social Distancing und aggressive Unterdrückung des Virus als Reaktion auf die Pandemie in reichen und nicht in armen Ländern stattfinden sollte. Solche imperialistischen epidemiologischen Strategien sind umso bösartiger, als sie die Armut der Bevölkerungen in der imperialistischen Peripherie, dem Produkt des Imperialismus, als Rechtfertigung für einen malthusianischen oder sozialdarwinistischen Ansatz heranziehen, bei dem Millionen Menschen sterben würden, um das Wachstum der Weltwirtschaft aufrechtzuerhalten, in erster Linie zum Wohle derer, die an der Spitze des Systems stehen. Im Gegensatz dazu steht der Ansatz im «sozialistisch» geführten Venezuela, dem Land in Lateinamerika mit der geringsten Zahl von Todesfällen pro Kopf in der Covid-19 Pandemie, wo kollektiv organisiertes Social Distancing und soziale Versorgung mit erweitertem personalisiertem Screening kombiniert wird, um festzustellen, wer am verwundbarsten ist, mit weit verbreiteten Tests und dem Ausbau von Krankenhäusern und einer Gesundheitsfürsorge, die sich nach dem kubanischen und chinesischen Modell entwickelt.[52]

Wirtschaftlich gesehen ist der globale Süden als Ganzes, ganz abgesehen von den direkten Auswirkungen der Pandemie, dazu ausersehen, die höchsten Kosten zu tragen. Der Zusammenbruch globaler Lieferketten durch Auftragsstornierungen im globalen Norden (sowie Social Distancing und Lockdowns rund um den Globus) und die darauffolgende Umgestaltung der Warenketten wird ganze Länder und Regionen am Boden zerstört hinterlassen.[53]

Entscheidend ist, dass die Covid -19-Pandemie mitten in einen von der Trump-Administration entfesselten und gegen China gerichteten Wirtschaftskrieg um globale Hegemonie geraten ist, auf das seit 2008 etwa 37 Prozent des gesamten kumulativen Wachstums der Weltwirtschaft entfallen.[54] Dieser Wirtschaftskrieg wird von der Trump-Administration als ein Krieg mit anderen Mitteln angesehen. Als Folge des Zollkrieges hatten bereits viele US-Unternehmen ihre Lieferketten aus China abgezogen. Levi’s zum Beispiel hat seine Produktion in China von 16 Prozent im Jahr 2017 auf 1-2 Prozent im Jahr 2019 reduziert. Angesichts des Zollkriegs und der Covid-19-Pandemie haben zwei Drittel der 160 befragten Führungskräfte aus verschiedenen Branchen in den USA kürzlich angegeben, dass sie bereits umgezogen sind, einen Umzug geplant haben oder in Erwägung ziehen, ihre Betriebe von China nach Mexiko zu verlegen, wo die Lohnstückkosten jetzt vergleichbar sind und wo sie näher an den US-Märkten wären.[55] Washingtons Wirtschaftskrieg gegen China ist derzeit so heftig, dass sich die Trump-Administration bis Ende März 2020 weigerte, die Zölle auf persönliche Schutzausrüstung, die für medizinisches Personal unerlässlich ist, zu senken.[56] Trump ernannte inzwischen Peter Navarro, den Wirtschaftswissenschaftler, der für seinen Wirtschaftskrieg mit China verantwortlich war, zum Leiter des Defense Production Act, um die Covid-19-Krise zu bewältigen.

In seinen Funktionen bei der Leitung des Handelskrieges der USA gegen China und als politischer Koordinator des Defense Production Act hat Navarro China beschuldigt, einen «Handelsschock» herbeigeführt zu haben, der «über fünf Millionen Arbeitsplätze in der verarbeitenden Industrie und 70’000 Fabriken» vernichten und «zehntausende Amerikaner*innen töten werde», weil Arbeitsplätze, Familien und die Gesundheit zerstört würden. Auf dieser propagandistischen Grundlage ging Navarro dazu über, die US-Politik in Bezug auf die Pandemie um die Notwendigkeit herum zu gruppieren, das so genannten «China-Virus» zu bekämpfen und die US-Lieferketten aus China herauszuziehen. Da jedoch etwa ein Drittel aller globalen Zwischenprodukte der verarbeitenden Industrie derzeit in China hergestellt werden, vor allem in den Hochtechnologiesektoren, und da dies nach wie vor der Schlüssel zur globalen Jagd nach billiger Arbeit ist, wird der Versuch einer solchen Umstrukturierung, soweit dies überhaupt möglich ist, grössere Störungen erzeugen.[58]

Einige multinationale Unternehmen, die ihre Produktion aus China abgezogen hatten, erfuhren später auf die harte Tour, dass die Entscheidung sie nicht aus ihrer Abhängigkeit von China «befreit» hat. Samsung zum Beispiel hat damit begonnen, elektronische Komponenten aus China in seine Fabriken in Vietnam zu fliegen; Vietnam ist ein mögliches Ziel für Unternehmen, die den Handelskriegszöllen entgehen wollen. Aber Vietnam ist ebenso verwundbar, weil es in Bezug auf Materialien oder Halbfabrikate stark von China abhängig ist.[59] Ähnlich ist die Lage bezüglich anderer südostasiatischer Nachbarländer. China ist der grösste Handelspartner Indonesiens, und etwa 20 bis 50 Prozent der Industrierohstoffe des Landes kommen aus China. Bereits im Februar hatten Fabriken in Batam, Indonesien, Probleme mit austrocknenden Rohstoffflüssen aus China (die 70 Prozent dessen ausmachen, was in dieser Region produziert wird). Die Unternehmen dort sagten, dass sie erwögen, Materialien aus anderen Ländern zu beziehen, aber «das ist nicht gerade einfach». Für viele Fabriken bestand nur die Option, «den Betrieb vollständig einzustellen».[60] Kapitalisten wie Cao Dewang, der chinesische Milliardär und Gründer der Glasindustrie in Fuyao, prognostiziert die Schwächung der Rolle Chinas in der globalen Lieferkette nach der Pandemie, kommt aber zum Schluss, dass es zumindest kurzfristig «schwierig ist, eine Wirtschaft zu finden, die China in der globalen Industriekette ersetzen könnte» – und führt viele Schwierigkeiten an, die von «Infrastrukturmängeln» in südostasiatischen Ländern, höheren Arbeitskosten im globalen Norden und den Hindernissen herrühren, denen sich «reiche Länder» gegenübersehen, wenn sie «die Produktion im eigenen Land wieder aufbauen wollen»[61].

Die Covid-19-Krise ist nicht als das Ergebnis einer externen Kraft oder eines unvorhersehbaren Ereignisses als «schwarzer Schwan» zu behandeln, sondern gehört vielmehr zu einem Komplex von Krisentendenzen, die weitgehend vorhersehbar sind, wenn auch nicht in Bezug auf den tatsächlichen Zeitpunkt. Heute ist das Zentrum des kapitalistischen Systems mit einer weltweiten Stagnation in Bezug auf Produktion und Investitionen konfrontiert. Für seine erneute Expansion und die Anhäufung von Reichtum an seiner Spitze stützt es sich auf historisch niedrige Zinssätze, hohe Schulden, den Abfluss von Kapital aus dem globalen Süden in den Norden, und Finanzspekulationen. Die Einkommens- und Vermögensungleichheit erreicht ein Niveau, für das es keine historische Entsprechung gibt. Die Kluft in der Weltökologie hat planetarische Ausmasse erreicht und schafft ein planetarisches Umfeld, wo es für die Menschheit keinen sicheren Ort mehr gibt. Neue Pandemien entstehen auf der Grundlage eines Systems des globalen Monopol-Finanzkapitals, das sich selbst zum Hauptüberträger von Krankheiten gemacht hat. Überall greifen die staatlichen Systeme auf ein höheres Mass an Unterdrückung zurück, sei es unter dem Deckmantel des Neoliberalismus oder des Neofaschismus.

Der außerordentlich ausbeuterische und destruktive Charakter des Systems zeigt sich in der Tatsache, dass überall Lohnabhängige zu systemrelevanten Arbeiter*innen für die kritische Infrastruktur erklärt wurden (ein Konzept, das in den Vereinigten Staaten durch das Department of Homeland Security formalisiert wurde) und von ihnen wird erwartet, dass sie ihre Arbeiten grösstenteils ohne Schutzausrüstung durchführen, während sich die privilegierteren und entbehrlicheren Klassen «sozial distanzieren».[62] Eine echte Abriegelung wäre viel umfassender und würde staatliche Vorsorge und Planung erfordern, um sicherzustellen, dass die gesamte Bevölkerung geschützt wird, anstatt sich auf die Rettung finanzieller Interessen zu konzentrieren. Gerade wegen des Klassencharakters des Social Distancing sowie wegen des stark ungleichen Zugangs zu Einkommen, Wohnraum, Ressourcen und medizinischer Versorgung ist die Morbidität und Mortalität von Covid-19 in den USA bei People of Color und Schwarzen unvergleichlich höher.[63]

Soziale Produktion und der planetarische Stoffwechsel

Grundlegend für die materialistische Sichtweise von Marx war das, was er «die Hierarchie der … Bedürfnisse» nannte.[64] Das bedeutete, dass der Mensch ein materielles Wesen ist, Teil der natürlichen Welt, und dass er innerhalb dieser Welt seine eigene soziale Welt schuf. Als materielle Wesen müssen Menschen zuerst ihre materiellen Bedürfnisse befriedigen, indem sie essen und trinken, Nahrung, Unterkunft, Kleidung und die Grundvoraussetzungen für eine gesunde Existenz zur Verfügung stellen, bevor sie ihren höheren Entwicklungsbedürfnissen nachgehen können, die für die volle Verwirklichung des menschlichen Potentials notwendig sind.[65] In Klassengesellschaften wurde jedoch die grosse Mehrheit, die wirklichen Produzent*innen von gesellschaftlichem Reichtum, zu einem ständigen Kampf um die Befriedigung ihrer grundlegendsten Bedürfnisse verurteilt. Dies hat sich bis heute nicht grundlegend geändert. Trotz des enormen Reichtums, der in Jahrhunderten des Wachstums geschaffen wurde, befinden sich Millionen und Abermillionen von Menschen, selbst in den reichsten kapitalistischen Gesellschaften, nach wie vor in einem prekären Zustand in Bezug auf solche Grundbedürfnisse wie Ernährungssicherheit, Wohnen, sauberes Wasser, Gesundheitsversorgung und Transport – dies unter Bedingungen, in denen drei Milliardäre in den USA so viel Reichtum besitzen wie die untere Hälfte der Bevölkerung.

Inzwischen ist die lokale und regionale Umwelt in Gefahr geraten – ebenso wie alle Ökosysteme der Welt und das Erdsystem selbst ist kein sicherer Ort mehr für die Menschheit. Die Betonung globaler «Kosteneffizienz» (ein Euphemismus für billige Arbeitskräfte und billiges Land) hat das multinationale Kapital dazu veranlasst, ein komplexes System globaler Warenketten zu schaffen, das an jedem Punkt darauf ausgerichtet ist, die Über- und Superausbeutung von Arbeitskräften auf weltweiter Basis zu maximieren und gleichzeitig die ganze Welt in einen Grundstückmarkt zu verwandeln, der zu einem grossen Teil als Betätigungsfeld für das Agrobusiness dient. Das Ergebnis war ein gewaltiger Abfluss von Überschüssen von der Peripherie des globalen Systems und eine Ausplünderung der planetarischen Gemeinschaftsgüter. In dem engen System der vom Kapital angewandten Wertberechnung wird der größte Teil der materiellen Existenz, einschließlich des gesamten Erdsystems und der sozialen Bedingungen der Menschen, sofern diese nicht auf den Markt gelangen, als Externalitäten betrachtet, die im Interesse der Kapitalakkumulation geraubt und geplündert werden müssen. Was fälschlicherweise als «die Tragödie des Gemeingutes» bezeichnet wurde, wird, wie Guy Standing in Plunder of the Commons betont hat, besser als «die Tragödie der Privatisierung» interpretiert. Heute hat das berühmte Lauderdale-Paradoxon, das von dem Earl of Lauderdale im frühen 19. Jahrhundert eingeführt wurde und in dem öffentlicher Reichtum für die Vermehrung privater Reichtümer zerstört wird, den gesamten Planeten als Wirkungsfeld.[66]

Die Kapitalkreisläufe des Spätimperialismus haben diese Tendenzen in vollem Umfang genutzt und eine sich rasch entwickelnde planetare ökologische Krise hervorgerufen, die die menschliche Zivilisation, wie wir sie kennen, zu verschlingen droht. Als perfekter Sturm der Katastrophe. Hinzu kommt ein System der Akkumulation, das von jeder rationalen, vom Geldkreislauf unabhängigen Ordnung der Bedürfnisse der Bevölkerung losgelöst ist.[67] Die Akkumulation und die Anhäufung von Reichtum im Allgemeinen hängen zunehmend von der Verbreitung von Abfällen aller Art ab. Inmitten dieser Katastrophe ist ein neuer Kalter Krieg und eine wachsende Wahrscheinlichkeit thermonuklearer Zerstörung entstanden, mit einer zunehmend instabilen und aggressiven USA an der Spitze. Dies hat das Bulletin of Atomic Scientists dazu veranlasst, seine berühmte Weltuntergangsuhr auf 100 Sekunden vor Mitternacht zu stellen – also am nächsten an Mitternacht, seit die Uhr 1947 begonnen hat zu ticken.[68]

Die Covid-19-Pandemie und die Bedrohung durch zunehmende und noch tödlichere Pandemien ist ein Produkt eben dieser spätimperialistischen Entwicklung. Ketten globaler Ausbeutung und Enteignung haben nicht nur die Ökologie, sondern auch die Beziehungen zwischen den Arten destabilisiert und ein giftiges Gebräu aus Krankheitserregern geschaffen. All dies kann als Folge der Einführung der Agrarindustrie mit ihren genetischen Monokulturen, der massiven Zerstörung der Ökosysteme durch die unkontrollierte Vermischung der Arten und eines Systems der globalen Kapitalverwertung angesehen werden, das darauf beruht, Land, Körper, Arten und Ökosysteme als «freie Güter» zu behandeln, die ungeachtet der natürlichen und sozialen Grenzen im Privatinteresse einiger weniger enteignet werden sollen.

Auch sind neue Viren nicht das einzige aufkommende globale Gesundheitsproblem. Der übermäßige Einsatz von Antibiotika in der Agrarindustrie wie auch in der modernen Medizin hat zu einem gefährlichen Wachstum von Superbakterien geführt, die immer mehr Todesfälle verursachen, die bis Mitte des Jahrhunderts die jährlichen Krebstodesfälle übertreffen könnten, und die Weltgesundheitsorganisation veranlasst, einen «globalen Gesundheitsnotstand» auszurufen.»[69] Da übertragbare Krankheiten aufgrund der ungleichen Bedingungen der kapitalistischen Klassengesellschaft am stärksten auf die Arbeiter*innenklasse und die Armen sowie auf die Bevölkerungen in der imperialistischen Peripherie fallen, kann das System, das solche Krankheiten im Streben nach Profit erzeugt, des sozialen Mordes angeklagt werden – wie es Engels und die Chartisten im 19. Jahrhundert gemacht hatten. Wie die revolutionären Entwicklungen in der Epidemiologie, die durch «Eine Gesundheit» und «Strukturelle Gesundheit» repräsentiert werden, nahegelegt haben, lässt sich die Ätiologie der neuen Pandemien auf das Gesamtproblem der durch den Kapitalismus verursachten Umweltzerstörung zurückführen.

Hier erhebt sich erneut die Notwendigkeit einer «revolutionären Rekonstitution von Gesellschaft als Ganzem», wie dies in der Vergangenheit schon oft getan wurde.[70] Die Logik der zeitgenössischen historischen Entwicklung weist auf die Notwendigkeit eines stärker gemeinschaftsbasierten Systems der sozialen Stoffwechselprozesse hin, eines Systems, in dem die damit verbundenen Produzent*innen ihren sozialen Stoffwechsel vernunftbasiert mit der Natur regulieren, um die freie Entwicklung eines jeden als Grundlage der freien Entwicklung aller zu fördern und gleichzeitig Energie und Umwelt zu schonen.[71] Die Zukunft der Menschheit im 21. Jahrhundert liegt nicht in der Richtung von verstärkter ökonomischer und ökologischer Ausbeutung, Enteignung, Imperialismus und Krieg. Vielmehr sind das, was Marx «Freiheit im Allgemeinen» und die Bewahrung eines lebensfähigen «planetarischen Stoffwechsels» nannte, heute die dringendsten Notwendigkeiten, um die menschliche Gegenwart und Zukunft und sogar das menschliche Überleben zu sichern.[72]

Der erste Teil des Artikels findet man hier. Der Artikel erschien auf Englisch am 1. Juni 2020. Übersetzung durch Redaktion.


Fussnoten

  1. Stephen Roach, “This Is Not the Usual Buy-on-Dips Market,” Economic Times, March 18, 2020.
  2. COVID-19 Response Team, Imperial College, Report 12: The Global Impact of COVID-19 and Strategies for Mitigation and Suppression (London: Imperial College, 2020), 3–4, 11.
  3. Ahmed Mushfiq Mobarak and Zachary Barnett-Howell, “Poor Countries Need to Think Twice About Social Distancing,” Foreign Policy, April 10, 2020; Zachary Barnett-Howell and Ahmed Mushfiq Mobarak, “The Benefits and Costs of Social Distancing in Rich and Poor Countries,” ArXiv, April 10, 2020.
  4. Davis, “Mike Davis on Pandemics, Super-Capitalism, and the Struggles of Tomorrow.”
  5. President Maduro: Venezuela Faces the COVID-19 With Voluntary Quarantine Without Curfew or State of Exception,” Orinoco Tribune, April 18, 2020; Frederico Fuentes, “Venezuela: Community Organization Key to Fighting COVID-19,” Green Left, April 9, 2020.
  6. “Analysis: The Pandemic Is Ravaging the World’s Poor Even If They Are Untouched by the Virus,” Washington Post, April 15, 2020; Matt Leonard, “India, Bangladesh Close Factories Amid Coronavirus Lockdown,” Supply Chain Dive, March 26, 2020; Finbarr Bermingham, “Global Trade Braces for ‘Tidal Wave’ Ahead, as Shutdown Batters Supply Chains,” South China Morning Post, April 3, 2020; I. P. Singh, “Punjab: ‘No Orders, No Raw Material,’” Times of India, April 1, 2020.
  7. Roach, “This Is Not the Usual Buy-On-Dips Market.”
  8. Kapadia, “From Section 301 to COVID-19.”
  9. Bown, “COVID-19: Trump’s Curbs on Exports of Medical Gear.”
  10. David Ruccio, “The China Syndrome,” Occasional Links and Commentary, April 14, 2020; Alan Rappeport, “Navarro Calls Medical Experts ‘Tone Deaf’ Over Coronavirus Shutdown,” New York Times, April 13, 2020; John Bellamy Foster, Trump in the White House (New York: Monthly Review Press, 2017), 84–85.
  11. Cary Huang, “Is the Coronavirus Fatal for Economic Globalisation?,” South China Morning Post, March 15, 2020; Frank Tang, “American Factory Boss Says Pandemic Will Change China’s Role in Global Supply Chain,”South China Morning Post, April 15, 2020.
  12. John Reed and Song Jung-a, “Samsung Flies Phone Parts to Vietnam After Coronavirus Hits Supply Chains,” Financial Times, February 16, 2020; Finbarr Bermingham, “Vietnam Lured Factories During Trade War, but Now Faces Big Hit as Parts from China Stop Flowing,” South China Morning Post, February 28, 2020.
  13. Fadli, “Batam Factories at Risk as Coronavirus Outbreak Stops Shipments of Raw Materials from China,” Jakarta Post, February 18, 2020; “Covid-19: Indonesia Waives Income Tax for Manufacturing Workers for Six Months,” Star, March 16, 2020.
  14. Tang, “American Factory Boss Says Pandemic Will Change China’s Role in Global Supply Chain.”
  15. Christopher C. Krebs, “Advisory Memorandum on Identification of Essential Critical Infrastructure Workers,” U.S. Department of Homeland Security, March 28, 2020.
  16. Lauren Chambers, “Data Show that COVID-19 is Hitting Essential Workers and People of Color Hardest,” Data for Justice Project, American Civil Liberties Union, April 7, 2020.
  17. Karl Marx, Texts on Method (Oxford: Basil Blackwell, 1975), 195.
  18. Frederick Engels, “The Funeral of Karl Marx,” in Karl Marx Remembered, ed. Philip S. Foner (San Francisco: Synthesis, 1983), 39.
  19. Guy Standing, Plunder of the Commons: A Manifesto for Sharing Public Health (London: Pelican, 2019), 49; John Bellamy Foster and Brett Clark, The Robbery of Nature (New York: Monthly Review Press, 2020), 167–72.
  20. John Bellamy Foster and Robert W. McChesney, The Endless Crisis (New York: Monthly Review Press, 2012).
  21. It’s Now 100 Seconds to Midnight,” Bulletin of Atomic Scientists, January 23, 2020.
  22. “Microbial Resistance a Global Health Emergency,” UN News, November 12, 2018; Ian Angus, “Superbugs in the Anthropocene,” Monthly Review 71, no. 2 (June 2019).
  23. Karl Marx and Frederick Engels, The Communist Manifesto (New York: Monthly Review Press, 1964), 2.
  24. Karl Marx, Capital, vol. 3, 949.
  25. Karl Marx and Frederick Engels, Collected Works, vol. 1 (New York: International Publishers, 1975), 173; Wallace et al., “COVID-19 and Circuits of Capital.”

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