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Frankreich: Die Katastrophe steht nicht vor der Tür, sie ist bereits eingetroffen

In Frankreich sind viele Menschen, die gegen den antisozialen Kurs der Hollande-Regierung aktiv waren, nun mit der quälenden Frage konfrontiert, was sie bei der Stichwahl zwischen dem neoliberalen, pro-europäischen Emmanuel Macron und der rechtsextremen Marine Le Pen tun sollen. Ein Teil der Linken sieht den Aufruf des politische Establishments, mit Macron das kleinere Übel zu wählen, als Erpressung und überlegt sich, aus Protest einen weissen Stimmzettel in die Urne zu werfen oder gar der Stichwahl fern zu bleiben. Andere Stimmen wollen mit dem Tag der Arbeiter*innen am 1. Mai einen breiten Widerstand gegen den FN aufbauen. Dabei ist es in den Sozialforen und Blogbeiträgen umstritten, ob eine solche Protestbewegung – momentan ist sie im Vergleich zu 2002 nur ansatzweise vorhanden – zunächst die Gefahr von Le Pen an der Urne abwehren soll oder ob der Aufruf zur Wahl Macrons demobilisierend bzw. desorientierend wirken könnte. Mit Blick auf diese Meinungsverschiedenheiten hat der unterlegene Kandidat der „France insoumise“, Jean-Luc Mélanchon, am Freitag (28. April) angekündigt, dass er keine Wahlempfehlung geben wird. Er sicherte zwar zu, „zu tun, was zu tun ist“, wollte aber angesichts der Parlamentswahlen im Juni seine junge politische Formation nicht spalten.
 Ungeachtet dessen häufen sich die politischen Fehler von Emmanuel Macron. Nachdem er siegessicher am Abend des ersten Wahlganges in einem schicken Restaurant von Paris mit seinem Kader gefeiert hatte, wurde ihm massiv vorgeworfen, er habe den Ernst der Lage nicht erkannt. Einige Tage später besuchte Macron mit grosser Medieninszenierung das Wihrlpool-Werk in seiner Heimatstadt Amiens, wo die Lohnabhängigen im Zuge einer Produktionsverlagerung akut von Entlassungen bedroht sind. Während er sich aber mit Vertreter*innen der Gewerkschaften traf und nach monatelanger Abweisung ihrer Forderungen versuchte, sich als arbeitnehmerfreundlich zu präsentieren, gelang es Marine Le Pen, in das Werk zu kommen und sich dort mit Angehörigen der Belegschaft fotografieren zu lassen. Am Samstag, 29. April, hat die Kandidatin der Rechtsextremen einen neuen Bündnispartner gewonnen, indem sie der Führungsfigur der rechtsnationalistischen Formation „Debout la France“ (Wahlergebnis: 4,7 %), Nicolas Dupont-Aignan, das Amt des Premierministers im Falle eines Wahlsieges versprach. Folgend haben wir den Beitrag eines Aktivisten der antikapitalistischen Linken übersetzt. (Red.)
Von Julien Salingue*
Lasst uns Klartext reden: Diese Konstellation für den zweiten Wahlgang ist eine Katastrophe.
Natürlich, weil der Front National im zweiten Wahlgang ist und weil die geringe Reaktion darauf Bände spricht: Sie zeigt die Normalisierung der extremen Rechte auf. Aber auch, weil der Gegner von Le Pen, trotz des grossen Vorsprungs in den Umfragen, der Wunschgegner des Front National ist.

Klassenpolarisierung

Macron ist derjenige, der am meisten den Mythos der glücklichen Globalisierung verkörpert. Dazu gehören das Mär der angeblichen Vorteile des Neoliberalismus, die Deregulierung der Finanzmärkte und des Arbeitsmarktes usw. Le Pen positioniert sich auf betrügerische Weise, jedoch deshalb nicht minder konsequent als Vertreterin der von der Globalisierung Ausgeschlossenen gegen denjenigen, der sich stolz als der Verfechter der neoliberalen Globalisierung darstellt.
Es reicht aus, ein wenig Wahlsoziologie zu betreiben, um den Umfang des Schadens zu bemessen: Je mehr eine Person „CSP+“ [laut der Nomenklatur des französischen Statistikamts ist dies die sozioprofessionelle Kategorie, welche Führungskräfte, Kader usw. umfasst, a.d.R] ist, desto mehr wählt sie Macron, je mehr sie „CSP-“ [dementsprechend manuelle Berufe, nichtqualifizierte Arbeitskräfte etc., a.d.R.] ist, desto mehr wählt sie Le Pen; je mehr jemand verdient, desto wahrscheinlicher wird Macron gewählt, je tiefer das Einkommen ist, desto wahrscheinlicher wird Le Pen gewählt; je höher die Ausbildung, desto wahrscheinlicher die Wahl für Macron, je tiefer die Ausbildung, desto wahrscheinlicher die Wahl für Le Pen usw. Diese zwei gegensätzlichen Tendenzen waren noch nie derart ausgeprägt wie vor diesem zweiten Wahlgang.
Das heisst im Grunde genommen, dass die Wahl vom 7. Mai durch eine Polarisierung der Klassen gekennzeichnet sein wird. Dies schliesst selbstverständlich Nuancen nicht aus. Auch entsprechen diese Dynamiken auf Seite des FN keiner Klassenwahl, weil die Motive der FN-Wählerschaft in erster Linie durch Rassismus und Sicherheitsbedenken geprägt sind und es weniger um ökonomische oder soziale Gründe geht. Aber diese schwerwiegenden Tendenzen existieren und dies ist das beunruhigende.
Der herrschende Diskurs der Leitartikler, Politologen und politischen Verantwortlichen festigt dieses Bild noch zusätzlich: die Wähler*innen von Macron seien für die Modernität, den „normalen“ Gang der Dinge, die politische und technologische Erneuerung usw.; die anderen seien der Vergangenheit zugewandt, ungebildet, dem Fortschritt feindlich gesinnt, der Welt verschlossen. Kurz: arbeitende Spiessbürger und verblödete Arbeitslose.
Die nötige Mobilisierung gegen den FN, jene politische Kraft, welche das schlimmste für die demokratischen Rechte, die Lohnabhängigen, die Frauen, die LGBTI und die Ausländer*innen befürchten lässt, darf von diesen klassenspezifischen Faktoren nicht absehen. Deshalb ist dieser zweite Wahlgang mit einem Kandidaten, Macron, der eine wirkliche Klassenpolitik verkörpert, eine Katastrophe.

Eine Stimme für Macron ist weder das Problem noch die Lösung

Deshalb rufe ich, wie viele andere auch, nicht zur Wahl von Macron auf. Und dies auf keinen Fall, weil wir ein Gleichheitszeichen zwischen Macron und Le Pen, zwischen bürgerlicher Demokratie und Faschismus sehen. In diesem Sinne bin ich komplett einverstanden mit der Erklärung von Philippe Poutou am Abend des ersten Wahlgangs. Darin wird der FN klar als tödlicher Gegner bezeichnet und jene, die für Macron wählen, werden keineswegs verunglimpft.
Aber angesichts dieser Klassenpolarisierung scheint es mir undenkbar, in den Chor jener einzustimmen, die uns nicht nur seit Jahrzehnten zermalmen, sondern auch mit Stolz ankündigen, dies weiterhin zu tun. Das Resultat des ersten Wahlganges und die Polarisierung, die sich abzeichnet, sind die Folge eines Verschwimmens von Bezugspunkten der unterschiedlichen Klassen. Deshalb sollten wir es vermeiden, diese noch zusätzlich zu verzerren, indem wir Macron wählen.
Entgegen der Behauptung einiger Leute bedeutet dies nicht, passiv zu bleiben und die „anderen wählen zu lassen“. Darum zu kämpfen, dass Le Pen so wenig Stimmen wie möglich erhält, beschränkt sich nicht darauf, Macron zu wählen. Das heisst nicht nur, ihren relativen Wähleranteil zu verringern, sondern auch die absolute Zahl ihrer Wähler zu reduzieren, indem sie davon abgebracht werden, für sie zu stimmen. Dies steckt hinter dem Slogan „keine Stimme für le Pen“, welcher unter anderem in den Erklärungen der FSU und der CGT [zwei Gewerkschaften, a.d.R.] zu finden ist.

Dem FN nicht nur Einhalt gebieten, sondern ihn zurückdrängen

Denn es ist möglich, die Unterstützung für Le Pen zu verringern. Haben wir die Wirkung der Präsidentschaftsdebatte vom 4. April bereits vergessen, bei der Philippe Poutou Le Pen angegriffen hatte und letztgenannte ziemlich machtlos erschien gegenüber einem Arbeiter, der erklärte, dass sie Teil des Systems ist? Es war ein frontaler Angriff, bei dem sie stumm blieb. Wie die Führer des FN selbst zugegeben haben, schädigte dies dem Bild einer „Kandidatin des Volks“ und kostete Le Pen Stimmen.
Heute Morgen wurde Le Pen auf dem Markt von Rungis von Händler*innen ausgebuht und es wurde unter anderem „Poutou! Poutou!“ gerufen. Und man kann ziemlich sicher sein, dass diese Händer*innen nicht Poutou gewählt haben… Das heisst selbstverständlich nicht, dass sich alles auf einige Minuten Fernsehen beschränkt. Allerdings bedeutet es, dass es kein unabwendbares Schicksal ist, dass die Ausgeschlossenen der Globalisierung Le Pen wählen. Aber wir können sie nicht davon überzeugen, Macron zu wählen, den selbsternannten Kandidaten jener Kräfte, die ihre Exklusion verursacht haben.
Natürlich sollten auch nicht Aussagen wie „man muss die Sorgen der Wähler*innen des FN ernst nehmen“ gemacht werden. Wir wissen, wo das endet: Man beginnt damit, zu sagen, dass der FN gute Fragen stellt, aber die falschen Antworten liefert; dann sagt man, dass der FN gute Fragen stellt, aber dass nicht alle Antworten gut sind und zum Schluss sagt man, dass der FN gute Fragen stellt und gute Antworten liefert, allerdings nicht in der Lage ist, diese richtig umzusetzen.
Das bedeutet: keine Zugeständnisse im Bereich Antirassismus, Internationalismus, Frauen- und LGBTI-Rechte, Demokratie, öffentliche Freiheiten usw. Aber auch verstehen, dass dies nicht ausreicht. Denn es geht auch darum, den FN dort anzugreifen, wo er sich am wohlsten fühlt: sein Bild als Partei ausserhalb des Systems, im Dienste der Kleinen und Ausgeschlossenen. Tun wir dies nicht, vergessen wir die Klassenproblematik. Dort, wo er gewählt wurde, hat der FN alle Subventionen für Schulmensen gestrichen. Dort, wo er gewählt wurde, hat der FN die Bildungsbudgets reduziert und den 13. Monatslohn der Gemeindeangestellten gestrichen. Im Europaparlament stimmte der FN für die Richtlinie für mehr Geheimnisschutz, die es den Konzernen ermöglicht, noch mehr zu schummeln, zu betrügen und Whistleblower zu verfolgen.
Der FN bestiehlt die Staatskassen, veruntreut Gelder und schützt sich hinter den Gesetzen des „Systems“, das er zu bekämpfen vorgibt. Der FN wird durch eine reiche Erbin geführt, die ihren Lebensunterhalt durch Politik verdient und von Leuten umgeben ist, welche Arbeiter*innen, Lohnabhängige und Arme verabscheut. Dies zeigte sich nach der Debatte am 4. April, als Philippe Poutou wegen seiner Kleidung, seiner Art zu sprechen und seinem Engagement als Gewerkschaftler bei Ford beschimpft wurde.

 Die Katastrophe wird nicht kommen: sie ist bereits eingetroffen

All dies wird natürlich nicht von den Anhänger*innen der neoliberalen Globalisierung gesagt, seien es die SP, Macron oder die Républicains. Denn sie machen dasselbe. Unser Problem ist nicht, uns in Bezug auf Macron zu streiten. Was mich betrifft, werde ich keine Kampagne gegen die Stimmabgabe für Macron führen. Auch werde ich nicht versuchen, die Leute davon abzuhalten, für ihn zu stimmen und oder in ihnen irgendeine Schuld zu erwecken, wenn sie dies zu tun gedenken. Dreht die Diskussion einzig um die Stimmabgabe für Macron, erreichen sie, was sie wollten, denn es verschwinden die politischen Fragen sowie jegliche Perspektive über den 7. Mai hinaus. Doch genau darum geht es. Gegen den FN muss eine soziale Front aufgebaut werden, die in Bezug auf Antirassismus, Internationalismus, Feminismus und Demokratie genauso unnachgiebig ist, wie in Bezug auf Fragen der sozialen Gerechtigkeit, der Verteilung des Reichtums, der Demokratisierung, des Kampfs gegen die Kommodifizierung der Welt und der kapitalistischen Aneignung. Der erste Termin ist am 1. Mai. Und es gibt noch viele andere zu organisieren.
Es ist an uns, gemeinsam eine Kampagne gegen den tödlichen Gegner, den FN, zu führen; an uns, eine antirassistische, internationalistische, feministische und demokratische Kampagne gegen die ultra-reaktionäre Politik von Le Pen und ihrer Partei zu führen. Aber eine solche Kampagne ist nur in der Lage, den FN zurückzudrängen, wenn sie ebenfalls ohne zu zögern, die Klassenfrage integriert. Ob man Macron wählt oder nicht, man muss die Politik bemängeln, welche den Aufstieg des FN ermöglicht hat, Macron eingeschlossen.
Das schlimmste ist nie gewiss, aber ein zweiter Wahlgang zwischen dem Kandidaten der Banken und der Kandidatin der Rechtsextremen ist nicht die Ankündigung einer Katastrophe. Die Katastrophe ist bereits eingetroffen. Es geht hier nicht um eine schulmeisterliche Lektion: Es ist weder die Zeit für Moralpredigten noch für halbe Lösungsansätze. Es ist Zeit für ein kollektives, langfristiges und radikales Engagement.
*Julien Salingue ist Politikwissenschaftler und Mitglied der Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA).

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