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Rojava: Eine echte Revolution steckt voller Widersprüche

In Oktober 2016 reiste Peter Loo nach Rojava, um als Englischlehrer Freiwilligenarbeit zu leisten und sich am Selbstverwaltungsprojekt dort zu beteiligen. Momentan arbeitet er an der SYPG-Kampagne in Qamischli mit. Ferner hatte er die Möglichkeit, mit verschiedenen Menschen vor Ort über die Lage in Rojava und der allgemeinen Situation Syriens zu sprechen. Das Interview wurde Ende Dezember 2016 geführt. (Red.)

Interview mit Peter Loo*, Rojava Solidarity Cluster.

Kannst du uns eine kurze Einführung in die Geschichte der Revolution in Rojava geben?
Peter: Die Ursprünge der Revolution in Rojava werden von vielen ignoriert, obwohl sie eigentlich wichtig für das Verständnis der Dynamik der ganzen Revolution sind. Die Partei der Demokratischen Union (PYD), welche eine Vorreiterrolle in der Revolution spielte, war bereits ab 2003 im Norden Syriens aktiv. Vor ihnen nutzte die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), mit welcher die PYD eng verbunden ist, das Gebiet bis 1998 als Basis für ihre Aktionen im kurdischen Teil der Türkei.
Die ersten grossen Proteste der syrischen Bevölkerung gegen Bashar al-Assad begannen 2011. Während in vielen syrischen Städten Hundertausende Menschen gegen das Regime demonstrierten, fokussierte sich die PYD im Verlauf desselben Jahres auf die Organisation der kurdischen Gemeinden, indem man lokale Selbstverwaltungsformen formte und bewaffnete Selbstverteidigungseinheiten (YPG), darunter auch Fraueneinheiten (YPJ), aufstellte. Dies bildete die soziale Basis für die Revolution in Rojava. Mitte Juli 2012, als sich die soziale Bewegung gegen Assad in einen Bürgerkrieg verwandelte, konnten YPG/YPJ verschiedene Gebiete im Norden des Landes unter ihre Kontrolle bringen. Verschiedene Länder – darunter die USA und Russland – griffen zu dieser Zeit bereits vermehrt in den syrischen Bürgerkrieg ein.
Die vorrangig von Kurden*innen bewohnten Gemeinden, welche unter Kontrolle der PYD standen, stellten sich mehrheitlich gegen das Assad-Regime. In Gemeinden ohne kurdische Mehrheit behielten Assads Einheiten eine gewisse Präsenz. Hier in Qamischli (Qamişlo) unterstützen ungefähr 20% das Regime von Assad, einige Regierungsgebäude blieben die ganze Zeit unter der Kontrolle von Assads Regierung. Juli 2012 markiert die Etablierung Rojavas als ernstzunehmende Kraft im syrischen Bürgerkrieg. Die einzelnen neu gegründeten Kantone, die fortan unter Kontrolle der PYD standen, deklarierten ihre Opposition gegen Assad, jedoch ohne klare Beteiligung an den offiziellen syrischen Rebellengruppen. Die Beziehung zwischen Rojava und der Freien Syrischen Armee (FSA – die militärische Kraft, die von den syrischen Rebellen gegründet wurde) war zeitweise konfliktuell, zeitweise eher kooperativ.
Die eher positive Darstellung der Revolution in Rojava als ein erfolgreicher Aufstand wird auch kritisch betrachtet, unter anderem in England von Robin Yassin-Kassab und Leila al-Shami, welche das Buch „Burning Country“ publiziert haben. Die beiden argumentieren, dass der Rückzug von Assads Truppen aus den kurdischen Gebieten mit der PYD abgesprochen war. Das Erstarken der kurdischen Kräfte wird als „fait accompli“ betrachtet. Demnach konnte die syrische Armee dadurch ihre Kräfte gegen die FSA bündeln. Ich habe diesbezüglich keine klaren Kenntnisse – vielleicht wird die Beziehung zwischen dem Regime und Rojava in den nächsten Monaten klarer. Dennoch scheint die Darstellung einer Zusammenarbeit der PYD mit dem Regime Assads nicht mit Berichten über militärische Verluste und andauernde Kampfhandlungen in den ersten Tagen der Machtübernahe durch die PYD übereinzustimmen. Das Gebiet von Rojava vergrösserte sich kontinuierlich – zwei von den drei Kantonen sind bereits direkt miteinander verbunden (Kobanê und Cizîrê). Versuche, diese Gebiete mit dem dritten Kanton Efrîn zu vereinen, dauern an. Ein politisches System basierend auf Dezentralisierung und der Konstruktion von lokalen Kommunen wurde errichtet.

Die Revolution begann demnach als eine von der PYD angeführte Bewegung, welche vorrangig von Kurd*innen unterstützt wurde?
Genau. Nach der ersten Phase des Aufstands – dem Regime von Assad die Kontrolle zu entziehen – folgte eine nächste Phase der politischen Konsolidierung und der Verwirklichung eines politischen Programms. Dieses Programm besitzt drei zentrale Punkte: (1) ein basisdemokratisches System, auch demokratischer Konföderalismus genannt, (2) eine Revolution der Frauen und (3) ein ökologisches Programm (einer der am wenigsten entwickelten Punkte). Nationale und internationale Unterstützung für dieses Programm ausserhalb der PYD und der kurdischen Gemeinde zu finden, ist ebenfalls ein erklärtes Ziel der Revolution.
Viele kleinere Parteien sind nun ein aktiver Teil der Revolution, und arbeiten unter der Dachorganisation TEV-DEM (Bewegung für eine demokratische Gesellschaft) zusammen. Jedoch bildet sich Widerstand gegen die Entwicklungen in Rojava. Unter dem Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak – Massoud Barzani – bildete sich eine Koalition von 16 Parteien (ENKS), welche die politischen Entwicklungen in Rojava nicht unterstützen. Barzani orientiert sich in seiner Politik eher an Staaten wie den Vereinigten Arabischen Emiraten und schliesst mit seinem Verbündeten, der Türkei, ein Embargo über Rojava nicht aus.
Ein wichtiges aktuelles Ziel der Revolution ist, die Unterstützung von allen Gemeinden in Rojava zu gewinnen. Diese Gemeinden mit teilweise arabischen, tschetschenischen oder armenische Bevölkerungsteilen beteiligen sich immer mehr am politischen Projekt und profitieren von dessen Realisierung in den verschiedenen Bereichen. Die Unterstützung für Rojava verändert sich von einer klaren politischen Motivation, wie zum Beispiel dem Wunsch nach einem freien Kurdistan oder der Identifikation mit den politischen Ideen von Abdullah Öcalan, zu einem weniger abstrakten Wunsch nach Frieden, Sicherheit und einer allgemeinen Versorgung der Bevölkerung. Die breite Unterstützung der YPG und der YPJ führte dabei zu einem militärischen Zusammenschluss mit den Demokratischen Kräften Syriens (SDF). Die Arbeit mit den zahlreichen arabischen Flüchtlingen, die vor dem Konflikt in Syrien fliehen und vom türkischen Staat an der Reise nach Europa gehindert werden, ist ein Teil der Solidaritätsarbeit für die Revolution in Rojava. Meine Arbeit mit dem TEV-DEM beschäftigt sich unter anderem mit dem Solidaritätsaufbau innerhalb der verschiedenen Gemeinden vor Ort. Die Syrische Gemeinde zum Beispiel ist gespalten zwischen Unterstützung des Regimes und der Revolution, wobei jede Seite ihre bewaffneten Einheiten besitzt. Wenn man sich in syrischen Wohnvierteln bewegt, wird diese Spaltung der Gesellschaft auch auf den Strassen sichtbar.

Lass uns nun über ein heikles Thema sprechen: die Beziehung zwischen dem Regime und der PYD. Wie siehst du das?
Wie ich bereits gesagt habe, konnte die Revolution das Regime nicht überall vertreiben. Hier in Qamishlo ist das Regime nach wie vor präsent. Auch als Aleppo vor kurzem wieder eingenommen wurde, gab es grosse Siegesfeiern von Assad-Anhängern und das Regime bezahlt nach wie vor die Löhne einiger Beamt*innen, z. B. der Lehrer*innen. Manchmal kommt es in den Städten, in denen das Regime noch präsent ist, wie beispielsweise in Qamishlo oder Hasseke, deswegen auch zu Konflikten.
Wie bereits erwähnt, hat sich diese Revolution hier als eine von den breiteren und sehr diversen Aufstandsbewegungen gegen Assad als unabhängige Kraft konstituiert. Sie hat auf die Unterstützung internationaler sozialer Bewegungen, progressiver politischer Parteien und auch, was sehr kontrovers diskutiert wird, auf die Unterstützung mächtiger Staaten wie der USA und (zeitweise) Russland gebaut. Diese haben zu einem gewissen Teil verhindert, dass Assad oder, was im Moment wahrscheinlicher scheint, der Türkische Staat, die Revolution in Rojava vollkommen niederschlagen konnten, aber die Situation ist nach wie vor heikel. Es bleibt bis heute noch unklar, wie sich das Regime gegenüber Rojava (und umgekehrt) ausrichten wird. Im Moment hat keine der Parteien die militärische Kraft, um die andere Seite problemlos zu besiegen. Mit dem Sieg über die Rebellen und in der Folge der sicheren Wiederbesetzung von Aleppo, könnte sich das aber schnell ändern. Die YPG und die YPJ des grossen kurdischen Viertels Sheiq Masqsoud in Aleppo, welche die Stadt gegen Angriffe von Rebellen verteidigt haben (und damit in gewisser Hinsicht auch Assads Truppen unterstützten), haben sich nun aus der Stadt zurückgezogen, sodass nur noch die bewaffneten Polizeieinheiten (Asaiysh) in den Quartieren verbleiben.
Diese „Beziehung“ zum Regime wurde vielfach kritisiert. Zu Beginn der Freiheitskämpfe in Syrien schien eine breite Allianz zwischen Kurd*innen und Araber*innen möglich, sie scheiterte jedoch aus verschiedenen Gründen. Unter anderem herrscht ein latenter arabischer Chauvinismus, ein Nebenprodukt der jahrzehntelangen Kolonialherrschaft des Regimes in Rojava, der dazu führte, dass sowohl das Regime wie auch die Rebellen einer kurdischen Autonomie mit Widerwillen begegneten. Der Aufstieg von islamistischen Kräften auf Seiten der Rebellen hat ebenfalls eine breite Koalition zwischen der Revolution in Rojava und den Rebellen verhindert. Es wurden Bündnisse mit regionalen Kräften, beispielsweise der SDF, eingegangen, aber eine breite Allianz mit den grösseren Fraktionen auf Rebellenseite konnte nicht erreicht werden. Dieses verpasste Bündnis, wenn es denn überhaupt möglich gewesen wäre, hat den Lauf des Konflikts wahrscheinlich erheblich beeinflusst.

Wir haben eine rasche Ausdehnung der Rojava-Kantone gesehen, besonders in Gebieten mit einer mehrheitlich arabischen Bevölkerung. Kannst du uns von deinen Erfahrungen bezüglich der verschiedenen ethnischen Gruppen berichten? Wie haben sie die Revolution aufgenommen und wie werden sie miteinbezogen?
Im Jahr 2015 sind die von den Kantonen kontrollierten Gebiete aufgrund einer Offensive gegen den Islamischen Staat (IS) massiv angewachsen. Es ist unbestreitbar, dass ein Grund dafür der Wunsch nach einem kontinuierlichen, verbundenen Gebiet von Kantonen ist. Diese Offensiven von hauptsächlich kurdischen Einheiten in ein vornehmlich arabisches Gebiet haben zu einigen Problemen geführt. Ich hatte die Möglichkeit, im Dezember die Front bei Salouk zu besuchen. Als die Raqqa-Offensive die Frontlinie weiter nach Vorne verschob, konnten die Menschen zurück in ihre Dörfer gehen. Im Grossen und Ganzen schienen die Dorfbewohner*innen, die ich traf, die SDF zu unterstützen. Dennoch unterstützen nicht alle die Ereignisse – viele waren oder sind immer noch Unterstützer*innen des IS. Wir besuchten einen Tabur (militärische Einheit), der im Frühjahr Opfer eines Selbstmordattentates geworden war; der Attentäter war ein regelmässiger Besucher aus dem Dorf nebenan.
Weil sich das Einflussgebiet der PYD ständig ausgedehnt hat, wurden einige Veränderungen vorgenommen, um die wachsende Anzahl nicht-kurdischer Beteiligter aufzunehmen. Ich habe bereits die SDF erwähnt, ein multi-ethnisches Militärbündnis, welches einen positiven Schritt für die Revolution darstellt. Der aktuelle offizielle Name der Region, Demokratische Konföderation Nordsyriens, ist Anzeichen des multi-ethnischen Projekts, das die Revolution aufzubauen versucht. Wir haben einen Co-Vorsitzenden der Konföderation sprechen gehört, Mansur Salem, ein arabischer Syrer, und er hat betont, dass die wichtigste politische Herausforderung für die Revolution der Aufbau dieser multi-ethnischen Unterstützung ist.

Oft wird der Aspekt der Frauenbefreiung stark betont und darauf hingewiesen, dass die traditionellen Geschlechterrollen überwunden werden müssen. Wie stark beeinflussen diese Forderungen den Alltag in Rojava und sind sie tatsächlich ein so fundamentaler Teil der Bewegung?
Ein typischer Kritikpunkt der europäischen Linken an Rojava ist zu behaupten, dass sich die Frauenrevolution nur gerade auf die Frauen in der YPJ beschränke. Wenn dem so wäre, dann könnte man keinesfalls behaupten, in Rojava gebe es eine Frauenrevolution. Immerhin besteht auch in Israel die Wehrpflicht für Frauen und Muammar Gaddafi war berühmt für seine weiblichen Bodyguards. In der Geschichte gibt es zahlreiche Beispiele von Frauen, die bedeutende Rollen in sozialen Kämpfen oder in militärischen Konflikten spielten, nur um am Ende des bewaffneten Konflikts wieder in ihre unterwürfige gesellschaftliche Position zurückzukehren. Aber dies ist nicht der Punkt, an welchem die Frauenrevolution in Rojava endet. Weder stoppt sie bei der 40 Prozent-Quote von Frauen in allen Komitees, noch bei der gleichberechtigten Redezeit (womit sie den meisten westlichen Ländern bereits einen Schritt voraus ist). All diese bereits sichtbaren Ergebnisse werden von einer langfristigen, beharrlichen Weiterentwicklung der Frauenbewegung begleitet: Politische Bildung für Frauen soll dafür sorgen, dass sie ihre Fähigkeiten entwickeln können und dass ihr Selbstvertrauen als zukünftige Organisator*innen gestärkt wird. Mit Formen von (Um-)Erziehung und Interventionen wird gegen häusliche und sexuelle Gewalt von Männern vorgegangen und es gibt aktive Frauenkomitees auf allen Stufen des föderalen Systems. Der Kongreya Star (Starkongress) leistet unermüdliche Arbeit und ist Ausdruck der organisierten Frauenbewegung hier in Rojava.
Aber einmal mehr ist dies kein problemloser Prozess. Die emanzipatorischen Versuche treffen auf eine unglaublich konservative Gesellschaft, in welcher Gewalt gegen Frauen, Ehrenmorde, Zwangsheirat, Lohnungleichheit zwischen den Geschlechtern so wie weitere alltägliche Merkmale des Patriarchats vor der Revolution sehr gebräuchlich waren. Die Bewegung arbeitet hart und versucht, direkt handlungsfähig zu sein bei konkreten Problemen, will aber auch einen längerfristigen, effektiveren Ansatz vorantreiben.
Wie bei allem hier bestehen grosse Ähnlichkeit mit westlichen Bewegungen, aber es gibt auch viele Unterschiede. Das politische Unterfangen der Frauenbewegung hier wird kollektiv als Jineologie bezeichnet, was so viel wie die Wissenschaft der Frauen bedeutet. Öcalan ist – wenig überraschend – eine Hauptfigur der jineologischen Theorie und hat eine umfassende Argumentation über die historischen Wurzeln des Patriarchats vorgelegt. Der Kapitalismus wird als von Natur aus patriarchal angesehen und Öcalan, der einmal mehr die Schlüsselfigur der Bewegung ist, argumentiert, dass „die Notwendigkeit, die Rolle des Mannes zu verändern, von revolutionärer Wichtigkeit ist.“
Einige Teile der Theorie werden jedoch etwas problematisch sein für einige Feminist*innen im Westen. Zum Beispiel scheint der jineologische Ansatz in Bezug auf das Geschlecht essentialistisch zu sein, da er den Geschlechtern bestimmte Charakteristika zuweist. Queer-Feminist*innen werden diese Herangehensweise wohl schwierig finden. Die Geschlechterpolitik wird ebenfalls ziemlich anders als im Westen gehandhabt, da sexuelle Kontakte zwischen hohen Parteimitgliedern verboten sind und in den übrigen Teilen der Gesellschaft die voreheliche Enthaltsamkeit immer noch verankert ist. In vielen Interviews, die Queer-Sexualität thematisieren, lautet die übliche Antwort in etwa: „Wir haben in Rojava noch nie eine homosexuelle Person getroffen“. Dennoch ist dies hoffentlich etwas, was in Zukunft angegangen wird und ich habe sogar schon Berichte von öffentlichen Vorträgen über LGBT-Politik in einigen Gebieten gehört.

 Könnte man nicht über die gesamte apoistische Bewegungen sagen, dass sie mit den Positionen der westlichen Linken teilweise divergiert?
Ja, definitiv. Viele Debatten über die PKK drehen sich im Kreis, da sie beispielsiwese auf der Frage aufbauen, ob die PKK nun eine anarchistische Organisation geworden ist oder nicht und somit versäumen, die Bewegung an sich zu analysieren. Die PKK ist heute genau so wenig einfach eine anarchistische Bewegung, wie sie in der Vergangenheit eine geradlinig marxistisch-leninistische Organisation war. Die PKK und ihre nahestehenden Organisationen definieren sich selbst als „apoistisch“ – eine Bewegung um Abdullah Öcalan und seine ziemlich eklektischen Arbeiten. Die Bewegungen, die sich auf seine politische Vision stützen, sind widersprüchlich, insbesondere seit der Entwicklung des „neuen Paradigmas“ seit Öcalans Inhaftierung im Jahre 1999. Das seither entwickelte Paradigma veränderte viele Teile der politischen Visionen der PKK. Obwohl die PKK sich jetzt formell von der Idee eines unabhängigen kurdischen Staates distanziert hat und an dessen Stelle ein neues Modell des demokratischen Konföderalismus vertritt, ist die Organisation immer noch sehr hierarchisch aufgebaut, mit strikter Disziplin für Kadermitglieder und einem Personenkult rundum Öcalan selbst. Ihre Auffassung einer Revolution ist kein Abbild der klassischen revolutionären Bewegungen, sondern lässt sich folgendermassen beschreiben:
„Weder die anarchistische Idee der sofortigen Zerschlagung des ganzen Staates noch die kommunistische Idee der sofortigen Übernahme des gesamten Staates. Mit der Zeit werden wir zu jedem Teil des Staates eine Alternative entwickeln, die von den Menschen ausgehen wird und wenn diese Alternativen erfolgreich sind, werden die verschiedenen Teile des Staates sich nach und nach auflösen.“
Bedeutsam ist, dass die Kapitalismuskritik, in der eigenen Terminologie als kapitalistische Moderne bezeichnet, sehr undurchsichtig bleibt und sicherlich nicht so fundamental ist, wie diejenige der marxistischen Tradition. Während die apoistische Bewegung mit sehr vielen Werten der sozialistischen und anarchistischen Traditionen übereinstimmt, ist sie dennoch etwas Anderes und Eigenenständiges.
Besonders schwierig aus der Perspektive hier ist, dass die apoistische Bewegung die Grenzen seiner politischen Parteien überschritten hat und sich zu einer sozialen Massenbewegung entwickelt hat, mit Elementen der Selbstorganisation über die Partei hinaus. Meiner Meinung nach sollte die revolutionäre Linke eher die PYD und die apoistische Bewegung im Mittleren Osten unterstützen als (vermeintlich) unorganisierte oder isolierte Gruppen, von denen nicht ganz klar ist, in welcher Perspektive sie sich bewegen. Denn die apoistische Bewegung ist eine sehr grosse, möglicherweise die grösste progressive Kraft im Mittleren Osten und ein Grossteil ihrer Ansichten stehen im Einklang mit unseren. Durch echte Solidaritätsarbeit, welche auch über das Artikelschreiben hinaus geht (was gar nicht so einfach ist), kann es gelingen, eine Plattform zu errichten, die als Basis für inhaltliche Diskussionen mit diesen Bewegungen dient. Es gibt Teile der apoistischen Vision, die ich kritisch sehe und die ich gerne mit ihnen diskutieren würde (z.B. ihre spezifische Definition und Kritik am Kapitalismus), aber so ein Dialog wird nur dann zustande kommen, wenn auch die Solidaritätsbewegung erfolgreiche Arbeit leistet.

 Zurück zu den Kommunen, wie wichtig sind diese?
Auf der lokalen Ebene werden dort kleinere Probleme gelöst, grössere Probleme hervorgehoben und die Ideen der Revolution verbreitet. Die niedrigeren Ebenen dienen sowohl als Zentren zur Mobilisierung von Menschen für die Selbstverteidigung oder für Demonstrationen und Kundgebungen als auch als Organisatoren der lokalen Treffen und Komitees. Wenn wir an politischen Veranstaltungen teilnehmen, fahren wir meist zusammen in grossen Buskonvois von der Mala Gel (soziales Zentrum) unseres Viertels los und wenn wir selbst Veranstaltungen organisieren, sind die lokalen Kommunen wichtige Quellen der Vernetzung. Ich habe noch nicht genug von diesem sehr komplexen System gesehen, um zu beurteilen, inwiefern die Ideen von der Basis dieses Systems über die verschiedenen gewählten Delegierten und thematischen Komitees zu den höheren Ebenen des föderalen Systems gelangen.
Es ist lustig, ich habe einen europäischen Marxisten-Leninist*innen getroffen, der davon überzeugt war, dass die Anarchisten die gesamte Revolution falsch verstanden hätten und dass die Rolle der Kommunen hier eine sehr bescheidene Rolle spielen. Für ihn war die Revolution von der PYD und der YPG/YPG dominiert. Als wir dann gemeinsam eine der internationalen marxistisch-leninistischen Parteien hier trafen, die sehr in den Komunen aktiv ist und diese mitaufbaut, änderte er seine Haltung ziemlich schnell.
Vielleicht sind einige westliche Linke ein bisschen zu optimistisch, was die Rolle der Komunen angeht. Dennoch gibt es sie und das Rätesystem wird kontinuierlich aufgebaut. Wir sollten unsere Wünsche aber nicht mit der Realität verwechseln.

 Viele fragen sich natürlich, was für ein ökonomisches System hier aufgebaut wird…
Die Region in Nordsyrien ist aus historischen Gründen stark unterentwickelt und wurde vom syrischen Regime als eine Art Kolonie gebraucht. Arabische Siedler*innen wurden dazu ermutigt, sich in der Region niederzulassen, der Abbau der Ölvorkommen sowie die Landwirtschaft wurde zentral vom Regime verwaltet.
Der heutigie Kanton Efrin hatte früher zahlreiche Wälder, diese wurden durch Olivenbaumplantagen ersetzt, auch die Getreideproduktion wurde vom Regime intensiviert. Seit der Revolution versuchen die Leute hier, die landwirtschaftliche Produktion nach ökonomischen und ökologischen Kriterien zu diversifizieren.
Die Revolution konnte sich also nicht auf ein starkes ökonomisches Fundament stützen. Die wenigen grossen Produktionsstätten wurden sozialisiert. Dabei handelt es sich um eine Zementfabrik und eine Ölbohranlage bei Tishrin Dam. In Kamishli gibt es rund 60 Fariken mit maximal 20 Angestellten. Einige davon sind private Initiativen, einige Kooperativen. Handel und Transport sind wenig entwickelt. Als das Regime vertrieben wurde, blieben wenige Strukturen der Versorgung wie grosse Supermarktketten da, die hätten sozialisiert werden können. Das kleine Bahnnetz beispielsweise ist gar nicht mehr in Betrieb, der Flughafen der Stadt wird vom Assad-Regime kontrolliert.
Heute können wir sagen, dass in Rojava drei paralelle Wirtschaftsformen exisitieren: eine Kriegswirtschaft, eine privat organisierte Wirtschaft und eine soziale, auf Kooperativen gestützte Wirtschaft, welche die Versorgung der Bevölkerung mit alltäglichen Gütern wie Brot oder Öl sicherstellt. Es ist offensichtlich, dass, sobald das Embargo aufgehoben wird und privates Geld ins Land kommt, die Gefahr besteht, dass die kooperative Wirtschaft vollständig an den Rand gedrängt wird.

Was ist deiner Meinung nach das bisher wichtigste Ergebnis der Revolution?
Für die Menschen aus der Region bedeutet die Revolution, dass sie nicht länger vom Assad-Regime oder vom IS unterdrückt werden. Auch bezüglich der Frauenbefreiung und der direkten Demokratie wurden grosse Fortschritte erzielt. International gesehen hat die Revolution auch die sozialen und politischen Kämpfe in der Türkei beflügelt. Obwohl wir vorsichtig sein sollten, gibt es viele Dinge, die wir von dieser Revolution lernen können. Vor allem erinnert uns Rojava daran, dass Revolutionen immer möglich sind, wenn Revolutionär*innen sich organisieren, sich einer Sache wirklich ernsthaft hingeben und auch bereit sind, ihr Leben zu riskieren.
 Was möchtest du zum Schluss noch sagen?
Die Revolution hier führt nicht zur perfekten Fantasie, die einige im Westen haben. Sie war keine spontane Erhebung der Mehrheit der Bevölkerung, und die Revolution hat bisher weder den Staat noch den Kapitalismus abgeschafft. Viele Probleme sind noch zu lösen. Obwohl wir hier nicht von Kommunismus sprechen können, sollten wir diese Revolution aber achten und unterstützen. Wie alle Revolutionen ist auch diese nicht vollständig auf die Welt gekommen, sondern muss langsam und mühsam gegen allerlei Hindernisse aufgebaut werden.
Im Gegensatz zu anderen Revolutionen ist der Prozess in Rojava schwierig zu definieren. Labels wie „anarchistisch“ oder „Revolution ohne Staat“ verdecken mehr, als sie erklären. Was wir heute sicher sagen können: Das Leben in Rojava ist besser für mehr Leute als in den meisten anderen Orten im Mittleren Osten.
Für diejenigen Revolutionär*innen, die Angst davor haben, wirklich Macht inne zu haben, anstatt immer nur Widerstand zu leisten, möchte ich gerne Murray Bookchin zitieren: „Anarchist*innen verlangen die Abschaffung des Staates, aber gewisse Zwangsmittel werden notwendig sein, um den bürgerlichen Staat davon abzuhalten, zurückzukehren. Wenn sich die Gelegenheit für eine libertäre Organisation ergibt, mit Unterstützung der Massen die Macht zu übernehmen, sie dies aber aus Angst davor, einen Staat zu erschaffen, nicht tut, ist dies ein Zeichen der Verwirrtheit und kann in einer völligen Niederlage münden.“
Eine richtige Revolution beinhaltet eine riesige Menge an Widersprüchen, durch die wir uns durchkämpfen müssen. Die Revolution in Rojava ist weiterhin auf unsere Solidarität angewiesen, umso mehr, weil die türkische Regierung ihre konterrevolutionäre Rolle nicht nur innerhalb der Türkei selbst, sondern auch im Irak und in Syrien intensiviert. Wir brauchen in allen Ländern effiziente Solidaritätsstrukturen, die sich auch international koordinieren. Es mag sich wie ein Klischee anhören, aber wir sollten nicht vergessen: Solidarität ist kein Wort, sondern eine Waffe.

Übersetzung BFS Basel
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* Peter Loo ist Mitglied der britischen Organisation Plan C (www.weareplanc.org) und aktiv im Rojava Solidarity Cluster. Vor Ort ist er in der SYKG (Organisation für die Union und Unterstützung der Völker) aktiv. Die SYKG ruft Geflüchtete dazu auf, zurückzukehren oder erst gar nicht zu flüchten, sondern sich am Aufbau einer neuen Gesellschaft zu beteiligen. Das hier abgedruckte Interview wurde gekürzt. Die englische und vollständige Version findet sich auf http://novaramedia.com.

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