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Altersvorsorge und Geschlecht

Nicht nur im Arbeitsleben werden Frauen schlechter entlöhnt, auch im Alter leiden sie unter materieller und struktureller Ungleichheit. Die Höhe der Altersvorsorge weist einen erheblichen Unterschied zwischen den Geschlechtern auf. Dahinter stehen patriarchale Familien- und Gesellschaftsstrukturen sowie die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Dagegen helfen eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung und ein kämpferischer Feminismus.

von Jonas Röösli (BFS Zürich)

Geschlechtliche Ungleichheit in der Altersvorsorge

Die geschlechtsspezifische Dimension der Altersvorsorge erscheint uns zu allererst in Form der Ungleichheit der Vor­sorgeleistungen zwischen den Geschlechtern. Basierend auf der zwischen 2002 und 2012 pensionierten Generation in der Schweiz zeichnet sich folgendes Bild: Die durchschnittliche Altersrente von Frauen beträgt nur 63 Prozent der Altersrenten von Männern, ist also um 37 Prozent tiefer.[1]
Um dieser Differenz auf den Grund zu gehen, muss sie nach den verschiedenen Quellen aufgeschlüsselt werden. Die Schwei­zer Altersvorsorge ist zusammen mit der Versicherung für Hinterbliebene und gegen Invalidität in drei Säulen organi­siert. Die erste Säule, die staatliche Vorsorge (die AHV und Ergänzungsleistungen), soll den Existenzbedarf decken; die zweite Säule, die berufliche Vorsorge (vor allem die Pensionskassen) soll die Weiterführung des Lebensstandards er­möglichen; die dritte Säule, die individuelle oder private Vorsorge, steht ergänzend zu den ersten beiden Säulen.

In der ersten Säule beträgt die Differenz der Renten nach Geschlecht nur etwa drei Prozent, während sie in der zwei­ten Säule 63 Prozent und der dritten 54 Prozent beträgt. Der Anteil der AHV an der gesamten Rente macht bei Frauen fast 80 Prozent aus, bei Männern dagegen nur knapp 60 Prozent. Das heisst, dass der Grossteil der Renten von Frau­en nur den Existenzbedarf decken. Nur etwas über die Hälf­te der Frauen bezieht eine Rente aus der beruflichen Vorsor­ge, während es bei den Männern über drei Viertel sind. Bei der dritten Säule zeichnet sich ein ähnliches Bild: Insgesamt verfügen nur ein Viertel aller Menschen über eine private Vorsorge. Der Anteil der Männer mit privater Vorsorge ist aber fast doppelt so hoch wie derjenige der Frauen (26 bzw. 14 Prozent). Zudem hat die familiäre Situation der Frauen einen starken Einfluss auf die Höhe der Renten: bei Verheirateten und Personen mit Kindern liegt die Differenz der Leistungshöhe zwischen Frauen und Männern über dem Durchschnitt.[2]/[3]

Entsprechend hat das Armutsrisiko im Alter eine stark geschlechtsspezifische Dimension. Die Armutsquote von Frauen über 65 beträgt etwa 20 Prozent, während es bei den Männern 12 Prozent sind. Auch ist für etwa 37 Prozent der Rentnerinnen die AHV die einzige Einkommensquelle (ge­genüber etwa 18 Prozent bei Männern) und sie sind wesent­lich öfters auf Ergänzungsleistungen angewiesen.[4]

Um diese Erscheinungen erklären zu können, wollen wir die Altersvorsorge gesellschaftlich situieren und die Entwick­lung der sozio­ökonomischen Situation der Frauen in der Schweiz im Zusammenhang mit der von ihnen geleisteten produktiven und reproduktiven Arbeit betrachten.

Altersvorsorge und Klassenkampf

Die Altersvorsorge ist Teil des gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozesses. Sie entstand infolge der Trennung von Arbeit und Wohnen und der damit zusammenhängen­den Auflösung der Grossfamilie im Zuge der Industrialisie­rung. Zuvor hatte sich zumeist die Familie um diejenigen An­gehörigen gekümmert, die nicht mehr in der Lage waren zu arbeiten. Erst mit der Entstehung einer zuerst zahlenmässig, dann auch politisch starken Arbeiter*innenklasse im 19. Jahr­hundert kam die Frage und Forderung nach einer universellen Vorsorge auf. Die Notwendigkeit eines Altersvorsorgesystems ist nach der Ökonomin Serap Saritas Oran unter anderem ein Resultat «der Ausbreitung des Kapitalismus, der die Familie und Eigentumsverhältnisse zerstörte, den älteren Menschen erlaubte zu überleben [und] dem Kampf der Arbeiter*innen­klasse für einen höheren Lebensstandard, inklusive Sicherheit im Alter.»[5]

In ihrer modernen Form ist die Vorsorge Teil der Kosten der Arbeitskraft. Am deutlichsten erscheint dies in Form der Lohnabzüge für die staatliche und berufliche Vorsorge. «Der Wert der Arbeitskraft entspricht nicht einfach der Summe, die für die Reproduktion der Muskeln und Nerven einer individu­ ellen Arbeiter*in notwendig ist. Vielmehr hängt der Wert vom sozialen Reproduktionsprozess ab, dessen Wert durch das Ver­hältnis zur kapitalistischen Klasse, dem Staat und der Familie bestimmt wird.»[6] Dieses Verhältnis beinhaltet auch die Lebens­qualität im Alter und in diesem Sinne ist die Vorsorge Teil des Preises der Arbeitskraft, dessen Höhe das Kräfteverhältnis der Klassen widerspiegelt. Genau wie der Preis der Arbeitskraft Resultat von sozialen Auseinandersetzungen und schlussendlich dem Kräfteverhältnis zwischen den Klassen ist, hängt auch die Vorsorge als Teil dessen davon ab.

Entwicklung des Schweizer Altersvorsorgemodells

So war im Schweizer Landesstreik 1918 – neben der Be­schränkung der Wochenarbeitszeit und dem Frauenstimmrecht – die Einführung einer Alters-­ und Invalidenversicherung eine der Forderungen. Die AHV wurde allerdings erst 1948, also nach dem Zweiten Weltkrieg, eingeführt – nicht zuletzt auf­ grund einer Streikwelle, welche fast alle Branchen zwischen 1944 und 1948 erfasste. Die wirtschaftlich gute Konjunktur so­ wie der Druck, der aus der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West erwuchs, erlaubten es, die Vorsorge in den westli­chen Staaten ab den 1950er­-Jahren Schritt für Schritt auszu­bauen. Die damals entstandenen Vorsorgemodelle bauten stark auf der patriarchalen Ein­-Verdiener­-Familie auf. 1972 wurde in der Schweiz als Gegenvorschlag zur linken Volkspen­sionsinitiative das Drei­-Säulen­-Modell eingeführt. Dieses ver­lieh der beruflichen Vorsorge ein starkes Gewicht.

Aufgrund der neoliberalen Wende, der zunehmenden Schwäche der organisierten Arbeiter*innenbewegung ab den 1980er-­Jahren sowie den regelmässigen Wirtschafts­- und Fi­nanzkrisen nahm der Druck auf den Sozialstaat stetig zu. Im Zuge dessen wurde bis 2005 auch das ordentliche Rentenalter von Frauen von 62 auf 64 angehoben. Gerade die berufliche Vorsorge (2. Säule) ist seither von Leistungsreduktionen und Umstrukturierung geprägt, weil die Leistungshöhe des ange­sparten Alterskapitals immer stärker an die Bewegungen auf dem Finanzmarkt gekoppelt wurde.

Bürgerlich-patriarchale Kernfamilie als Problem

Im Zuge der Industrialisierung löste sich die bäuerliche Grossfamilie im 19. Jahrhundert zunehmend auf. Während Frauen der arbeitenden Klasse schon vor und während der In­dustrialisierung auf Erwerbsarbeit angewiesen waren, konnte sich nach dem 2. Weltkrieg die bürgerlich­patriarchale Kernfa­milie – mit dem Mann als Verdiener und der Frau als Hausfrau und Erzieherin – aufgrund der konjunkturellen Lage bis zu ei­nem gewissen Grad als typische Familienform etablieren. Wie aber alles Ständische und Stehende verdampft, ist auch diese Familienform in Auflösung begriffen.

Der Kampf der feministischen Bewegung gegen die Abhän­gigkeit vom Ehemann und gegen die «feminine mystique», die das Glück der Frau in ihrer Rolle als Hausfrau sieht, hat zusam­men mit der Expansion der Warenform in immer mehr Berei­che des Lebens dazu geführt, dass Frauen in zunehmendem Masse in den Arbeitsmarkt integriert werden. Da die unbezahl­te Haus­ und Sorgearbeit auch heute noch mehrheitlich von Frauen verrichtet wird, wird das Nachgehen einer Erwerbstä­tigkeit zu einer doppelten Belastung. Wegen mangelnder Ver­fügbarkeit von Betreuungsdienstleistungen sind es dann vor al­lem die Mütter, die nach der Geburt des Kindes ihre Stelle re­duzieren oder sich ganz aus der Arbeitswelt zurückziehen.

Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung als Ursache für die Ungleichheit

Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, also die Vertei­lung der gesellschaftlichen Arbeit in Produktion, Haushalt, Fa­milie und Öffentlichkeit nach Geschlecht, reproduziert sich aber auch in der Erwerbsarbeit selbst: Frauen arbeiten öfter in Niedriglohnsektoren mit geringen Aufstiegschancen, während Kapital und gutbezahlte Führungspositionen in Politik und Un­ternehmen zumeist in Männerhand sind. Da die Höhe der Al­tersvorsorge vor allem über kumulierte Lohnbeiträge bestimmt wird, zieht die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung auch Un­gleichheit in der Altersvorsorge nach sich.

Das Schweizer Vorsorgesystem baut stark auf der Arbeits­marktrealität der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und ins­besondere des Ein-­Verdiener-Haushaltes auf. Niedrigere Löhne und insbesondere bei Frauen noch stark verbreitete Teilzeitar­beit führen zu überproportionalen Einbussen in der Vorsorge­leistung. Dazu kommt, dass sich mehrere Arbeitsstellen gerade in der beruflichen Vorsorge schlecht zusammen versichern las­sen. Die Rentenhöhe bestimmt sich in der zweiten Säule über das Kapitaldeckungsverfahren, also aus einem mit Lohnprozen­ten angespartem Guthaben, das mit dem Umwandlungssatz multipliziert die jährliche Rente bestimmt. Durch den Koordi­nationsabzug, dem nicht versicherten Teil des Einkommens (2019: 24’885 Franken), werden in der zweiten Säule niedrige­re Löhne sowie Teilzeitstellen überproportional weniger versi­chert. Da Frauen tendenziell weniger verdienen und öfter Teil­zeit arbeiten, entsteht in der 2. Säule der grösste Teil des Rentenunterschieds. Hier trifft eine formale Gleichbehandlung auf eine strukturelle Ungleichheit und verstärkt diese dadurch.

Die staatliche Vorsorge (AHV) hingegen basiert auf dem Umlageverfahren. Dabei werden eingezahlte Beiträge unmittel­bar zur Finanzierung der Leistungsbezüger*innen aufgewendet. Dieses Verfahren bietet mehr Möglichkeiten für Anpassungen. So werden für die Höhe der Leistungen von Ehepaaren die Ein­kommen von Ehepaaren gesplittet, also aufgeteilt, und je zur Hälfte beiden angerechnet. Seit 2009 werden zudem Erzie­hungs­- und Betreuungsgutschriften einkalkuliert. Dadurch wird die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die unbezahlte Hausarbeit zu einem gewissen Grad berücksichtigt – entspre­chend tiefer ist der Rentenunterschied in der ersten Säule.

Am 19. Mai stimmen wir und er Schweiz über die Steuerreform und AHV-Finanzierung (STAF) ab. Weil diese unsozial und sexistisch ist, gilt es, sie abzulehnen!

Ansätze für eine wirklich soziale Altersvorsorge

Ansätze wie die oben erwähnten Betreuungsgutschriften lindern die Symptome. Eine nachhaltige Lösung sollte jedoch bei der Aufwertung und Neuverteilung der sozialen Reproduk­tionsarbeit ansetzten oder, was noch sinnvoller wäre, sie in den öffentlichen Dienst integrieren. Dies kann jedoch nicht einfach ein Ideal sein, wonach sich die Wirklichkeit zu richten hat, son­dern muss Gegenstand eines gesellschaftlichen Aushandlungs­prozesses sein. Inwiefern die geschlechtliche Arbeitsteilung re­produziert wird, hängt von sozialen Kämpfen ab.

Die Quelle der Vorsorge ist die gesellschaftliche Produktion. Es ist eine Frage der Stärke und Organisation der Arbeiter*in­nen, wie dieses Gesamtprodukt der Arbeit aufgeteilt wird – welcher Teil also Profit und welcher Arbeitslohn ist. Deshalb ist das Vorsorgeniveau der Frauen Teil eines gesamtgesellschaftli­chen Zusammenhangs und damit stark abhängig von Familien­modellen, Arbeitsbedingungen und dem Lohnniveau der Frauen. Es kann deshalb nicht isoliert betrachtet und als ein indivi­duelles Problem angegangen werden, sondern ist Teil der sozialen Auseinandersetzung zwischen den Lohnabhängigen und den Besitzenden. Um hier wirklich Fortschritte zu erzielen, braucht es kollektive Aktionsformen mit entsprechender politi­scher Organisation. Um das Kräfteverhältnis in Richtung der Lohnabhängigen zu verschieben und damit Voraussetzungen für eine soziale, nicht­diskriminierende Altersvorsorge zu schaf­fen, braucht es eine starke feministische Bewegung, die sich so­lidarisch und kämpferisch für die Bedürfnisse der arbeitenden Frauen einsetzt.


[1]Fluder, Salzgeber, Das Rentengefälle zwischen Frauen und Männern, erschienen in Soziale Sicherheit, 2016.

[2]ebd.

[3]Fluder, Salzgeber, von Gunten, Kessler, Fankhauser, Gender Pen- sion Gap in der Schweiz, Geschlechtsspezifische Unterschiede bei den Altersrenten, Schlussbericht, 2015.

[4]Guggisberg, Häni, Armut im Alter, Bundesamt für Statistik, 2014.

[5]Serap Saritas Oran, Pensions and Social Reproduction, in Social Reproduction Theory, 2017.

[6]ebd.

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1 Kommentar

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