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Am Rande vermerkt: Let‘s talk about sex, baby!

Wir sollten über Sex reden. Wirklich und mehr. Wir leben zwar in einer als aufgeklärt, fortschrittlich und eigentlich schon freizügig bezeichneten Zeit – dennoch sind wir so prüde, dass unsere Vorstellungen von Sex und Sexualität eher von Werbetafeln, PC-Bildschirmen und Reagenzgläsern inspiriert sind, denn aus der Erfahrung unserer eigenen Körperlichkeit. Wohl jede und jeder kennt diese gewisse Verlegenheit und peinliche Berührung sobald Sex zur Sprache kommt, oder kann dieselbe zumindest nachvollziehen. Nicht dass plötzlich nur noch Bett- und Sexgeschichten der persönlichsten Art am Mensatisch, an der Supermarktkasse oder beim Bier mit Freundinnen und Freunden mitgeteilt werden müssen – Intimes darf auch privat bleiben. Denn speziell beim Mitteilen des Intimen schwingt auch immer der Reiz mit, dem Ganzen diesen Flair des Abenteuerlichen und Aussergewöhnlichen zu geben, mit dem Erzähler, oder der Erzählerin im Zentrum, und das Ganze so zu stereotypisieren und entpersönlichen – Räubergeschichten eben.
Und doch ist das Private politisch, um mit der Parole der zweiten Frauenbewegung zu sprechen. Insofern, dass das Private nicht nur individuell, sondern auch intersubjektiv mentalitätsbildend und strukturell wirkt. Dass Sex und Sexismus noch immer tabuisiert werden, zeigt beispielsweise der Aufschrei #metoo. Frauen thematisierten über das Medium Internet sexistische Übergriffe, skandalisierten diese endlich, und erkannten Sexismus als kollektive Erfahrung. Dass diese Tabuisierung ebensosehr für die weibliche Sexualität – also die echte, die gelebte – gilt, zeigt aktuell ein weiteres Internetphänomen: Kristen Roupenian veröffentlichte im Magazin „The New Yorker“ die Kurzgeschichte „Cat Person“.
Das erzählende Ich berichtet vom Sex mit einem Mann. Dieser Sex war nicht schön oder geil. Hat nichts in ihr angerührt. Hat sie vielmehr geekelt. Sie bereut es manchmal ein bisschen. Dass sie nicht „nein“ gesagt hat. Es geht in dieser Geschichte nicht um eine Vergewaltigung, sondern um das fehlende „ja“. Um fehlende Sensibilität, falsche Erwartungen und die Angst, einer gesellschaftlichen und im jeweiligen Moment sehr individuellen Rolle nicht zu entsprechen. Darum, situativ kein Anrecht auf die eigene Sexualität und den eigenen Körper zu haben. Und indem diese Erfahrungen von fehlendem consent(*) von unzähligen Frauen geteilt werden, wie die unzähligen Reaktionen auf diese Kurzgeschichte belegen, wird diese private Geschichte politisch.
Deshalb: Wir sollten über Sex reden. Und die weibliche Sexualität. Zum Beispiel sollten alle wissen, dass die Klitoris nicht bloss einen Zentimeter gross ist, sondern ein Schwellkörper, der bis zu 10 cm lang ist, die ganze Vagina mit ihren Schenkeln umschliesst und dessen Nervenendungen sich in alle Körperteile erstrecken. Zum Beispiel. Übrigens, das wurde erst 1998 (!) wissenschaftlich bestätigt. So viel dazu, die Wissenschaft als objektiven Wahrheitsproduzenten zu glorifizieren. Das kann sie in einem kapitalistischen, patriarchalen System gar nicht sein.
Aber nochmals: Wir sollten über Sex reden. Über unser Anrecht auf unsere eigene Sexualität und unseren eigenen Körper. Und dass einzig ein „ja“ ja heisst.
* Zustimmung (zu sexuellen Handlungen)
von Julie Müller
[Am Rande vermerkt] ist eine Serie von Kurzartikeln. Wir wollen damit tagesaktuelles Geschehen kommentieren, einordnen, auf Veränderungen aufmerksam machen. Eine konsequente linke, antikapitalistische Politik zeichnet sich unseres Erachtens nicht nur dadurch aus, die grossen Analysen abzuliefern. Vielmehr gehört es für uns dazu, auch kleinere, unscheinbare Entwicklungen, skandalöse Aussagen und Auffälliges einordnen zu können.
Die kurze Form, der eher flüchtige Charakter und die zeitliche Nähe, die allesamt diese Artikelserie ausmachen, führen dazu, dass die hier geäusserten Einschätzungen vorübergehend sein können und nicht zwangsläufig mit den Ansichten unserer Organisation übereinstimmen müssen. Die Autor*innen und die verwendeten Quellen sind deshalb jeweils gekennzeichnet. Textvorschläge sind jederzeit herzlich willkommen.

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2 Kommentare

  1. Kurt T.

    Let’s talk about enlightenment, Marxists!
    Wer einen Artikel mit “[wir] leben zwar in einer als aufgeklärt, fortschrittlich … bezeichneten Zeit …” beginnt und mit “[so] viel dazu, die Wissenschaft als objektiven Wahrheitsproduzenten zu glorifizieren” endet, legt die Fundamente für die Geschützstellungen, die den Angriff auf den Materialismus vorbereiten. Es ist natürlich richtig, dass die Wissenschaft “in einem kapitalistischen, patriarchalen System” keine objektive Wahrheit verkünden wird, doch diese Aussage steht nicht in einem luftleeren Raum. Diese Feststellungen als fortschrittlich zu sehen, wäre anachronistisch. In einer Zeit, in welcher weite Teile des Wissenschaftsbetriebs und der feministischen Bewegungen vom Denken Michel Foucault durchseucht sind, werden diese scheinbar banalen Aussagen in einer derart undifferenzieren Form zu Waffen der Reaktion. Die Autorin ist sich dem Bewusst, denn sie weiss, was sie tut. Foucault und sein Gefolge sind Feinde der Aufklärung. Die Ge­fechts­li­nie verläuft hier nicht zwischen Kapitalismus und Sozialismus, nicht zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, sondern zwischen einem fortschrittlichen und reaktionärem Denken, zwischen einem materialistischen und idealistischen Weltbild. Der Idealismus wird kein Sozialismus bringen, dass kann nur der Materialismus.

    • toller

      Amigo, idealistisch ist, wenn man glaubt, dass eine bestimmte philosophische Grundhaltung (hier: Materialismus) eine neue Gesellschaftsformation bzw. Produktionsweise hervorbringen kann (hier: Sozialismus). Eine sozialistische Gesellschaft wird nur mittels einer revolutionären Umwälzung der Produktionsverhältnisse und der Eroberung der politischen und wirtschaftlichen Macht – ausgeführt durch die unterdrückte Klasse – hervorgebracht. (Ich weiss, ich benutze hier dieselbe dogmatische Argumentationsweise, wie sie du gebrauchst…aber immerhin ist sie materialistisch).

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