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Am Rande vermerkt: Start-up Beziehung

Alle scheinen sich einig: Die heutige Jugend ist konservativer als vorangegangene. „Unsre Eltern kiffen mehr als wir, wie soll man rebellieren“ besingen Kraftklub die Misere. Ganz generelle Aussagen über „die Jugend“ zu machen, ist wohl schwierig. In Bezug auf den angeblichen Konservativismus könnte vereinfacht gesagt werden: Kein Wunder, bei steigender Arbeitslosigkeit, wenn man umherschaut, schwieriger werdender Lehrstellensuche oder Jobsuche nach dem Studium aufgrund der wirtschaftlichen Lage. Grund genug. Doch auch das Gegenteil ist denkbar: Zunehmende linke Politisierung und Mobilisierung von Jugendlichen, Schüler*innenstreiks und ähnliches.
Darum soll es an dieser Stelle jedoch nicht gehen. Interessant ist nämlich, dass von diesem ihr-rebelliert-ja-garnicht-Vorwurf der Eltern-Generation der Bereich der Sexualität oft ausgenommen wird – dort scheint mit der Jugend alles in Ordnung zu sein. Sie ist wild, hat Sex und experimentiert mit Beziehungsformen. Das neue Starmodell: die offene Beziehung. Der Ausspruch „weisch, mir händ ez ebe e offeni Beziehig“ wird nicht mehr getuschelt, sondern mit vielsagendem Genicke quittiert.
Auch ich gehöre zu dieser Generation der Kopfnicker, zu denen, die seit geraumer Zeit sagen „es isch ebe chli offe und so“, wenn sie über engere zwischenmenschliche Beziehungen reden. Doch je länger je mehr beschleicht mich das ungute Gefühl, in diesem Trend könnte nicht nur die Befreiung von starren, einengenden Beziehungsformen liegen. Ich bin irritiert, wenn ich in der Stellenausschreibung vom Start-Up xy die Beschreibung meiner Beziehung wiederfinde: offen, kommunikativ, flexibel, anpassungsfähig, jung und gutaussehend.
Und irgendwie denke ich an die Unterscheidung zwischen Sozialkritik und Künstlerkritik und die Aussage, der Neoliberalismus sei seit seinem Aufkommen Ende der 60er Jahre unter anderem deshalb so erfolgreich gewesen, weil es ihm gelungen ist, letztere gegen erstere auszuspielen; die Kritik an der einengenden und konservativen Prägung des Nachkriegskapitalismus gegen die Kritik am Kapitalismus im Allgemeinen – seinen desaströsen Folgen und seiner sozialen Ungleichheit
Was, wenn wir zwar die Beziehungsformen, für die unsere Eltern bestraft wurden und für die sie gekämpft haben, zwar leben können, uns jedoch die grundsätzliche sozialkritische Haltung abhandengekommen ist? Was, wenn wir verlernt haben, Kritik an den grundlegenden Strukturen unserer Gesellschaft zu formulieren? Was, wenn es kein Zufall ist, dass unsere Beziehungen an neoliberale Start-Ups erinnern?
So einfach ist es natürlich nicht. Es ist klar, dass etwas Schönes und Befreiendes im Experimentieren mit Beziehungsformen liegt. Und auch etwas Kritisches vielleicht.
Wir müssen uns jedoch auch bewusst werden, dass die Flexibilität, Unverbindlichkeit und Kurzlebigkeit, die zwar keine Charakteristika sein müssen, es jedoch für offene Beziehungen unserer Zeit oftmals sind, erstaunlich gut mit der neoliberalen Umstrukturierung unserer Berufs- und Alltagsleben harmonieren.
Vielleicht müssen wir uns auch einfach bewusst werden, dass wir die Zeit, die es braucht, um gute Beziehungen zu und mit mehreren Menschen zu führen, die ihrem Namen gerecht werden und dennoch „offen“ sind, wohl erst in einer anderen Gesellschaft haben werden.
Zuletzt müssen wir uns vielleicht eingestehen, dass offene Beziehungen erst dann „rebellisch“ und sozialkritisch werden, wenn sie das Aufsprengen der kapitalistischen und patriarchalen Verhältnisse bedingen, wenn sie mit kollektiven Kämpfen gegen ebendiese einhergehen.
von David Balourd
[Am Rande vermerkt] ist eine Serie von Kurzartikeln. Wir wollen damit tagesaktuelles Geschehen kommentieren, einordnen, auf Veränderungen aufmerksam machen. Eine konsequente linke, antikapitalistische Politik zeichnet sich unseres Erachtens nicht nur dadurch aus, die grossen Analysen abzuliefern. Vielmehr gehört es für uns dazu, auch kleinere, unscheinbare Entwicklungen, skandalöse Aussagen und Auffälliges einordnen zu können.
Die kurze Form, der eher flüchtige Charakter und die zeitliche Nähe, die allesamt diese Artikelserie ausmachen, führen dazu, dass die hier geäusserten Einschätzungen vorübergehend sein können und nicht zwangsläufig mit den Ansichten unserer Organisation übereinstimmen müssen. Die Autor*innen und die verwendeten Quellen sind deshalb jeweils gekennzeichnet. Textvorschläge sind jederzeit herzlich willkommen.

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