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Am Rande vermerkt: Studierende im Landesstreik 1918

100 Jahre Schweizer Landesstreik 1918 heisst auch hunderte von Artikeln, Fernsehdokumentationen und Geschichtswerken, die den Aufstand der Arbeiter*innen gegen Hunger und Armut aus heutiger Sicht rezipieren. Dabei wird der Landesstreik oft als “Ausnahme” in seiner sonst so friedlichen bürgerlichen Geschichte dargestellt. Eine eigentliche Streikwelle erlebte die Schweiz aber bereits von 1904-1907, wo es pro Jahr zu über 250 Arbeitskämpfen kam. Mit dem Krieg erreichte die soziale Frage eine neue Dringlichkeit: Gerade Frauen waren stark an Marktaufständen oder Hungermärschen beteiligt. Die Gewalt, mit der das reaktionäre Bürgertum auf die progressiven Forderungen der Arbeiter*innen reagierten, waren für die Gewerkschaften nichts Neues: Beim Tunnelbau zum Gotthard im Jahr 1875 etwa schoss die Armee bereits auf die Arbeiter*innen, die gegen die katastrophalen Bedingungen beim Gotthardbau demonstrierten.
Landesstreik hiess Aufstand gegen Armut und Hunger, kombiniert mit vielfältigen Forderungen (etwa das Frauenwahlrecht oder eine Altersvorsorge) gegen ein eingeschüchtertes Bürgertum, dass aus der Defensive heraus seine hässlichste Fratze zeigte. An vorderster Front der Armeeführung, die den Schiessbefehl gegen die Streikenden erteilte, standen Leute, die wenige Jahre später die Nähe zu Hitler-Deutschland suchten und sich in der Frontenbewegung organisierten. Ähnliche Entwicklungen zeigten sich auch in der bürgerlich geprägten Studierendenschaft der Universität Zürich. In ihren Kampagnen gegen den Landesstreik wurde sogar angedacht bewaffnete Einheiten zu bilden. Schlussendlich fungierten sie als Postboten für die reaktionäre Hetzte, als Chauffeure für bürgerliche Eliten oder als Hilfskräfte in den Telegraphenstationen. All dies wurde nötig, da die Arbeiter*innen zu hunderttausenden in den Streik traten und die öffentlichen Dienste quasi lahmlegten. Diese studentischen Kampagnen waren bemüht sich als „neutral“ und „unabhängig“ darzustellen. Trotzdem überraschte es wohl niemanden, dass die Universität Zürich in den 1930er Jahren zu einer Brutstätte des Frontismus wurde.
Heute steht es schlecht um den Streik. Die Gewerkschaften suhlen sich in der Bequemlichkeit der Sozialpartnerschaft; und kommt es zu aktiven Streiks zerren die Bürokrat*innen die kämpfenden Arbeiter*innen lieber an den Verhandlungstisch mit den Bossen als die Kämpfe zu intensivieren. Andere Länder zeigen aber, wie mächtig und wie wichtig der Streik als politische Waffe nach wie vor sein kann. Ausserdem wird der Streik wieder zunehmend auch Bezugspunkt von sozialen Bewegungen. In Italien gab es Frauenstreiks, in den USA migrantische Streiks. Dazu sollten wir nicht vergessen, dass der grösste Streik in der schweizerischen Geschichte nicht der Landesstreik, sondern der Frauenstreik von 1991 mit über einer halben Million Teilnehmer*innen war. Gerade um den 8. März, dem internationalen Frauenkampftag, macht es auch Sinn, sich dieser Geschichte wieder vermehrt bewusst zu werden.
von Victor Jara
[Am Rande vermerkt] ist eine Serie von Kurzartikeln. Wir wollen damit tagesaktuelles Geschehen kommentieren, einordnen, auf Veränderungen aufmerksam machen. Eine konsequente linke, antikapitalistische Politik zeichnet sich unseres Erachtens nicht nur dadurch aus, die grossen Analysen abzuliefern. Vielmehr gehört es für uns dazu, auch kleinere, unscheinbare Entwicklungen, skandalöse Aussagen und Auffälliges einordnen zu können.
Die kurze Form, der eher flüchtige Charakter und die zeitliche Nähe, die allesamt diese Artikelserie ausmachen, führen dazu, dass die hier geäusserten Einschätzungen vorübergehend sein können und nicht zwangsläufig mit den Ansichten unserer Organisation übereinstimmen müssen. Die Autor*innen und die verwendeten Quellen sind deshalb jeweils gekennzeichnet. Textvorschläge sind jederzeit herzlich willkommen.

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