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Russland: «Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass sich dieses Regime nicht weiterentwickeln lässt.» – ein Interview mit Ilya Budraitskis

Der russische Historiker Ilya Budraitskis spricht in einem Interview mit der regimekritischen Internetzeitung Meduza darüber, wie sich seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine auch die Lebensrealität in Russland drastisch verschlimmert hat. Ilya betont jedoch, dass dies keine plötzliche Zäsur war, sondern die Zuspitzung eines bisherigen Trends. Das Regime um Putin begegnete jeder Form von gesellschaftlicher Organisierung für soziale Anliegen bereits seit 2000 mit einer Verschärfung des staatlichen Repressionsapparates. Mit der Gleichschaltung gewisser öffentlicher Räume und Diskurse im Zuge der Invasion in die Ukraine 2022 scheint dieser Kampf nun zugunsten des Regimes entschieden worden zu sein. Ilya geht auf die politische Linke in diesem System ein und hält fest, dass diese durchaus heterogen ist. Insbesondere der Einfall Russlands in die Ukraine habe das linke Spektrum in ein Lager gespalten, das den Angriffskrieg mitträgt, und in eines, das gegen den Krieg ist. In diesem Zusammenhang kommt Ilya auch darauf zu sprechen, wie die etablierte Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit dem kriegstreiberischen Regime um Putin verbandelt ist und warum sie sich mit dem Status als Blockpartei zufriedengibt. Er spricht aber auch an, was für das Regime mit so einer Blockpartei herausspringt. Im Lichte eben dieser Diktatur wagt sich Ilya schliesslich an die Frage, was die mittel- und längerfristigen Ziele der Linken sein sollen (Red.).

Interview mit Ilya Budraitskis; aus meduza

Meduza: Was sind die Elemente, aus denen sich die politische Linke in Russland heute zusammensetzt?

Ilya: Beginnend mit dem 24. Februar 2022 trat das gegenwärtige Regime in Russland in ein Stadium der offenen Diktatur, die jede legale politische Aktivität im Land in Frage stellt. Mit dieser Entwicklung spalteten sich auch die politischen Gruppen und Bewegungen, die bis zu diesem Datum existierten, in zwei Hauptlager: ein Lager, das die so genannte ‘militärische Sonderoperation’ in der Ukraine unterstützt, und in ein anderes, dass diese verurteilt und dagegen protestiert. Die gleiche Spaltung vollzog sich im Wesentlichen auch in der politischen Linken. Diese Entwicklung war vorhersehbar, da sie auch Tendenzen fortsetzt, die sich bis ins Jahr 2014 zurückverfolgen lassen. Im heutigen Russland gibt es somit zwei verschiedene Typen von Linken, und wir müssen klar unterscheiden, von welcher dieser beiden antagonistischen Bewegungen wir jeweils sprechen.

Beginnen wir doch mit dem Block der Kriegsbefürworter:innen. Kann man die etablierte parlamentarische Linke, die von der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) repräsentiert wird, denn überhaupt als echte linke Kraft betrachten?

Die kriegsbefürwortende Linke wird in erster Linie von der Führungsetage der KPRF und denjenigen vertreten, die deren Position unterstützen. So hat beispielsweise die Linke Front um Sergej Udalzow [ausserparlamentarische Organisation, die vor allem in sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und Arbeitskollektiven tätig sein will und eine Strategie der ‘Propaganda der Tat’ verfolgt; Anm. d. Red.] eine kriegsfreundliche Position eingenommen. Sie ist auch praktisch mit der KPRF verbündet [ab 2017 arbeitete die Linksfront-Bewegung enger mit der KPRF zusammen und für die Wahlen zur Staatsduma im September 2021 schlossen sie sich sogar zu einem Bündnis zusammen; Anm. d. Red.]. Sie sehen den Krieg und den Konflikt mit dem Westen als eine radikale Herausforderung für das bisherige gesellschaftspolitische Modell Russlands; aber auch als eine Herausforderung, die das Land unweigerlich in Richtung dessen drängen wird, was sie gerne als «Sozialismus» bezeichnen.

Das Hauptproblem ihrer Position (abgesehen von ihrer moralischen Richtigkeit und ihrer Durchführbarkeit) besteht darin, dass die KPRF keine Angaben darüber macht, wer das Subjekt des politischen Umbruchs hin zu ihrem «Sozialismus» sein soll. Sie sprechen dabei wohl kaum von den Massen, d.h. den organisierten Lohnarbeiter:innen, denn die Möglichkeit einer solchen Organisierung ist in Russland unmöglich geworden: Das gesamte öffentliche politische Leben, einschliesslich der Versammlungsfreiheit, wurde zerstört. Streiks gibt es eigentlich keine mehr. Und die russische Gesellschaft befindet sich in einem Zustand maximaler Unterdrückung und Erniedrigung [в максимально подавленном и униженном состоянии]. In Putins Russland kann es keine Dynamik für soziale Gerechtigkeit von unten geben.

Aus Sicht der kriegsbefürwortenden Linken muss das Subjekt des «sozialistischen» Wandels also die heutige Führungselite sein. Ihre Strategie besteht also darin, die Elite davon zu überzeugen, den Weg sozio-ökonomischer Reformen zu beschreiten. Und diese Veränderungen – z.B. die Verstaatlichung von Grossunternehmen, eine «gerechtere» Umverteilung der Ressourcen innerhalb des Landes – sollen nicht etwa stattfinden, weil die einfachen Menschen dies fordern, sondern weil dies eine objektive Notwendigkeit für das Land ist, das sich in einer Situation harter aussenpolitischer Konfrontation befindet. Daher die Ausrichtung auf einen militarisierten Sozialismus, einschliesslich einer Planung von oben nach unten, um den Erfordernissen der laufenden Kriegsführung gerecht zu werden.

Der einzige Adressat dieser KPRF-Propaganda aber kann in einer Diktatur letztlich nur Präsident Putin persönlich sein. Er ist es, den diese Partei überzeugen muss, die Reformen durchzuführen, die sie propagiert. So erklärte der Vorsitzende der KPRF, Gennadi Sjuganow, auf dem Treffen des Präsidenten mit den Parlamentsfraktionen im Juli 2022, dass seine Partei den politischen Kurs Putins voll und ganz unterstütze, dass sie sich aber eine Entwicklung hin zum Sozialismus wünsche. Putin entgegnete darauf, eher ironisch, dies sei eine interessante Idee, aber es wäre gut, zunächst einige Kostenvoranschläge darüber zu erarbeiten und herauszufinden, wie der Sozialismus in der Praxis aussehen würde.[1]

Es gibt sehr gute Gründe, daran zu zweifeln, dass die KPRF und ihre Verbündeten als echte linke politische Kraft bezeichnet werden können, da die sozialistische Idee eigentlich auf der Auffassung fusst, dass die entrechteten Massen die politische und wirtschaftliche Macht durch Selbstorganisation an der Basis erobern müssen. Sozialismus in diesem klassischen linken Sinne ist etwas, das von den Menschen selbst ausgeht.  Sie sind es, die eine neue Gesellschaftsordnung schaffen, die den vielen statt den wenigen zugutekommt,.

Indem sie die Massen mit ihrem Interesse an einem Wandel von unten nach oben nicht als Subjekt oder als Motor des Wandels betrachten, haben die heutige KPRF und ihre Verbündeten diese Idee de facto verworfen. Sjuganows Idee des «Sozialismus» erfordert keine Beteiligung der Massen. Ausserdem ist diese in vielerlei Hinsicht unerwünscht, weil das Verhalten der einfachen Menschen als unberechenbar gilt und sie von einigen [üblichen] Feinden Russlands ausgenutzt und mit falschen Werten indoktriniert werden könnten. Daher soll es viel zuverlässiger sein, Veränderungen vom Standpunkt des bestehenden Staates und von dessen Interessen aus durchzuführen.

Aus Sicht der kriegsbefürwortenden Linken muss das Subjekt des «sozialistischen» Wandels also die heutige Führungselite sein.

Ilya Budraitskis

Hat diese Partei, auch wenn sie sich von den Grundgedanken der linken Politik verabschiedet haben mag, wenigstens wirklichen Einfluss auf die Reformen im Land? Verfügt die KPRF über echte politische Macht?

Eine gute Frage. Erst kürzlich hat die KPRF ihr dreissigjähriges Bestehen feierlich begangen. Das heisst, die Partei mit ihrem gegenwärtigen und ständigen Vorsitzenden ist praktisch so alt wie das postsowjetische politische System selbst. Der Platz, den sie in diesem System einnimmt, ist allerdings recht widersprüchlich. Einerseits ist sie eindeutig die Partei der sogenannten «gelenkten Demokratie», und hat nie ernsthaft eigens Anspruch auf die politische Macht erhoben; sie hat alle wichtigen Aktionen mit dem Kreml koordiniert und in den letzten Jahren auch auf dessen direkte Anweisungen hin gehandelt.

Diese Partei hat nie versucht, jemanden dazu zu bringen, auf die Strasse zu gehen. Sie orientiert sich nicht an dem, was ausserhalb des Parlaments geschieht; stattdessen dreht sich alles um die Neuverteilung der Sitze in der Staatsduma [untere Kammer der russischen Föderationsversammlung; Anm. d. Red.] und in der regionalen Verwaltung. Mit anderen Worten: Diese Partei hat keine hohen politischen Ambitionen. Sie erhält lediglich sich selbst und ihren eigenen Apparat aufrecht und bietet eine Karriereleiter für Politiker:innen.

Es gibt zahlreiche Personen, die nur deshalb Gouverneur:in oder Abgeordnete:r wurden, weil sie ihre ersten Jahre damit verbracht hatten, die Hierarchieleiter der Kommunistischen Partei hinaufzuklettern. Man denke nur an den Gouverneur von Orjol, Andrej Klitschkow, oder an Abgeordnete der Moskauer Stadtduma wie den Enkel von Gennadi Sjuganow, Leonid Sjuganow, oder den Gouverneur von Chakassien [Republik im Süden des Föderationskreises Sibirien; Anm. d. Red.], Walentin Konowalow. Sie alle haben ihre Karriere in der KPRF gemacht und ihren bescheidenen Anteil an der politischen Macht erlangt. Im gegenwärtigen politischen System ist es unwahrscheinlich, dass man in der KPRF über den Posten einer:s Abgeordneten oder einen Platz in der Kommunalverwaltung hinauskommt.

Die Nische, die die KPRF im System der russischen Politik einnimmt, ist das Ergebnis ihrer Funktion, die darin besteht, protestwillige Dissident:innen bei Wahlen aufzufangen. Wer die KPRF wählt, tut dies nicht, weil man möchte, dass der Enkel von Sjuganow Karriere macht, oder weil man möchte, dass seine Partei jedes neue Vorhaben Putins unterstützt. Sie wählen die KPRF, weil sie mit dem russischen Leben in verschiedener Hinsicht unzufrieden sind, an erster Stelle mit dem sozialen Bereich. Sie sind unglücklich über Ungleichheit und Armut.

Seit 30 Jahren hat die KPRF die Interessen der Menschen, die sie gewählt haben, konsequent verraten. Diese Kluft zwischen den Wähler:innen und denjenigen, die sie schliesslich in der Regierung vertraten, haben wir in jeder Phase der jüngeren politischen Geschichte Russlands erleben können. Nehmen wir bspw. das Jahr 2011, als nach den Wahlen zur Staatsduma, die zugunsten von Putins de facto Partei ‘Einiges Russland’ gefälscht wurden, neben der Protestbewegung «Bolotnaja»[2] auch erstmals die Bewegung «Für Faire Wahlen» («за честные выборы») entstand. Bei dieser Wahl waren die Stimmen vor allem den Kommunist:innen gestohlen worden[3]. Die liberale Opposition nahm entweder gar nicht an dieser Wahl teil, oder ihre Ergebnisse fielen weitaus bescheidener als diejenigen der Kommunist:innen [KPRF; Anm. d. Red.] aus. Die «Für Faire Wahlen»-Proteste waren also vor allem ein Ausdruck der Empörung derjenigen, die für die KPRF gestimmt hatten [darunter Wähler:innen, die dem Motto gefolgt waren: «für alle ausser für ‘Einiges Russland’»]. Die KPRF als Partei beteiligte sich selbst jedoch nicht an den Protesten, sondern an der Verfolgung der Demonstrierenden.

Eine Demonstration der Bewegung «Für Faire Wahlen» auf dem Sacharow-Platz in Moskau, 24. Dezember 2011. Die Fahnen der regionalen KPRF-Sektionen sind in der Menge zu sehen.

Ein weiterer Beleg dafür waren die Wahlen zur Staatsduma [Unterhaus der Föderationsversammlung oder Staatsparlament; Anm. d. Red.] im September 2021. Vor allem dank der vom Nawalny-Team verfolgten Strategie der «intelligenten Stimmabgabe» («умное голосование») [seit 2018 wurde versucht die Wahlergebnisse von ‘Einiges Russland’ in Kommunal-, Regional- und Bundeswahlen zu reduzieren, indem bei Mehrheitswahlen Oppositionskandidat:innen mit der höchsten Siegeschance gegen ‘Einiges Russland’ je Wahlkreis gewählt würden; bei Parteilisten eine Partei, die möglicherweise die Wahlschranke überschreitet; bei Gouverneur:innenwahlen jede:r Kandidat:in, die:der kein:e Vertreter:in der Behörden ist; Anm. d. Red.] gaben die meisten Oppositionswähler:innen ihre Stimmen den Kandidat:innen der KPRF. Ein beträchtlicher Teil dieser Kandidat:innen gewann ihre Bezirke, konnte aber aufgrund der umfassenden Fälschungen, einschliesslich der Manipulation von Online-Abstimmungen, dennoch keinen Sitz im Parlament erlangen. Die Parteiführung vertrat derweil die Position, dass es zwar einige Verstösse gegeben habe, diese aber nicht so gravierend seien, als dass sie das Wahlergebnis in Frage stellen würden oder als dass man sich gegen das Regime stellen müsse.

Diese Widersprüchlichkeit der KPRF, als einer Partei des Establishments, die protestbereite Wähler:innen an sich bindet, spiegelt sich denn auch in ihrer eigenen inneren Zusammensetzung wider. Die KPRF war ein Anziehungspunkt für Menschen, die eine ernsthafte linke Oppositionspolitik betreiben wollten, ohne sich dem Kreml anzubiedern, und um  die Interessen ihrer Wähler:innen zu verteidigen und eine Basisbewegungen zu entwickeln. Während ihres gesamten Bestehens umfasste die KPRF diese beiden gegensätzlichen Gruppen mit völlig unterschiedlichen Motiven. Ihre Führungsetage aber bestand stets aus Kreml-Kollaborateur:innen, die sich damit zufrieden gaben, die KPRF als Partei des Establishments zu sehen. Die Ortsverbände der Partei zogen dagegen oft Menschen mit ganz anderen Erwartungen an.

Im Jahr 2021 wurde dieser Widerspruch deutlich, als die Strategie der «intelligenten Stimmabgabe» Kandidat:innen der KPRF wie Michail Lobanow in Moskau Unterstützung einbrachte. Nicht zuletzt dank der Tatsache, dass sie echte, konsequente Anti-Establishment-Positionen vertraten. Auch als der Krieg ausbrach, erklärten zwar nur wenige Abgeordnete der Staatsduma ihre Antikriegshaltung, aber alle, die sich zu Wort meldeten, waren Mitglieder der KPRF.

Die Nische, die die KPRF im System der russischen Politik einnimmt, ist das Ergebnis ihrer Funktion, die darin besteht, protestwillige Dissident:innen bei Wahlen aufzufangen.

Ilya Budraitskis

Haben die Aktivist:innen der KPRF trotz dieser internen Widersprüche Ergebnisse erzielen können?

Wenn man Gemeinde- oder Regionalabgeordnete:r wird, eröffnen sich gewisse Möglichkeiten. Diese sind natürlich stark begrenzt, da jede etablierte Oppositionspartei, auch die KPRF, in der Minderheit sein wird. Dennoch ist ein:e Abgeordnete:r jemand, der die Stimmen lokaler Communities erheblich verstärken kann, wie im Fall des Abgeordneten der Moskauer Stadtduma Evgeny Stupin, der auch Mitglied der KPRF ist.

Lassen Sie uns nun aber über das andere linke Lager sprechen, das die Invasion nicht unterstützt hat. Wenn man sich nicht der KPRF zugehörig fühlt, welche anderen linken Optionen gibt es dann?

Unter den linken Organisationen, die die Invasion verurteilt haben, gibt es eine Reihe von kleinen Gruppen, die im Wesentlichen als Massenmedien fungieren [dadurch, dass die Öffentlichkeit in bestimmten Themenfeldern oder gesellschaftlichen Bereichen gleichgeschaltet wurde und drakonisch sanktioniert wird, wurden linke Organisationen in ihren Handlungsmöglichkeiten, bis auf wenige dezentralisiert koordinierte individuelle Protestaktionen, effektiv auf die Rolle von alternativen Informationsquellen in verschlüsselten sozialen Medien reduziert; Anm. d. Red.]. In einer Situation, in der praktisch jede pazifistische oder Antikriegsaktivität verboten ist, sind diese Gruppen allerdings so gut wie illegal. Politische Organisationen, die eine klare Antikriegsposition bezogen haben, wurden in den Untergrund gedrängt und müssen jetzt ausgesprochen vorsichtig sein. Dies stellt ein ernstes strategisches Problem für alle linken Gruppen dar, die vor der Invasion in Russland existierten, seien sie nun sozialistisch oder anarchistisch. Es gibt mehrere grundlegende Strategien, die sie anwenden können, um sich an die heutigen schwierigen Bedingungen anzupassen.

Der erste Ansatz ist die illegale direkte Aktion, die schwierig ist, wenn man bereits eine öffentliche Person ist. Die zweite besteht darin, sich auf Propaganda in kleinen Gemeinschaften wie geschlossenen Lesegruppen zu beschränken. Schliesslich gibt es noch die Strategie der Interessenvertretung von Arbeiter:innen, die vorerst legal bleibt. Die Rede ist etwa von der Kurier:innengewerkschaft Courier («Курьер»)[4], der Gewerkschaft der medizinischen Angestellten «Deistwje» («Действие»; zu dt. «Aktion»)[5] und einer Reihe anderer kleinerer Gewerkschaften, in denen Antikriegsaktivist:innen mitarbeiten.

Wie sind die Gewerkschaften in Russland zu einer politischen Kraft geworden, und ändert sich dies jetzt?

Beginnend mit dem 24. Februar 2022 trat das gegenwärtige Regime in Russland in ein Stadium der offenen Diktatur, die jede legale politische Aktivität im Land in Frage stellt.

Ilya Budraitskis

Beginnen wir mit der Tatsache, dass es in Russland sowohl etablierte als auch unabhängige Gewerkschaften gibt. Die offiziellen Gewerkschaften des Establishments finden in den Medien kaum Beachtung, und die meisten ihrer Mitglieder ahnen nicht einmal, dass sie existieren. Und dennoch handelt es sich um einen gewaltigen Bürokratieapparat. Der Russische Verband der unabhängigen Gewerkschaften (FNPR; ФНПР)[6] fungiert nun schon seit Jahrzehnten als verlängerter Arm der Regierung in den Bereich der Arbeitsbeziehungen und als Instrument der Kontrolle der Unternehmer:innen über die Arbeiter:innen. Mit echten Gewerkschaften hat das natürlich nichts zu tun. Wenn wir nach historischen Parallelen suchen, so hatten verschiedene faschistische Regime ihre eigenen staatlichen Gewerkschaften und Verbände sowohl für Arbeitgeber:innen als auch für Arbeiter:innen. [So bspw. der Deutsche Arbeiter- und Arbeitgeberverband, die Deutsche Arbeitsfront, welche 1933 in Nazi-Deutschland gegründet wurden. Zuvor wurde aber eine Reform der unabhängigen Gewerkschaften durchgeführt und das Streikrecht verboten; die Redaktion des russischen Originals führt das historische Beispiel unter der NS-Diktatur an.]

Was die unabhängigen Gewerkschaften betrifft, so sind die wenigen verbliebenen Möglichkeiten einer noch legalen öffentlichen Tätigkeit (gewerkschaftliche Interessenvertretung und Interessenvertretung zur Selbstbildung) inzwischen äusserst riskant. So wurde beispielsweise Kirill Ukraintsew, der Vorsitzende der Kurier:innengewerkschaft Courier, im vergangenen Frühjahr verhaftet und ins Gefängnis gesteckt und erst vor kurzem wieder freigelassen.[7]

Wir müssen aber verstehen, dass diese Organisationen trotz ihrer lokalen Erfolge nicht als vollwertige Gewerkschaften angesehen werden können[8], da eine echte Gewerkschaft in der Lage wäre, Kollektivverträge mit den Arbeitgeber:innen der Grossindustrie auszuhandeln. Im heutigen Russland ist dies jedoch praktisch unmöglich, und zwar nicht nur wegen des repressiven Drucks seitens der Regierung und der Unternehmer:innen. Das ist schon aufgrund der geltenden Gesetzgebung unmöglich[9]. Denn eine der ersten Amtshandlungen Putins war die Verabschiedung eines neuen Arbeitsgesetzbuchs, das die Befugnisse der Gewerkschaften beschneidet.[10]

Dies bedeutet, dass es im heutigen Russland praktisch unmöglich ist, einen wirksamen Streik durchzuführen. Der rechtliche Spielraum der Gewerkschaften ist praktisch gleich Null. Vereinigungen wie CourierDeistwje oder die Lehrerallianz («Aльянс Yчителей») sind hervorragende und sehr wichtige Initiativen, die jedoch in einem engen Rahmen arbeiten. Sie sehen eher aus wie Interessenvertretungen als wie eigentliche Gewerkschaften. Schauen Sie sich zum Vergleich doch mal die Proteste gegen die Rentenreform in Frankreich an, und Sie werden den Unterschied erkennen.

Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass sich dieses Regime nicht weiterentwickeln lässt.

Ilya Budraitskis
Sergei Semjonowitsch Sobjanin, Bürgermeister von Moskau seit 2010, ist Mitglied der von Putin gesteuerten Partei ‘Einiges Russland‘ (offiziell ist Putin selbst kein Mitglied). Im Februar 2011 erklärte Sobjanin Pride Parades in Moskau für «illegal». Im Juni 2012 verhängten Moskauer Gerichte ein hundertjähriges Verbot von Gay Pride Paraden. Hier gibt sich Sobjanin am Ersten Mai 2015 in Moskau wiederum bürgernah.

Was ist mit den Anarchist:innen? Sie waren lange Zeit staatlichen Repressionen ausgesetzt. Wachsen die anarchistischen Bewegungen jetzt als Reaktion auf die Invasion? Waren es denn Anarchist:innen, die Eisenbahnsabotage organisierten und Einberufungsbüros in Brand setzten[11]?

Wir haben ziemlich wenig Informationen darüber, wer wirklich hinter diesen Initiativen steckt. Ich habe keine Daten darüber, ob die anarchistischen Bewegungen wachsen oder schrumpfen, denn sie arbeiten unter enormem Druck, faktisch in einem Untergrundmodus. Aber es ist sehr schwierig, zu wachsen, wenn man im Untergrund ist.

Das Regime hat sich sehr bemüht, den weitreichenden Einfluss der Anarchist:innen auf die jüngere Generation der Russ:innen zu beschneiden. Vor etwa einem Jahrzehnt etablierte sich in Russland eine bedeutende antifaschistische Subkultur, die sich in erheblichem Masse auf einige anarchistische Ideen stützte. Ihr Einfluss war sehr deutlich spürbar. Das Regime unternahm daher auch grosse Anstrengungen, um diese antifaschistische Szene zu zerschlagen. Dies war der Grund für die strafrechtliche Verfolgung des sogenannten «Netzwerks» («Cеть»)[12] und vieler anderer politisch motivierter Strafverfahren. Dem Regime gelang es so, eine mehr oder minder breite Bewegung zu liquidieren, indem es einfach ihre wichtigsten Aktivist:innen ausschaltete.

Natürlich hat etwas von diesem antifaschistischen Element überlebt und sich in Partisanengruppen verwandelt. Die Frage, die sich hier aufdrängt, betrifft allerdings nicht so sehr die Gegenwart als vielmehr die Zukunft: Wie viel von dem, was diese Gruppen heute tun, wird in Zukunft noch von Bedeutung sein? Einzelne Aktionen, so heldenhaft sie auch sein mögen, werden kaum in der Lage sein, die Dynamik der gegenwärtigen Entwicklungstendenzen zu brechen. Aber ich denke auch, dass, wenn die russische Gesellschaft eine Massenbewegung gegen den Krieg fordert, alle verfügbaren Formen, einschliesslich der bereits existierenden, willkommen sein werden.

Bedeutet das also, dass keine linke Bewegung im Jahr 2023 zahlenmässig signifikant wachsen kann? Oder ist das nicht vielmehr der perfekte Zeitpunkt, um auf Wachstum zu setzen?

Ich denke, dass die diktatorischen Verhältnisse prinzipiell keinen Raum für politische und bürgerliche Rechte lassen. Sie erlauben keine legale politische Betätigung in irgendeiner Form, was diese Bewegungen daran hindert, neue Anhänger:innen zu gewinnen oder ihre Botschaft aktiv in der Gesellschaft zu verbreiten.

Die Frage sollte daher vielmehr lauten, ob die russische Gesellschaft einen Wandel vollziehen kann, der tiefgreifend genug ist, um eine neue Art von politischer Ordnung hervorzubringen, und auch, was die Linke selbst für solch eine Entwicklung des Landes nach Putin zu bieten hat. Das ist die Hauptaufgabe, vor der die Linke derzeit steht, ebenso wie jede andere Oppositionsgruppe in Russland. Und das bedeutet, dass das, was sie jetzt tut, weitgehend auf lange Sicht und nicht auf unmittelbare Wirkung angelegt sein muss.

Was versteht die russische Linke unter Dekolonisierung, und wie sollte diese in Russland aussehen?

Das ist eine komplizierte Frage, denn einerseits gibt es den Begriff der «Dekolonialisierung», wie er im Kontext der postkolonialen Studien verwendet wird, und andererseits gibt es praktische Fragen zur politischen Zukunft Russlands nach der Sackgasse, in die es sich derzeit manövriert hat. Und diese beiden Dinge haben nichts miteinander zu tun. Deshalb ist es vielleicht am besten, sich auf die gegenwärtige politische Ordnung Russlands zu konzentrieren, die in seiner imperialistischen Vergangenheit verwurzelt ist.

Zunächst einmal müssen wir festhalten, dass der heutige Krieg auf einer Doktrin des Geschichtsrevisionismus beruht, d.h. auf der Vorstellung, dass die wahrhaftige Gestalt Russlands [подлинное существование России] innerhalb der bestehenden Grenzen unmöglich ist. [Aus Sicht der Behörden] müssen diese Grenzen daher ständig erweitert werden, um die «historischen» Gebiete zurückzuerobern. Und diese [politische] Linie hat leider bestimmte Wurzeln: Sie wurde nicht von Putin persönlich erfunden, sondern basiert auf dem imperialen Erbe des vorrevolutionären Russlands sowie auf der stalinistischen und poststalinistischen Sowjetunion.

Diese Tradition hat sich inzwischen im Bewusstsein eines grossen Teils der Bevölkerung verankert, und das macht die Propaganda auch so wirksam. Damit ein Russland nach Putin tatsächlich in Frieden mit seinen Nachbarn leben kann, ohne andere Länder, einschliesslich der postsowjetischen Staaten und diejenigen Osteuropas, zu bedrohen, muss die imperialistische Weltanschauung grundlegend überwunden werden. Wir müssen nicht nur unsere Gegenwart aufarbeiten, sondern auch unsere Vergangenheit und die Art und Weise, wie unsere Bevölkerung die Geschichte Russlands und seine Beziehungen zu den umliegenden Ländern sieht. Das ist der erste Punkt.

Der zweite Punkt hat mit dem heutigen offiziellen Status Russlands als «Föderation» zu tun. In Wirklichkeit handelt es sich nämlich um einen hyperzentralisierten Staat, in dem alle Ressourcen von Moskau vereinnahmt werden und je nach Grad an politischer Loyalität gegenüber dem Regime an die Regionen weiter- bzw. zurückgereicht werden. Dies ist es auch, was Russlands Politik gegenüber seinen einheimischen Minderheiten [nicht-russischen Ethnien] bestimmt, da die Existenz nicht-russischer Identitäten im Lande vom Kreml als Bedrohung betrachtet wird. Daher die Unterdrückung der autochthonen Sprachen und der verbleibenden Reste von Autonomie in Regionen mit einer bedeutenden ethnisch nicht-russischen Bevölkerung.

Diese Politik hatte während der gesamten zwei Jahrzehnte, die Putin an der Macht ist, Bestand und steht in direktem Zusammenhang mit der Moskau-zentrierten Natur dieses Regimes und dem Fehlen einer echten Demokratie im Land. In diesem Sinne brauchen wir eine ernsthafte Überprüfung der Stellung Moskaus in der russischen Staatsführung.

Würde dies zwangsläufig den Zerfall Russlands als politisch-nationale Einheit zur Folge haben?

Das heutige Russland hält die Entwicklung seiner Regionen mit Zwangsgewalt und Geld zurück. Es hat diesen Regionen kein positives Programm mehr zu bieten. Wenn die politische Macht des Regimes schwindet und das Geld versiegt (was in absehbarer Zeit der Fall sein wird), werden daher die Zentrifugalkräfte im Lande einsetzen.

Die Ergebnisse werden für die Menschen in den Regionen nicht gerade angenehm sein. Wenn wir einen gemeinsamen politischen Raum bewahren wollen – nicht im Sinne der Bindung an eine einheitliche politische Gewalt, sondern im Sinne eines Umfelds, das eine Art interkulturellen menschlichen Austauschs ermöglicht –, müssen wir über die Werte, Ideen und Prinzipien nachdenken, die ein Russland als solches den Regionen bieten kann. Die Ideen der Toleranz, der Gleichheit, einer gut ausgebauten Sozialpolitik und des Rechts der Regionen, ihre eigenen Ressourcen zu verwalten, würden dazu beitragen, diesen Raum in Form einer Föderation oder eines Staatenbunds zu erhalten.

Wenn wir aber stattdessen bis zum bitteren Ende abstreiten, dass die Zentralisierung ein Problem ist, wenn wir weiterhin versuchen, die ethnischen Regionen in eine veraltete einheitliche Norm zu zwingen, und alle Anzeichen von Einzigartigkeit als Bedrohung für den Staat und seine Integrität betrachten, wird dies zum Auseinanderfallen führen. Wenn Russland seinen gegenwärtigen Kurs fortsetzt, kann dies möglicherweise sogar zu einem sehr harten Desintegrationsszenario führen. Aber es ist auch möglich, diesen Kurs zu ändern und den Zerfall abzuwenden.

Wie ist die allgemeine Einstellung der Russen gegenüber linker Politik? Wie sehr haben sich diese Bewegungen ein Fundament für die Zukunft geschaffen?

Linke Politiker konnten im postsowjetischen Russland einen gewissen Erfolg verzeichnen. Man denke nur an die Wahlerfolge von Michail Lobanow und anderen sowie an eine ganze Reihe charismatischer Kommunalabgeordneter wie Sergej Zukasow, der einst Chef des Moskauer Stadtbezirks Ostankino war. Oder nehmen Sie die Rolle der linken Politik in sozialen Massenbewegungen wie den Umweltprotesten in Schies (Ши́ес) im Oblast Archangelsk.[13] Und dann ist da noch die Arbeit unabhängiger Gewerkschaften und ihre Rolle bei lokalen Erfolgen wie dem erfolgreichen Einsatz der unabhängigen Gewerkschaft «Konföderation der Arbeit» («Конфедерация Tруда») für die Wiederbeschäftigung Dutzender Moskauer U-Bahn-Beschäftigter, die 2021 unrechtmässig entlassen worden waren.

Im vergangenen Jahrzehnt war in Russland eine zweigeteilte Entwicklung zu beobachten. Einerseits konnten wir ein zunehmendes politisches Engagement der jungen Menschen, wachsende Basisbewegungen und politische Proteste sowie eine aktive Beteiligung an Wahlkampagnen und Wahlen beobachten. Andererseits sind wir auch Zeuge einer Verstärkung des staatlichen Repressionsapparats und seines zunehmenden Drucks auf diese erwachende Gesellschaft. Alles, was dieses Regime als Reaktion auf die Maidan-Revolution in der Ukraine und bis zum Beginn der Invasion getan hat, verfolgte nicht nur aussenpolitische, sondern auch innenpolitische Ziele. Das Hauptziel des Regimes bestand darin, die Gesellschaft vollständig zu unterdrücken, die Bevölkerung zu atomisieren und eine Atmosphäre der Panik und des Schreckens vor jeglicher politischen Aktivität zu schaffen.

Alles, was in den letzten zehn Jahren in der linken Politik Russlands geschehen ist, war Teil dieser beiden gegenteiligen Trends. Doch die Situation, wie sie sich nach dem 24. Februar eingestellt hat, kann als der endgültige Sieg des Staates über die Gesellschaft an diesem Punkt der Geschichte bezeichnet werden. Und da die Linke immer auf der Seite der Gesellschaft steht und nicht auf der des Staates, ist dieser Triumph auch eine Niederlage für die linke Bewegung.[14]

Ich bin kein Soziologe und kann keine konkreten Zahlen vorlegen, aber aufgrund meiner eigenen Erfahrung, die auch Aktivismus einschliesst, kann ich sagen, dass die Mehrheit der Russ:innen soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit als die wichtigste politische Frage betrachtet. Eine absolute Mehrheit der Menschen würde Ihnen zustimmen, wenn Sie von einer Umverteilung der Ressourcen und des Reichtums sprechen würden. Sie würden auch zustimmen, dass Russland ein echter Sozialstaat werden müsse, der im Interesse der Mehrheit arbeitet. Deshalb ist die linke Agenda hier so wichtig.

Selbst die Erfolge des dreimal verurteilten Alexej Nawalny haben viel damit zu tun, dass er einige Elemente der linken Agenda in seine eigene Anti-Korruptions-Rhetorik aufgenommen hat. Ich würde sagen, dass die Mehrheit der Zuschauer:innen erkennt, dass es in Nawalnys Videos nicht nur um korrupte Staatsbeamt:innen geht. Vielmehr geht es auch darum, wie eine verschwindend kleine Minderheit den gesamten Reichtum in einem ansonsten mittellosen Land an sich gerissen hat. Diese Situation ist schreiend ungerecht. Ob die Beamt:innen dabei legal oder illegal reich geworden sind, ist das Letzte, worüber man sich Gedanken macht. Denn die Gesetze, die es dieser Gruppe ermöglicht haben, sich diesen Reichtum anzueignen, wurden von den besagten Aneigner:innen selbst verfasst.

Ein weiterer wichtiger Aspekt der linken Tradition ist ihre Ausrichtung auf die Demokratie, und zwar nicht bloss auf die formale Demokratie. Für die politische Linke geht es bei der Demokratie nicht nur um funktionierende Wahleinrichtungen. Es geht darum, wie die einfachen Menschen an den Entscheidungen teilhaben können, die ihr eigenes Leben betreffen. Der Sozialismus, wie er von seinen Gründern vor etwa 150 Jahren konzipiert wurde, war eine konsequente Vision der Demokratie, die bis zu den logischen Grenzen der Demokratie gehen wollte. Es war eine Vorstellung von Demokratie als einer Mehrheitsherrschaft nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft. Und deshalb sind auch die demokratischen Forderungen, die in den letzten Jahrzehnten für die russische Gesellschaft so wichtig waren – die Forderungen nach fairen Wahlen, Versammlungsfreiheit, freien Gewerkschaften und Streikrecht – in der politischen Linken verankert.

Ich denke, wenn Russland die Möglichkeit eines echten öffentlichen politischen Lebens bewahrt hätte, mit der Schaffung einer unabhängigen legalen Linkspartei, die an den Wahlen teilnehmen könnte, hätten wir bereits einen Aufschwung der linken Politik in diesem Land erlebt. In den letzten zehn Jahren [während Putins Vorkriegsherrschaft] waren alle Voraussetzungen gegeben, und die Stimmung in den Massen war auch sehr günstig für sie gewesen.

Gab es neben den staatlichen Repressionen noch andere Faktoren, die linke Bewegungen daran hinderten, tiefer in die Gesellschaft vorzudringen?

Trotz der Forderung der russischen Gesellschaft nach Demokratisierung und sozialer Gerechtigkeit bleibt ein Grossteil der Gesellschaft letztlich doch politisch passiv. Die Menschen haben gezeigt, dass sie nicht auf Aktionen vorbereitet sind, und ich glaube nicht, dass dies nur mit der Behinderung der Selbstorganisation an der Basis oder mit der Angst vor Repressionen zu tun hat.

In einer knallharten Marktgesellschaft, in der jeder für sich selbst steht, in der Geld gleichbedeutend mit Macht ist und in der jeder eine persönliche Überlebensstrategie verfolgt, klingt jeder Ansatz von gemeinsamen Interessen wie völliger Schwachsinn. Dieser vermeintliche russische «gesunde Menschenverstand» aus der Vorkriegszeit stand der linken Agenda und jeglicher Selbstorganisation an der Basis im Weg. Russischen Aktivist:innen fiel es sehr schwer zu erklären, warum die Mieter:innen eines Mehrfamilienhauses ein Komitee gründen sollten, um ihre Rechte gegenüber den örtlichen Verwaltungsgesellschaften zu verteidigen. Auch den Leiharbeiter:innen fällt es schwer zu begreifen, was kollektive Interessenkämpfe sind und warum sie solche brauchen.

Stattdessen fragten sich die Menschen, ob der Kampf ihnen mehr Vorteile oder mehr Probleme bringen würde. Das war die russische Realität, und sie war weitgehend verantwortlich für die Apathie, die wir erlebt haben, und für die Anfälligkeit der Bevölkerung für militaristische Propaganda.

Man erhält den Eindruck, die Beschäftigung der Linken mit lokal begrenzten Kämpfen gegen Ungleichheit entfremde sie von den Massen. Gleichzeitig schlägt die Linke keine systemischen Reformen vor, weder in wirtschaftlicher noch in anderer Hinsicht. Ist dieses Urteil ungerecht?

Es ist ein echtes Problem, dass sich die Aktivist:innen auf die praktischen Dinge des Alltags konzentrieren. Ja, die Menschen sind leichter zu motivieren, wenn sie hier und jetzt etwas tun können. Das ist im Allgemeinen auch eine gute Sache, denn Aktivist:innen schaffen es oft, jemandem effektiv zu helfen. Gleichzeitig hält die Fixierung auf dieses «Hier und Jetzt» die Aktivist:innen davon ab, politische Programme und Vorschläge zu konzipieren oder grosse und umfassende Darstellungen zu entwickeln, die die soziale Realität erklären würden. Aber die Menschen im Alltag brauchen gerade solche Erklärungen.

Wir können sehen, dass die Besessenheit der Russ:innen von YouTube und allen möglichen Talking Heads mit dieser Forderung nach einer umfassenden Weltsicht zu tun hat: Um zu verstehen, was sie tun müssen, brauchen die Menschen jemanden, der alle Ereignisse und Geschehnisse zu einem kohärenten Gesamtbild verdichtet. Oft können Menschen, die völlig in den Aktivismus eingetaucht sind, ein solches Bild nicht liefern. Entweder halten sie es nicht für so wichtig, oder sie haben nicht die Zeit und die Ressourcen dafür. Und deshalb verliert die linke Bewegung in Russland, selbst in der Form, in der sie heute existiert, sehr viel.

Aber das Problem besteht durchaus nicht nur darin, dass nur wenige Menschen [an der Entwicklung umfassender politischer Programme] sitzen. Denn wenn solche Programme von der Realität bestehender Massenbewegungen losgelöst sind, erhalten sie oft einen abstrakten Charakter. Das heisst, es ist nicht wirklich klar, wer sie [Wirtschaftsreformen und -transformationen] durchführen soll. 

Wenn liberale Ökonomen beispielsweise darüber sprechen, «wie Russland zu reformieren ist», dann ist in der Regel klar, was zu tun ist: «Putin muss durch einen Jewgeni Alexandrowitsch Tschitschwarkin  ersetzt werden, der ein Wirtschaftsprogramm umsetzt, das aus seiner Sicht besser ist als das von Putin». Für die Linke stellt sich die Frage allerdings radikal anders: Wie sollte sich das politische System ändern, damit es im Interesse der Mehrheit handelt. Und die Antwort hierauf lässt sich nicht vorwegnehmen oder durch ein Gedankenexperiment herbeiführen.

Wladimir Lenin sagte einst, dass wir nicht wissen könnten, wie der Sozialismus im Einzelnen aussehen würde, bis die Massen sich der Sache annehmen.[15] Das gilt auch heute noch für die linke Bewegung. Wir werden erst dann wissen, wie eine gerechte Gesellschaft aussehen wird, wenn diese Idee diejenige von Millionen geworden ist und die Menschen sie massenhaft in die Praxis umsetzen wollen.

Wie können wir herausfinden, welche langfristigen Ziele in der linken Politik Russlands Priorität haben sollen? Was sollten Politiker:innen in den Vordergrund stellen, wenn sie gehört werden wollen?

Die Linke muss ihre Lektion lernen und die Konsequenzen aus dem ziehen, was mit dem Land geschehen ist. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass sich dieses Regime nicht weiterentwickeln lässt. Es wird sich nicht von selbst ändern, und es bedarf einer ziemlich radikalen Umgestaltung. Dieser Wandel wird stattfinden, wenn Russland eine Krise der Regierungsführung erlebt, die mit einem aktiven Willen zur Veränderung von unten einhergeht.

Deshalb muss die Linke darüber nachdenken, wie sie sich an dieser künftigen Massenbewegung beteiligen will. Das gegenwärtige Regime hat einen Wandel innerhalb des bestehenden institutionellen Rahmens unmöglich gemacht. Das Land braucht eine neue Verfassung, neue Gesetze, neue politische Parteien, und die KPRF wird aller Wahrscheinlichkeit nach zusammen mit dem Rest des derzeitigen politischen Systems auf dem Müllhaufen der Geschichte landen.

Eine Neubewertung der vergangenen Privatisierungen[16], die zur Grundlage des gegenwärtigen Regimes in Russland wurden, wird definitiv notwendig werden. Eine radikale Überarbeitung der Sozialpolitik wird notwendig sein, mit einer Abschaffung des von Putin eingeführten Arbeitsgesetzes, mit einer progressiven Besteuerung, mit einer neuen Haushaltspolitik für das Bildungs- und Gesundheitswesen, das jetzt nach dem Trickle-down-Prinzip finanziert wird[17].

Was die Gesellschaft darüber hinaus braucht, ist nicht nur eine Umverteilung der Mittel, sondern eine Revision der gesamten Philosophie, die der russischen Sozialpolitik in ihrer jetzigen Form zugrunde liegt. Heute wird sie vom Prinzip der Wirtschaftlichkeit bestimmt[18]: Hochschulen, Krankenhäuser und Museen sind allesamt marktwirtschaftliche Akteure, die Einnahmen erzielen und sich selbst finanzieren müssen. Ineffiziente Einrichtungen werden geschlossen, so dass der Staat nie einen Verlust hinnehmen muss. Die Prämisse, dass der Staat immer Gewinn machen muss, dass er mehr einnehmen sollte, als er ausgibt, muss überwunden werden. Der gesamte Bereich des Sozialwesens muss sich an den Bedürfnissen der Gesellschaft orientieren, nicht an der Effizienz auf dem Markt oder an der Rentabilität.

Darüber hinaus muss es ein Programm für die Gleichstellung der Geschlechter geben, mit einer Aufhebung all dieser Anti-LGBT-Gesetze[19] und mit neuen Gesetzen gegen häusliche Gewalt[20]. Es sollte ein spezielles Programm geben, um Russland in eine echte Föderation zu verwandeln, die es der lokalen Verwaltung ermöglicht, die regionalen Haushalte zu verwalten. Wir müssen auch den ethnischen Minderheiten die Möglichkeit geben, ihre Sprachen und Kulturen zu entwickeln, da sie sonst in einer Position der Ohnmacht und Opferrolle bleiben.

All diese Ziele sind eindeutig mit der Dezentralisierung der Regierungsführung in Russland verbunden. In welcher Form dies geschehen soll, ist eine offene Frage, aber ich bin sicher, dass die Dezentralisierung direkt mit der Demokratie verbunden ist. Je mehr Macht die Menschen vor Ort haben und je weniger davon im Zentrum verbleibt, desto langlebiger werden die demokratischen Institutionen Russlands in der Zukunft sein.


Übersetzung durch Redaktion, z.T. zur präzisen Wiedergabe wurde auch auf den ursprünglichen Interviewtext in Russisch Bezug genommen. Die zusätzlichen Hintergrundinformationen durch die russischsprachige Variante des Interviews werden als Fussnoten wiedergegeben. 

[1] Beschönigend behauptete Sjuganow selbst, dass Putin an der Idee des Sozialismus nichts auszusetzen habe. Sehr auffallend, Sjuganow erinnerte sich an das Treffen auch wie folgt: «Ich sagte zu den Anwesenden: Und seht euch an, wie Wolodin neben mir sitzt und lächelt — es macht ihm nichts mehr aus. Wir müssen das Team des Präsidenten, die Verwaltung, die Regierung von der Notwendigkeit eines neuen Kurses überzeugen — dann wird alles gut.» Dies verdeutlicht etwas, wie die KPRF ihre Agitation auf die Einflussnahme der staatlichen Elite ausrichtet. 

[2] Die sogenannte «Bolotnaja-Revolution»(«Болотная революция») bestand aus politischen Massenprotesten in Russland, die sich gegen die Ergebnisse der Wahlen zur Staatsduma und der Präsidentschaftswahlen vom Winter 2011 bis Mai 2012 richteten. Die Demonstrierenden behaupteten, die Wahl sei massiv gefälscht worden. Infolgedessen endeten die Protestmärsche mit Strafverfahren wegen Teilnahme an Massenunruhen und Gewalt gegen Vertreter:innen der Behörden. Mehr als drei Dutzend Personen waren in diese Verfahren verwickelt, von denen die meisten  zu Haftstrafen verurteilt wurden.

[3] Offiziellen Angaben zufolge erhielt die KPRF bei den Wahlen zur Staatsduma 2011 19 % der Stimmen. Nach Wählerumfragen und alternativen Auszählungen könnte die Partei jedoch rund 24-26 % der Stimmen erhalten haben. 

[4] Die Kuriergewerkschaft ist eine unabhängige Gewerkschaft, die sich für die Interessen der Zusteller:innen einsetzt. Sie entstand 2020 als Ergebnis einer spontanen Kundgebung von Beschäftigten des Delivery Club in Moskau. Die von dem Journalisten Kirill Ukraintsev geführte Gewerkschaft unterstützt die Kuriere bei Streiks und fordert die Abschaffung des illegalen Bussgeldsystems sowie den Abschluss von Arbeitsverträgen zwischen den Unternehmen und ihren Beschäftigten. 

[5] Die interregionale Gewerkschaft der Beschäftigten im Gesundheitswesen «Aktion» wurde im Dezember 2012 gegründet. Sie umfasst nun 115 Organisationen, die Tausende von Beschäftigten im Gesundheitswesen vereinen. Auf interregionaler Ebene wird die Gewerkschaft von einem internen Vorstand und den beiden Ko-Vorsitzenden, Andrei Konoval und Ekaterina Chatskaya, geleitet. 

[6] Die Föderation der unabhängigen Gewerkschaften Russlands (FNPR) wurde 1990 gegründet und ist der grösste Gewerkschaftsverband des Landes. Die Vertreter der FNPR arbeiten mit Putins de facto Partei ‘Einiges Russland‘ zusammen und unterstützen vor allem dessen Politik. 

[7] Ukraintsew war am 9. Februar 2023 unter dem sogenannten «Dada»-Artikel (genauer: der Artikel 212.1 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation, der ‘wiederholte Verstösse gegen die festgelegte Ordnung der Organisation oder Durchführung einer Versammlung, Kundgebung, Demonstration, Marsches oder Streiks’ ahndet; Anm. d. Red.) zu einem Jahr und vier Monaten Haft in einer Strafkolonie verurteilt worden – wegen wiederholter Verstösse gegen die Vorschriften für das Abhalten von Kundgebungen. Er wurde im Gerichtssaal freigelassen, da er seine Strafe in einem Untersuchungsgefängnis verbüsst hatte (ein Tag im Untersuchungsgefängnis zählte als zwei Tage in der Strafkolonie).

[8] Zu den lokalen Erfolgen: So drängte die Kuriergewerkschaft im Sommer 2020 darauf, dass Delivery Club die Löhne der Kuriere zahlt. Der Paketdienst versprach ausserdem, die Kontrolle über seine Partner zu verschärfen und einen Zwischenhändler zu verklagen, der seine Zahlungen einstellte. Im Jahr 2021 wurden dank der Bemühungen der unabhängigen Gewerkschaft «Konföderation der Arbeit» («Конфедерация Tруда») die Mitarbeiter:innen der Moskauer Metro, die wegen der Unterstützung von Alexej Nawalny entlassen worden waren, wieder eingestellt. 

[9] Technisch gesehen wäre es zwar noch möglich. Das Projekt Monitoring Labour Protests («Мониторинг Tрудовых Протестов») stellt jedoch fest, dass das russische Arbeitsrecht legale Streiks praktisch unmöglich gemacht hat.

[10] Das derzeitige Arbeitsgesetzbuch in Russland wurde im Dezember 2001 verabschiedet und trat am 1. Februar 2002 in Kraft. Es ersetzte das sowjetische Arbeitsgesetzbuch. 

[11] Worum geht es bei diesen Aktionen?

Nach Angaben der Zeitschrift «Werstka» («Верстка») haben Russ:innen im Jahr 2022 mindestens 86 Brandanschläge und mindestens 60 Sabotageakte auf Eisenbahnen verübt. Die Berichte werden von anonymen Communities veröffentlicht, die sich «Partisanen» nennen. 

[12] Beim «Penza-Fall» («Пензенское дело») oder dem Netzwerk-Fall handelt es sich um Strafverfahren wegen der Organisation des sogenannt terroristischen Netzwerks «Network» («Cеть»). Dabei wurden gegen mehrere linke Aktivist:innen aus Penza, St. Petersburg und Moskau Strafverfahren eingeleitet. Den Ermittler:innen zufolge hätte die Organisation «Network» Terroranschlägen im Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen und der Fussballweltmeisterschaft geplant. Die Anklagen stützten sich weitgehend auf die Geständnisse der Angeklagten; einige von ihnen gaben an, vom FSB gefoltert worden zu sein. 

[13] Was war in Shies:

Im Jahr 2018 begannen Umweltproteste gegen den Bau einer Mülldeponie im Bezirk Lensk in der Region Archangelsk. Die Bewegungen «Pomorye ist keine Müllkippe» («Поморье не помойка»), «Sauberes Urdoma» («Чистая Урдома»), die KPRF und die Linke Front setzten sich mit den Entscheidungen der regionalen Verwaltung auseinander. Im Jahr 2021 erklärten einige Aktivist:innen den Protest für erfolgreich. 

[14] Im Russischen steht endgültiger Sieg: Ситуацию, которую мы получили после 24 февраля, можно назвать финальной на данный исторический момент победой государства над обществом.

[15] 1918 schrieb Wladimir Lenin in einer Debatte mit Nikolai Bucharin über das Programm der RSDLP (b): «Wir sind jetzt definitiv für den Staat, aber zu sagen – um den Sozialismus in seiner sich entfaltenden Form zu charakterisieren, in der es keinen Staat gibt – hier kann nichts erfunden werden, ausser dass das Prinzip dann umgesetzt wird – von jedem nach seinen Fähigkeiten, zu jedem nach seinen Bedürfnissen. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Die Bausteine, aus denen sich der Sozialismus bilden wird, sind noch nicht vorhanden. Mehr können wir nicht sagen, und wir müssen so vorsichtig und präzise wie möglich sein. Darin, und nur darin, besteht die reizvolle Kraft unseres Programms.»

[16] Nach dem Zusammenbruch der UdSSR begann Russland mit der Überführung von staatlichem und kommunalem Eigentum in Privateigentum. Bis 2006 wurden fast 120.000 Unternehmen auf diese Weise privatisiert. Nach Angaben des Europa-Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften hält die Mehrheit der Russen den Privatisierungsprozess für ungerecht und revisionsbedürftig.

[17] Im Jahr 2023 haben die Behörden die Ausgaben für Verteidigung und Sicherheit erhöht, die etwa ein Drittel der Gesamtausgaben ausmachen werden. Gleichzeitig werden nach Angaben der Finanzuniversität der Regierung im Haushalt die Mittel für Gesundheit, Umwelt, kleine und mittlere Unternehmen und den Ausbau des Wohnungsbaus konsequent gekürzt.

[18] Während der Regierungszeit von Wladimir Putin wurde das Bildungssystem des Landes rationalisiert. So wurde nach Angaben der Rechnungskammer zwischen 2001 und 2018 die Zahl der Schulen auf dem Land von 46.000 auf 24.000 fast halbiert und die Zahl der Schulen in den Städten von 23.000 auf 18.000 reduziert. Laut Rosstat wurde auch das Gesundheitssystem stark «optimiert». So gab es beispielsweise 1990 in Russland 140.000 Betten für Infektionskrankheiten, 2018 sind es nur noch 59.000. Auch die Zahl der Mitarbeiter ist zurückgegangen: Die Zahl der Krankenpflegekräfte wurde um das 2,5-fache, die des Betreuungspersonals um fast 10 % und die der Ärzt:innen um 2,2 % reduziert.

[19] Ende 2022 erweiterten die Abgeordneten ein bereits bestehendes Gesetz gegen die sogenannte «Propagierung nicht-traditioneller sexueller Beziehungen» unter Minderjährigen und verboten so die Verbreitung jeglicher Nachrichten über LGBTQ+ und «Geschlechtsumwandlung» – in den sozialen Medien, in Nachrichtenunternehmen, in der Werbung und in Kunstwerken. Verstösse gegen das Gesetz werden mit Geldstrafen geahndet. Die «Propaganda» wird für Bürger mit 200’000 Rubel und für juristische Personen mit bis zu fünf Millionen Rubel geahndet.

[20] Im November 2019 wurde auf der Website des Föderationsrates ein Gesetzentwurf veröffentlicht, der häusliche Gewalt (re)definiert und Schutzmassnahmen für die Opfer vorsieht. Der Gesetzentwurf wurde von der Duma nie geprüft.

Bilderverzeichnis:

Titelbild: Alexander Zemlyanichenko / AP / Scanpix / LETA

Bild 1: Evgeny Feldman

Bild 2: Evgeny Feldman

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