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Ökosozialismus: Eine strategische Debatte eröffnen (Teil 2)

In diesem Beitrag antwortet Christian Zeller auf die Kritik von Urs Zuppinger an einigen seiner Aussagen über die Neuformierung einer pluralen Bewegung der Lohnabhängigen in seinem Buch „Revolution für das Klima. Warum wir eine ökosozialistische Alternative brauchen“. Dabei versucht Zeller zugleich einige weitergehende Überlegungen über die zu entwickelnde ökosozialistische Strategie anzustellen.

von Christian Zeller

Urs Zuppinger benennt in seiner Kritik zu Recht eine strategische Herausforderung, der ich zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet habe. Er greift mein bereits zu Beginn des Buches geäußertes Argument auf: „Ein Abgrund trennt beim aktuellen Stand des Klassenkampfs das Verhalten der Lohnabhängigen von den Anforderungen, die zu erfüllen sind um die konkrete Umsetzung der ökosozialistischen Perspektive zu ermöglichen.“ Er konstatiert, „dass der heutige Stand des Klassenkampfes, sowie das heutige Verhalten der Lohnabhängigen und die Handlungsspielräume, die sich daraus ergeben, in keiner Weise den Anforderungen genügen, die erfüllt werden müssen um die Umsetzung der nach unserer Einschätzung notwendigen Zielsetzung des Ökosozialismus zu gewährleisten und dass nur noch ganz wenig Zeit bleibt, um in dieser Sache eine radikale Verbesserung herbeizuführen, denn die Umsetzung unseres Projekts untersteht den genau gleichen, extrem kurzen Fristen wie der bevorstehende Klimakollaps.“ Urs Zuppinger kritisiert schließlich, dass meine Argumentation für „die Neuformierung einer pluralen und vielgesichtigen Bewegung der lohnabhängigen Bevölkerung gegen die Plünderung der Natur und Ausbeutung der Arbeit“ (S. 222) eine zu unklare, abstrakte und nicht erklärte Perspektive darstelle.

Urs Zuppingers Kritik ist berechtigt. Ich nehme seine Aufforderung gerne an, die Probleme meiner Perspektivvorschläge zu benennen, einige Gedankenanstöße von Urs Zuppinger kritisch aufzugreifen und damit auch meine Überlegungen und Vorschläge weiterzuentwickeln.

Urs Zuppinger spricht eigentlich drei Ebenen an:

  • Die erste Ebene betrifft den Neuaufbau einer Bewegung der Lohnabhängigen. Dieser Neuaufbau ist abhängig von der Entwicklung des Bewusstseins und damit ihrer Selbstkonstituierung als Klasse durch Kämpfe und kollektive Lernprozesse. Diese Prozesse sind auch mit der Herausforderung verbunden, neue Organisationsformen zu bestimmen und zu entwickeln.
  • Auf der zweiten Ebene geht es um die erforderliche soziale Verankerung der radikalen Klimabewegung.
  • Die dritte Ebene handelt von der Formierung und Organisierung einer revolutionären ökosozialistischen Strömung im transnationalen und schließlich globalen Maßstab.

Ich entwickle meine Antwort auf diesen drei Ebenen, die allerdings eng miteinander verbunden und voneinander abhängig sind.

Neuaufbau einer pluralen Bewegung der Lohnabhängigen

Die Gewerkschaften haben in vielen Ländern ihre soziale Verankerung in breiten der Teilen der Lohnabhängigen verloren. Das gilt besonders in der Schweiz. Aber auch in Deutschland und Österreich können die Unternehmen weitgehend befreit von gewerkschaftlichem Einfluss ihre Strategien zur verschärften Ausbeutung der Arbeitenden und Plünderung der Natur in die Tat umsetzen. Moderne und medienwirksame Kampagnen im Stile von Greenpeace, wie sie beispielsweise die Gewerkschaft UNIA führt, entsprechen mehr einer NGOisierung der Gewerkschaft. Sie können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gewerkschaften in wesentlichen Auseinandersetzungen über keine Streik-, Veto- und Verhandlungsmacht mehr verfügen.

Dieser Sachverhalt stellt nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch andere soziale Bewegungen, ganz besonders die Klimabewegung, vor grundsätzliche und strategische Herausforderungen. Dazu kommt, dass die Gewerkschaften weiterhin überholten produktivistischen Wachstumsvorstellungen verhaftet sind. Sie meinen, die sozialen und wirtschaftlichen Krisen ließen sich durch eine Ankurbelung der Wirtschaft mit Hilfe einer keynesianischen Nachfrageförderung lösen. Die Vorstellung eines „ökologischen“ Wachstums ist solange illusorisch, als damit eine Steigerung des Energie- und Stoffdurchsatzes verbunden ist. Doch es gibt keine Hinweise darauf, dass wirtschaftliches Wachstum bei gleichzeitiger Reduktion des Energie- und Stoffdurchsatzes möglich ist.

Das heißt, die Klimabewegung im Allgemeinen und die ökosozialistische Strömung im Speziellen stehen vor einem doppelten Problem. Die Gewerkschaften sind nicht nur schwach verankert, sondern deren Führungen und wohl auch ein beträchtlicher Teil der Mitgliedschaft sind weit davon entfernt, die ökologische Krise ernst zu nehmen.

Darum habe ich im Buch geschrieben, dass wir vor der Aufgabe eines Neuaufbaus einer pluralen Bewegung der Lohnabhängigen stehen, die sich den ökologischen Restriktionen bewusst ist. Allerdings war und bin ich nicht in der Lage zu erklären, wie das geschehen soll. Immerhin können wir in der jüngeren Geschichte der Arbeiter:innenbewegung einige Anknüpfungspunkte für Neuformierungsprozesse erkennen, die allerdings bescheiden und fragmentiert sind. Die Aufgabe einer revolutionären ökosozialistischen Strömung besteht darin, von diesen Versuchen zu lernen, zu derartigen Bewegungen anzuregen und sie zusammenzuführen.

  • Der erfolgreiche Widerstand der Arbeiter:innen der SBB-Werkstätten in Bellinzona gegen die Schließung der „Officine“ und für eine solidarische und ökologische regionale Industriepolitik im Jahr 2008 war beispielhaft, weil er zeigte, wie die Verteidigung guter und sinnvoller Arbeit mit dem Kampf für gute Lebensbedingungen in der Region zusammen gehören.
  • Die Organisierung von Fachperson der Kinderbetreuung in der Gruppierung TrΩtzphase in Zürich seit 2016 zeigt, dass der Kampf für gute Sorgearbeit und gute Arbeitsbedingungen eine zentrale Achse einer feministischen Bewegung der Lohnabhängigen ist.
  • Die gemeinsame Kampagne der Gewerkschaft ver.di und von Fridays for Future in Deutschland im Herbst 2020 für gute Tarifverträge für die Busfahrer:innen demonstrierte, dass ein guter öffentlicher Verkehr mit guten Arbeitsbedingungen unabdingbare Voraussetzung für eine Reduktion des Autoverkehrs und einen Rückbau der Autoindustrie ist. Leider brach die Gewerkschaftsbürokratie die Auseinandersetzung vorzeitig ab.
  • Mit ihrem von der Gewerkschaft CGT getragenen und von Umweltorganisationen unterstützten Streik demonstrierten die Beschäftigten der Total-Raffinerie in Grandpuits (65 km südöstlich von Paris) zu Beginn des Jahres 2021, dass die Konversion der Erdölindustrie ein gemeinsames Anliegen der Beschäftigten und der Bevölkerung ist, um die Arbeitsplätze zu verteidigen.
  • Der gegenwärtige Widerstand von Arbeiter:innen in Frankreich gegen die Privatisierung des Staatskonzerns EDF (Électricité de France) ist auch ökologisch relevant. Denn die Energieversorgung muss öffentlich und demokratisch organisiert sein. Staatskonzerne funktionieren zwar auch nach kapitalistischen Prinzipien, doch wenn der Kampf gegen Privatisierungen mit einer Strategie für demokratische und gesellschaftliche Aneignung verbunden wird, bietet er die Möglichkeit, die sozial gerechte und ökologisch verträgliche Energieversorgung auf die Tagesordnung zu setzen.
  • Die wiederholten und wieder vorbereiteten Streiks der Lokführer:innen in Deutschland zeigen, dass auch eine Gewerkschaft wie die GDL, die sich lange Zeit nur für den eigenen Berufstand einsetzte, zu kämpferischen Maßnahmen im Sinne es guten öffentlichen Verkehrs schreiten kann.
  • Die Angestellten in vielen Spitälern in Deutschland und im Juni 2021 in Lausanne kämpfen für gute Arbeitsbedingungen, angemessene Löhne und ein gutes Gesundheitssystem. Die ausgebaute gesellschaftliche Infrastruktur in den Bereichen Gesundheit, Pflege, Sorge und Bildung ist eine zentrale Achse für einen sozial-ökologischen Umbau der Gesellschaft. Sie ist Voraussetzung für einen Um- und Rückbau der emissionsstarken Industrien. Ein strategisches Bündnis zwischen Klimabewegung und Beschäftigten im Gesundheits-, Pflege- und Bildungswesen könnte ein wichtiger Schritt für den feministischen und ökologischen Aufbau einer neuen und pluralen Bewegung der Arbeitenden sein.

Diese Erfahrungen waren und sind sehr unterschiedlich, leider noch beschränkt und fragmentiert. In einigen Fällen brach die Gewerkschaftsbürokratie die Auseinandersetzung ab, in anderen Fällen erlaubte es das Kräfteverhältnis nicht, eine weitergehende Bewegung zu entwickeln. Doch diese Bewegungen deuten darauf hin, dass der Neuformierungsprozess einer kämpferischen Bewegung der Arbeitenden ein Prozess mit vielen Facetten ist und andauern wird. Zugleich lässt sich erkennen, dass der Kampf für gute Arbeitsbedingungen zugleich immer nur eingebettet in einen Kampf für eine gute soziale Infrastruktur und gegen die ökologische Zerstörung erfolgreich zu führen ist. An diesen Arbeitskämpfen beteiligten sich in erheblichem Maße auch Lohnabhängige mit unsicherem Aufenthaltsstatus und viele, die in der formalen bürgerlichen parlamentarischen Demokratie über keinerlei Rechte verfügen.

Dennoch müssen wir schmerzlich feststellen, dass die soziale und ökologische Organisierung in zentralen Sektoren der Wirtschaft wie der Maschinen-, Chemie-, Pharma-, Automobil- und Energieindustrie äußert schwach entwickelt ist. Die bestehenden Gewerkschaften wie die IG Metall und die IGBCE in Deutschland [Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie und Energie], die Produktionsgewerkschaft RRO GE, die Gewerkschaft der Privatangestellten GPA und die Gewerkschaft Vida in Österreich und auch die sich immer wieder fortschrittlich gebende UNIA in der Schweiz sind weit davon entfernt, die ökologischen Herausforderungen auch nur ansatzweise zu erkennen und die entsprechenden Konsequenzen in ihren Arbeitsfeldern zu ziehen. Wenn sie das täten, müssten sie sich der Wettbewerbs- und Profitlogik entgegenstellen und für eine konsequente ökologische Konversion der Wirtschaft bei Erhalt der Beschäftigung sowie für eine allgemeine radikale Arbeitszeitverkürzung kämpfen. Das tun sie aber nicht. Das können sie vielleicht auch nicht, weil sie zu wenig in den Betrieben verankert sind.

Es ist dringend erforderlich, eine breite gesellschaftliche Debatte über den erforderlichen industriellen Rück- und Umbau zu initiieren. Selbstverständlich ist diese Debatte auch mit den Gewerkschaften zu führen, denn die Beschäftigten vor Ort in den Betrieben können mit ihrem Erfahrungswissen zentrale Akteur:innen dieses Umbauprozesses sein. Die bisherigen Erfahrungen solcher Bemühungen zur Konversion von Rüstungsbetrieben in den 1970er Jahren und von Werften in den 1980er Jahren bieten einige Anhaltspunkte dafür, um zu verstehen, welche riesigen Hürden dabei zu überwinden sind. Die ökosozialistischen Strömungen und Organisationen tragen eine große Verantwortung sich an Bewegungen wie den oben genannten zu beteiligen, diese Auseinandersetzungen mit praktischen Vorschlägen voranzutreiben und die verschiedenen Ansätze in einer Strategie des antikapitalistischen Bruchs zusammenzuführen (dazu mehr weiter unten). Der dringende Neuaufbau einer pluralen Bewegung der Lohnabhängigen kann also nur gelingen, wenn die Gewerkschaften zusammen mit progressiven sozialen Bewegungen die Anliegen für gute und gut entlohnte Arbeit, für Gesundheit und für ein gutes Leben mit einer ausgebauten weitgehend frei zugänglichen gesellschaftlichen Infrastruktur, und einen ökologisch verträglichen Stoffwechsel mit der Natur miteinander verbinden. Unterschiedliche Diskriminierungserfahrungen müssen in den Kämpfen und in einem sozial-ökologischen Programm ihren Ausdruck finden. Nur wenn Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus und politische Rechte sich in eine kämpfende Bewegung der Arbeitenden einbringen und diese mitgestalten, können die Lohnabhängigen in ihrer Gesamtheit sich wieder Klasse konstituieren und die Gesellschaft in ihrem Sinne verändern.

Klimabewegung gesellschaftlich verankern

Urs Zuppinger beklagt zu Recht die mangelnde gesellschaftliche Verankerung der Klimabewegung. Er argumentiert, „dass es für die Überwindung der Klimakrise von entscheidender Bedeutung ist, dass die Lohnabhängigen das Selbstvertrauen in ihre soziale Rolle zurückgewinnen. Dies kann meiner Ansicht nach nicht durch Appelle von außen bewirkt werden, sondern nur durch eine Erstarkung der arbeitenden Klasse aus ihrem Innern heraus und ich bin überzeugt, dass die gut geschulten jungen Aktivist:innen der Klimabewegung selber einen Teil der Lösung dieses Problems sind.“

Diesem Befund stimme ich zu. Doch was folgt daraus? Urs Zuppinger schlägt eine besondere Langzeitstrategie vor, um dieses Problem anzupacken. Viele Klimaaktivist*innen sollen sich beruflich sinnvoll verankern und gewerkschaftlich aktiv werden.

Viele gut ausgebildete Klimaaktivist:innen stehen vor der Frage, wie sie leben und welchen beruflichen Weg sie einschlagen wollen. Urs Zuppinger warnt explizit davor, dass Klimaaktivist:innen versuchen sollten, Jobs im Gewerkschaftsapparat zu erhalten. Er verweist dabei auf die Erfahrungen früherer Generationen radikalisierter gut ausgebildeter Aktivist:innen, die beispielsweise in der zweiten Hälfte der 1980er und in den 1990er Jahren und später im Gefolge der globalisierungskritischen Bewegung in den 2000er Jahren in den Gewerkschafsapparat einstiegen. Anstatt die Gewerkschaften wirklich neu und auf einer unabhängigen Klassenposition aufzubauen, trugen sie zum modernen scheinradikalen Facelifting der Gewerkschaften bei und haben sich dabei gleichzeitig zu moderneren Bürokrat:innen als ihre Vorgänger:innen entwickelt.

Urs Zuppinger schlägt demgegenüber einen vergleichsweise banalen Weg vor, den es allerdings mit einer politischen Organisierungsperspektive zu verbinden gelte:

„In der Privatwirtschaft oder einem öffentlichen Dienst eine „normale“ Berufstätigkeit ausüben ist meiner Ansicht nach, das Beste, was Aktivist:innen der Klimabewegung am Ende ihrer Berufsausbildung anstreben können, insbesondere wenn es denjenigen, die es schaffen, danach gelingt ihre berufliche Tätigkeit über kurz oder lang mit der kollektiven Verteidigung der Arbeitsbedingungen am Arbeitsplatz zu kombinieren.“

Ich halte diesen Vorschlag für sinnvoll. Doch ich warne davor, ihn als Lösung der eingangs genannten großen Herausforderungen zu verstehen. Urs Zuppinger hält richtig fest, dass die Lohnabhängigkeit für einen Großteil der Klimaaktivist:innen ohnehin die eigene Zukunft bedeutet. Er schreibt auch zur Recht, dass diese berufliche Verankerung nur „eines der erstrebenswerten Teilstücke der Strategie, die es im kollektiven Austausch und im Hin und her zwischen Überlegung und Erfahrung auszudenken gilt“, sein kann.

Nun stellt sich die Frage, welche Teilstücke denn diese Strategie umfassen soll. Ich benenne nur einige Probleme dieser Orientierung und frage danach, wie die Elemente dieser Strategie miteinander interagieren können. Die von Urs Zuppinger vorgeschlagene Orientierung der beruflichen Verankerung stößt auf zahlreiche praktische und grundsätzliche Probleme.

  • Zunächst ist unklar, wie in einer sozialen Bewegung eine kollektive Diskussion über ausgesprochen persönliche biographische Entscheidungen geführt werden kann. Gerade in den ausgesprochen individualisierten deutschsprachigen Ländern ist das praktisch schwer vorstellbar.
  • Dann stößt die Strategie auf die Herausforderung, mit den gängigen Integrations- und Absorptionsmechanismen der kapitalistischen Gesellschaft umzugehen. Als einfache Gewerkschaftsmitglieder sind die Angehörigen der „neuen Generation“ nicht automatisch radikaler, als wenn sie eine Laufbahn in der Gewerkschaftsbürokratie starten würden. Sie können beruflich aufsteigen, sich kleine Privilegien erarbeiten, ihre familiären und sozialen Beziehungen ins Zentrum rücken und sich schließlich mit den Zwängen des Alltags abfinden.
  • Wenn es also nicht gleichzeitig mit der beruflichen Verankerung gelingt, einen umfassenden Organisierungsprozess auf klassenkämpferischer, feministischer und ökologischer Grundlage voranzutreiben, bleibt die von Urs Zuppinger vorgeschlagene Perspektive politisch wirkungslos.

Selbstverständlich muss sich die Klimabewegung und vor allem ihr ökosozialistischer Flügel gesellschaftlich verankern. Doch hierzu gibt es keinen Idealweg. Erfolgversprechende Zugänge können sich von Land zu Land und von Region zu Region unterscheiden. Finden in einer Region kristallisierende Kämpfe statt, können diese die Konstellation und Dynamik abrupt ändern und neue Möglichkeiten eröffnen. Ebenso können die langanhaltende Passivität und Erfolglosigkeit in eine politische Depression münden und die Orientierungslosigkeit verschärfen.

Um die gesellschaftliche Verankerung der systemverändernden Klimabewegung und den betrieblichen Organisierungsprozess voranzutreiben sind also mehrere Wege möglich. Je nach Kontext und konkreten Bedingungen, kann einmal der eine, dann wieder der andere Weg wirksamer sein. Sie schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen sich.

  • Entscheidend ist, dass die Klimabewegung so stark wird, dass sie durch eine geeignete Politik Druck auf die Gewerkschaften auszuüben vermag, um diese zu einer ökologischen Umorientierung zu bringen. Diese Stärke erlangt sich durch eine Kombination unterschiedlicher Strategien und Aktionsformen, die von Petitionen, über Abstimmungs- und Wahlkampagnen und Demonstrationen bis hin zu Besetzungsaktionen reichen.
  • Es kann punktuelle oder auch weitergehende Kooperationen und Bündnisse von Klimabewegung und Teilen der Gewerkschaften bei konkreten politischen Auseinandersetzungen geben, wie das oben erwähnte Beispiel der Gewerkschaft ver.di und Fridays for Future und der sehr unterschiedliche Kampf der Raffineriearbeiter:innen von Total in Grandpuits in Frankreich zeigen.
  • An verschiedenen Orten versuchen antikapitalistische Klimagruppen mit Beschäftigten der Automobilindustrie ins Gespräch zu kommen. Das sind beschränkte und dennoch wichtige Erfahrungen. Erfolge werden sich aber nicht kurzfristig einstellen.
  • Dort wo das möglich ist, können Lohnabhängige mit Unterstützung durch Ökososzialist:innen gewerkschaftliche Netzwerke für ökologische Industriekonversion aufbauen.
  • Zugleich kann es auch sinnvoll sein, Einfluss im gewerkschaftlichen Mittelbau zu erlangen und damit kampagnenfähig zu werden. Urs Zuppinger ist aufgrund der bisherigen Erfahrungen in der Schweiz skeptisch gegenüber diesem Weg. Das ist verständlich. Das heißt aber nicht, dass dieser Weg grundsätzlich auszuschließen ist. Erfahrungen aus den USA und Deutschland mit „Organizing“-Kampagnen deuten darauf hin, dass auf diese Weise zumindest teilweise eine gewerkschaftliche Erneuerung möglich ist. Allerdings gilt das nicht überall. Beispielsweise bleibt es schwierig und vielleicht sogar unmöglich die IG Metall oder gar die IGBCE in Deutschland für ein „sozial-ökologisches“ Umbauprogramm zu gewinnen.
  • Allerdings kann es auch sinnvoll sein, betriebliche Strukturen – beispielsweise Arbeitskreise zu Arbeit – Gesundheit – Klima in Betrieben jenseits und unabhängig von Gewerkschaften aufzubauen. Das ist besonders dort angesagt, wo sich die Gewerkschaften einer ökologischen Erneuerung verschließen. Dieser Weg der autonomen Organisierung kann sogar generell ein wichtiger Pfeiler sein, der sich auch mit einer Arbeit in den Gewerkschaften verbinden lässt.

Diese Beispiele zeigen, dass die Orientierung auf die Gewerkschaften und eine betriebliche Verankerung sehr unterschiedlich ausfallen kann, je nach Kräfteverhältnissen und des Verständnisses der Gewerkschaften für die Dringlichkeit wirksamer Maßnahmen zur Reduktion der Treibhausgasemissionen. Wir müssen alles ausprobieren. Welcher Weg Aktivist:innen auch immer wählen mögen, klar ist: Im Zentrum steht immer das strategische Ziel, die Selbstartikulation und Selbstorganisierung der Lohnabhängigen zu befördern. Gerade in den Sektoren der Wirtschaft, in denen die Gewerkschaften selber schwach verankert sind oder sich durch eine reaktionäre Bestandsicherungs- und Wachstumspolitik auf die Interessensvertretung relativ privilegierter Schichten von Lohnabhängigen zurückziehen und sich zugleich komplett den Wettbewerbs- und Profitanliegen der Unternehmen unterordnen, steht die Klimabewegung vor Herausforderungen, die nicht einfach zu lösen sind. Eine ganz besondere Herausforderung besteht unmittelbar darin, konkrete Projekte zu entwickeln, um mit jungen (migrantischen) Arbeiter:innen in Diskussion zu kommen. Sie müssen ihre Anliegen in die Klimabewegung einbringen können. Das ist ein wichtiger Aspekt für die gesellschaftliche Verankerung der Klimabewegung.

Alle diese Perspektiven in Richtung Neuformierung einer pluralen und ökologisch bewussten Bewegung der Arbeitenden schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen sich vielmehr. Gerade in ihrer gegenseitigen Verschränkung können sie wirksam sein.

Revolutionäre ökosozialistische Strömung aufbauen

All diese Bemühungen brauchen allerdings Akteur:innen und Organisationen, die diese strategischen Herausforderungen annehmen, planen, vorschlagen, Erfahrungen austauschen, gemeinsam lernen und vor allem wirksam organisieren. Ganz entscheidend ist: Es braucht transnationalen Austausch und wir müssen ein Bewusstsein für die globale Dimension der Herausforderung schaffen.

Darum braucht es international koordiniert arbeitende revolutionäre ökosozialistische Organisationen. Dabei steht der nicht Aufbau neuer Organisationen im Vordergrund, sondern vielmehr die ökosozialistische Sensibilisierung bestehender sozialistischer Organisationen und Parteien. Das im Jahr 2020 gegründete Global Ecosocialist Network setzt sich genau das zur Aufgabe. Das war auch ein Ziel der internationalen ökosozialistischen Konferenz am 26./28. Juni 2020.

Ich bin überzeugt, dass eine programmatisch klare und aktionsfähige internationale ökosozialistische Strömung nötig ist, die den Erfahrungstausch unter den beteiligten Personen und Organisationen vorantreibt um gemeinsam in die Auseinandersetzungen, beispielsweise über den industriellen Um- und Rückbau, zu intervenieren. Diese Strömung kann sich in und neben bestehenden revolutionär sozialistischen Organisationen artikulieren oder auch zur Herausbildung solcher Organisationen beitragen. Die konkrete organisatorische Form passt sich sinnvollerweise den Bedingungen in den Ländern und Regionen an.

Die Menschen für die ökosozialistische Strömung/Organisation gewinnen wir zunächst zumeist in der Klimabewegung, in der feministischen Bewegung, im Gesundheitswesen und in anderen öffentlichen Diensten. Selbstverständlich gilt es auch junge Arbeiter:innen in Industriesektoren zu gewinnen. Doch das erfordert unterschiedliche Versuche und gegenseitige, zeitintensive Lernprozesse. Durch die Organisierung junger Lohnabhängiger lässt sich auch die Bewegung der Arbeitenden erneuern, allerdings hängt der Erfolg dieser Arbeit auch wieder davon ab, ob ökosozialistische Organisationen diese Herausforderung aktiv und bewusst annehmen.

Die revolutionäre ökosozialistische Strömung sollte in ihrer Alltagsarbeit die umfassende globale Dimension und Dringlichkeit der ökologischen Krise und die Schärfe der sozialen Widersprüche zum Ausgangspunkt nehmen, um eindringlich die Notwendigkeit des Bruchs mit den kapitalistischen Zwängen der Akkumulation, des Profits und der Konkurrenz und die Aktualität eines ökosozialistischen revolutionären Prozesses zu erklären. Allerdings besteht eine große Herausforderung darin, wie wir uns darauf einstellen, dass sich durch die weiterhin ungebremste Erderwärmung große gesellschaftliche Katastrophen und Krisen ereignen werden. Aus dem Überschreiten der Kipppunkte des Erdsystems erwachsen abrupte Wendungen und Brüche, die sich allerdings geographisch und gesellschaftlich sehr ungleich vollziehen. Es ist völlig unklar, wie die Menschen auf diese abrupten Veränderungen ihrer Lebensbedingungen reagieren. Umso stärker stehen Ökosozialist:innen vor der Aufgabe, sich inhaltlich und organisatorisch auf diese Brüche einzustellen, die sowohl Chancen auf revolutionäre Aufbrüche als Gefahren reaktionärer und barbarischer Finsternisse mit sich bringen.

Ganz unmittelbar stellt sich auch die Frage, wie sich mit konkreten Kampagnen, beispielsweise den Klimastreik-Aktionen in der Schweiz, der Mobilisierung gegen die internationale Automobilausstellung vom 7. bis 12. September 2021 in München und der internationalen Mobilisierung zur nächsten Weltklimakonferenz (COP26) vom 1. bis 11. November 2021 in Glasgow auch die langfristige Verankerung vorantreiben lässt.

Diese Anlässe machen es erforderlich, die internationalen Mobilisierungen mit einer lokalen Aufbau- und Organisierungsarbeit tragfähig zu machen, die zugleich die Notwendigkeit des antikapitalistischen Bruchs und ökosozialistischen Aufbruchs in breite Teile der Lohnabhängigen trägt.

Der Beitrag wurde am 25. Juni 2021 verfasst.


Feedback von Urs Zuppinger vom 31. August 2021

Als Erstes möchte ich Christian Zeller danken für die Art und Weise, wie er auf meine Kritik an seinem Buch reagiert hat. Er geht in seiner Antwort darauf ein, hat die Lösungsansätze, die ich in meinem Beitrag skizziert habe, kritisch untersucht und ergänzt sie durch eine breite Palette von Vorschlägen zusätzlich notwendiger oder erstrebenswerter Initiativen und Maßnahmen, denen ich weitgehend zustimmen kann.

Ich wäre froh, wenn andere Aktivisten oder Gruppierungen aus dem ökosozialistischen Lager und darüber hinaus diese Frage aufnehmen, in Umsetzungsversuche überführen und weiterdiskutieren würden, mit dem Ziel ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass hier eine zentrale strategische Schwierigkeit besteht, die es in einem kollektiven Lernprozess zu lösen gilt, der in keinem Fall hinausgeschoben werden darf , für dessen erfolgreichen Ablauf es jedoch dringen nötig wäre , ein System aufzubauen, das den Erfahrungsaustausch unter all denen gewährleistet, die sich dieser Aufgabe widmen.

Christian Zeller plädiert in seiner Antwort für den Aufbau einer revolutionären, ökosozialistischen Strömung und benutzt seine Antwort auf meine Kritik dafür mit einer reichen Palette von Vorschlägen auszumalen, wie diese Aufgabe vollzogen werden könnte . Wenn der gegenseitige Erfahrungs- und Ideenaustausch zu den Aufgaben dieser Strömung gehören würde, könnte ich mich mit seinen Vorschlägen anfreunden. Sie lösen allerdings nicht alle Probleme mit denen wir in Sachen Reaktivierung einer kampffähigen Klasse der Lohnabhängigen heute konfrontiert sind.

Enttäuscht bin ich bloß deshalb von seiner Stellungnahme zum „vergleichsweise banalen Weg“, den ich vorgeschlagen habe, um die Kluft zu überbrücken, welche die Klimabewegung beim heutigen Stand der Dinge vom Alltag der Lohnabhängigen trennt. In einem ersten Schritt bezeichnet er ihn zwar als sinnvoll in seiner Antwort. Kurz danach meldet er jedoch Zweifel an seiner konkreten Umsetzbarkeit an, mit dem Argument die Berufswahl stelle eine „ausgesprochen persönliche Entscheidung“ dar und es sei deshalb „unklar, wie in einer sozialen Bewegung eine kollektive Diskussion darüber geführt werden kann“.

Diese Argumentation kommt doch direkt aus der Küche des neoliberalen Personalmanagements. Deshalb ist sie, wie bei fast allem, was aus dieser Ecke kommt, auf den ersten Blick glaubwürdig, weil sie alle Ingredienzen eines pragmatisch feststellbaren Tatbestandes hat. Allerdings nur für alle diejenigen, die davon ausgehen, dass die bestehenden sozialen Kräfteverhältnisse unveränderbar sind, während wir Ökosozialisten doch, wenigstens meiner Ansicht nach, davon ausgehen sollten, dass genau das nicht zutrifft.

Persönlich bin ich mit meinen über 80 Jahren nicht mehr in der Lage in dieser Angelegenheit eine Vorreiterrolle zu spielen. Ich kann nur bezeugen, dass ich in meinen über 50 Jahren  Aktivismus immer wieder konkrete Erfolge einholen konnte, weil ich davon ausgegangen bin, dass es keine Riesenzahl von Vorreitern einer alternativen, auf die kurzfristige Umsetzbarkeit von sozialen Mobilisierungen setzenden politischen Strategie braucht, um in sozialen Auseinandersetzungen konkrete Schritte vorwärts zu machen, auch wenn die Ausgangslage schon zu meiner Zeit in den meisten Fällen alles andere als erfolgsversprechend ausgesehen hat.

Mit anderen Worten: ich habe meinen Diskussionsbeitrag zur Frage, wie die Lohnabhängigen für den Kampf gegen die Klimakrise mobilisiert werden können, geschrieben, um wenigstens ein paar Aktivisten der Klimabewegung, die auf der Suche nach einer passenden Berufsausbildung oder Anstellung sind, davon zu überzeugen, dass es sich dabei nicht, wie gemeinhin angenommen und von Christian Zeller so übernommen, um „eine ausgesprochen persönliche Entscheidung“ handelt, sondern um eine Wahl mit politischen Auswirkungen, die es verdient kollektiv diskutiert und umgesetzt zu werden.

Nach meiner persönlichen Erfahrung genügt es vielfach, dass sich ein paar Duzend Aktivisten koordinieren (wo möglich geografisch relevant, d.h. in unserem Fall landes- oder besser noch überlandesweit), damit es möglich wird, mit einer solchen kollektiven Vorgehensweise konkrete Schritte vorwärts zu machen. Der Erfolg  kann freilich nicht im Voraus gewährleistet werden, die Tatsache, dass Versuche unternommen werden, würde zumindest aufzeigen, dass die Zukunft nicht hoffnungslos verbaut ist und dass die Klimabewegung hier einen Beitrag leisten kann. Mehr liegt für sie heute kaum drin, es ist aber schon viel. In meinen Augen wäre die konkrete Umsetzung dieses Vorschlages mit Sicherheit wirkungsvoller als das, was die Klimabewegung bis heute ausprobiert hat, nämlich die Publikation von Appellen an bestehende Gewerkschaften und die Zusammenarbeit mit  Gewerkschaftsfunktionären. Die Bereitschaft für den kollektiven Kampf für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Lohnabhängigen muss am Arbeitsplatz wiedererwachen und wenn diese einmal  wieder da ist und ihre Effizienz im Arbeitsalltag bewiesen hat, wird es plötzlich vorstellbar werden, dass die Klasse der Lohnabhängigen im Kampf gegen die Klimakatastrophe jene Rolle einnehmen, die Christian Zeller ihr im Kapitel 10.2 seines Buchs zu Recht zugewiesen hat. In dieser Sache hat Christian in seiner Antwort auf meine Kritik an seinem Buch meiner Ansicht nach  nichts entwickelt, was glaubwürdiger wäre als meine Aufforderung an die jungen, vor der Berufswahl stehenden Aktivisten der Klimabewegung hier selber einen konkreten Beitrag zu leisten. Wenn ich ihnen hier mit meiner bescheidenen Erfahrung beistehen kann, stehe ich gerne zur Verfügung.

In seiner Gesamtheit ist das Problem mit diesem Vorschlag freilich bei weitem nicht gelöst, aber die Klimabewegung ist in dieser Sache nicht allein handlungsfähig. Gegenüber den Anhängern des grünen Kapitalismus, die von den Medien massiv hochgespielt werden, können und müssen Bürgerinitiativen und ökosozialistische Gruppierungen als Gegengewicht eine wichtige Rolle spielen und sollten dazu mit allen Mitteln ermutigt werden. Gewisse Gewerkschaften, wie z.B. SUD in Frankreich oder Ver.di in Deutschland sind schon aktiv in diesem Aktionsbereich, andere können es werden. Bürokratisierung ist kein Wesenszug der Gewerkschaften und kennt deshalb Ausnahmen, die es auszunutzen gilt.

In kürzester Frist maßgeblich verbessert werden muss schliesslich der Erfahrungsaustausch unter all denen, die etwas zu Gunsten eines ökosozialistischen Ausstiegs aus der Klimakrise tun, sowie zu Gunsten einer effizienteren Koordination all dieser Aktionen untereinander, lokal und international, auf allen Maßstabsebenen, die in dieser Sache relevant sind.

Abschliessend sei betont, dass es neben dem Vorschlag, den ich in meinem Diskussionsbeitrag vom 3. Januar gemacht habe, eine Vielzahl von anderen Vorstössen und Aktionen brauchen wird, bis die Klasse der Lohnabhängigen in der Lage sein wird, diejenige Rolle einzunehmen auf dem Weg zur ökosozialistischen Alternative, die ihr Christian Zeller in seinem Buch mit Recht zuweist. Mit meinem Vorschlag will ich bloss den Klimaaktivisten zu Bewusstsein bringen, dass sie von heute an selber einen Beitrag leisten können um diesem Ziel näher zu kommen.

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