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Gegen die Ökonomisierung und Privatisierung des Gesundheitswesens!

Einer der Gründe, warum das Corona-Virus für die Menschen so gefährlich ist und die Welt auf den Kopf stellt, ist weil es in allen Ländern auf teilprivatisierte, kaputtgesparte oder nicht vorhandene Gesundheitswesen trifft. Auch in der Schweiz wurde das Gesundheitswesens seit den 1990er systematisch an neoliberale, marktwirtschaftliche Prinzipien angepasst. Der folgende Artikel wurde noch vor der Corona-Krise geschrieben. Er geht dem Prozess der Ökonomisierung auf den Grund, analysiert deren Mechanismen, benennt die Schuldigen, kritisiert die unsozialen Auswirkungen und macht Vorschläge für ein Gesundheitssystem, das sich an der Gesundheit der Bevölkerung und nicht am Profit der Krankenkassen und der Gesundheitsindustrie orientiert.

von BFS/MPS

Gesundheit ist ein soziales und politisches Thema von besonderer Bedeutung, und zwar aufgrund des Aufeinandertreffens von drei Dynamiken:

1. Gesundheit als Menschenrecht: Das „Recht auf das erreichbare Höchstmass an Gesundheit“ stellt ein von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) anerkanntes Grundrecht jedes Menschen dar. Dieses Recht bestätigt die Erfahrung, dass die Gesundheit in der Tat eines der wertvollsten Güter der Menschen ist – eine Erfahrung, die im Übrigen am häufigsten dann gemacht wird, wenn die Gesundheit zu schwinden anfängt. Die Umsetzung dieses Rechts ist mit der Verfügbarkeit und dem Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen sowie anderen sozialen Grundrechten, wie – in den Worten der WHO – dem „Recht auf Nahrung, Unterkunft, Arbeit [ohne Gesundheitsgefährdung], Bildung, Nicht-Diskriminierung, Zugang zu Information und Teilhabe“, verknüpft. Die Gesundheit ist also untrennbar mit den Haupt-Interessenskonflikten in unserer Gesellschaft und den durch sie ausgedrückten emanzipatorischen Bestrebungen verbunden. 

2. Gesundheitswesen als Investitionsfeld: Der Gesundheitssektor hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem bedeutenden Investitionsfeld für das Kapital entwickelt. Zu den historischen Sektoren der Pharma oder der medizinischen Geräte und Prothesen kamen in der Schweiz im Laufe der Zeit Dienstleistungsketten (Spitäler, Hauspflegedienste, Altersheime), der Freizeit- und der „Sektor des Wohlbefindens“ (Fitness, Wellness etc.), die Informatik und, nicht zu vergessen, die Finanz- und Versicherungsaktivitäten hinzu. Daraus folgt, dass die wachsenden Anteile dieser Aktivitäten prioritär gemäss den spezifischen Anforderungen der Aufwertung des Kapitals (rentable Gestaltung etc.) organisiert und entwickelt werden. Dabei werden die Bedürfnisse, die sich aus dem Gesundheitszustand der Bevölkerung ergeben, untergeordnet und neu definiert. 

3. Wachstum des Gesundheitswesens: Die Gesundheitsdienste sind zu einem der wichtigsten und am stärksten wachsenden Aktivitätsbereiche geworden. In der Schweiz finden sich heute fast 11% der Arbeitsplätze (Vollzeitäquivalente) im Bereich der Gesundheitsdienstleistungen. Dieser Anteil lag im Jahr 1991 bei weniger als 7%. Wenn man die Industrie (Pharma, medizinische Geräte) und den Handel (Apotheken) berücksichtigt, so ist der Anteil der gesundheitsbezogenen Arbeitsplätze noch höher. Für eine Mehrheit der im Gesundheitswesen beschäftigten Personen bedeutet ihre Arbeit ein tagtägliches Experimentieren mit den Widersprüchen zwischen den Weisungen als Untergebene eines gewinnorientierten Unternehmens und ihrem beruflichen Ideal, das auf eine bestmögliche Behandlung und Pflege jeder Person aufbaut. 

Seit dem Inkrafttreten des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) im Jahr 1996 ist der Gesundheitsbereich ein Gebiet, in dem sich ein Bündel von Gegenreformen entfaltet. Diese verändern von Grund auf die Gesundheitsdienste und ihre Finanzierung, den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen und die Vorstellungen der Bevölkerung über ihre Rechte in diesem Bereich, die öffentliche und individuelle Vorstellung von Gesundheit sowie die Arbeitserfahrungen von Gesundheitsfachleuten und ihre Auffassung dieser Arbeit.

Kräfte

Zu dieser Dynamik tragen mehrere Kräfte bei, die teils konvergierend, teils voneinander unabhängig oder teilweise gar widersprüchlich sind:

1. Angriff auf die Sozialversicherungen: Die Schweizer Bourgeoisie zielt historisch auf die Abschaffung der Sozialversicherung ab, d.h. des sozialen Lohnes, der einen minimalen Umverteilungsmechanismus beinhaltet. Sie haben sämtliche Pläne für die Umsetzung einer sozialen Krankenversicherung blockiert. Das KVG ist ein monströses Gebilde, das Folgendes kombiniert: 

a) die Versicherungspflicht

b) die Pro-Kopf-Prämien, die zwar nicht direkt risikogebunden sind, aber eine fast unendliche Anzahl von Konstellationen ermöglichen (gewählte Versicherung, Höhe der Franchise, „Hausarzt“-Modelle und andere Modelle, usw.)

c) einen Rekord-Selbstbehalt innerhalb der OECD-Länder

d) ein extrem komplexes und intransparentes System zur „Unterstützung“ der „Bedürftigsten“, indem ein Teil ihrer Prämien mit Steuern gezahlt wird (die sogenannte „Prämienverbilligung“). 

Daraus resultiert: 

– eine finanzielle Belastung, die für einen bedeutenden Teil der Bevölkerung immer schwieriger zu bewältigen ist

– eine fast unendliche Anzahl unterschiedlicher Situationen, in der sich die Versicherten befinden, was es – wie im Fall der 2. Säule (Pensionskassen) – erschwert, die Unzufriedenheit in einer gemeinsamen Forderung zusammenzuführen. 

2. Neoliberale Politik der leeren Kassen: Die Schweizer Bourgeoisie verfolgt seit mehreren Jahrzehnten mit derselben Gewissenhaftigkeit ihre mit den obigen Bestrebungen verknüpfte Politik der Steuerbefreiung des Kapitals und der hohen Einkommen sowie der Senkung der für ihre Interessen nicht prioritären öffentlichen Ausgaben. Der sogenannte „Steuerwettbewerb“ wird dazu genutzt, diese Politik der Bevölkerung als unabwendbar aufzuzwingen. Dies führt zu einem zusätzlichen finanziellen Druck zur „Dämpfung der Gesundheitskosten“[1], der sich insbesondere auf die Spitäler, die Hauspflegedienste und die Prämienverbilligungen auswirkt. 

3. Privatisierung: Die wichtigen kapitalistischen Sektoren möchten ihren Spielraum – und ihre Gewinnspanne – im Gesundheitsmarkt behalten (Pharmaindustrie, Industrie für medizinische Geräte) oder ihren Marktanteil ausweiten (Privatkliniken, private medizinische Ketten, Apothekenketten, Altersresidenzen- oder Hauspflegeketten), indem sie die öffentlichen Träger zurückdrängen. Diese Sektoren agieren in Abstimmung mit ihren politischen Vermittler*innen, um den rechtlichen Rahmen und die Politik der öffentlichen Hand zu gestalten. Für sie ist der Anstieg der Gesundheitskosten ihr gutes Geschäft.

4. Ausbau der Macht des (Gesundheits-)Kapitals: Die in der Krankenversicherung aktiven Finanzgruppen sind ständig bestrebt, ihre Schlüsselposition im Gesundheitswesen zu stärken. Das bedeutet: 

a) Niederschlagung jeder Aussicht auf eine Einheitskasse (mit oder ohne soziale Finanzierung) – welche sie ihrer Rolle und Macht berauben würde

b) Stärkung ihrer Position als zentrale Akteurin im Gesundheitssystem, durch die Ausweitung ihrer Kontrolle der Finanzierung (Kampf für eine einheitliche Finanzierung des Spitalwesens und der ambulanten Behandlung) und der Leistungserbringenden (Rechnungskontrolle, Managed Care[2], Aufhebung des Vertragszwangs usw.)

c) Ausbau des gewinnträchtigen Sektors der Privatversicherungen und hierfür Aneignung von immer detaillierterem Wissen über die Versicherten, das ihnen eine feinabgestimmte und gewinnträchtige Gliederung ihrer Kund*innen ermöglicht. 

5. Individualisierung der Verantwortung: Es werden beständig ideologische und praktische, konvergierende Kampagnen zum doppelten Thema der Eigenverantwortung (in Bezug auf Gesundheit) und der Wahlfreiheit (wer einen behandelt) geführt. 

Diese Kampagnen finden Widerhall im Kult des Ich (und dessen Pseudo-Beherrschung), einem Nebenprodukt der Figur des Konsumenten bzw. der Konsumentin, der heute durch die neuen technologischen Instrumente verstärkt wird (Gesundheits-Apps). 

Sie dienen unmittelbaren praktischen Zielen, wie einer wachsenden Kostenbeteiligung der Versicherten („Verantwortung“) oder dem Aufbau eines Spitalmarkts, in dem die Privatkliniken sich ohne Einschränkungen entwickeln können („freie Wahl“). 

Grundsätzlicher noch tragen diese Kampagnen dazu bei, eine Perspektive zu schaffen, bei der eine gesundheitsbezogene, individuelle Pseudo-Verantwortung bzw. das reale Erzeugen von individuellen Schuldgefühlen (mit der daraus resultierenden Legitimierung einer differenzierten Behandlung, je nach dem entsprechenden „Verdienst“) mit der völligen Ignoranz der sozialen Determinanten der Gesundheit (wie der Arbeit) kombiniert wird. Dies obwohl Letztere von grundlegender Bedeutung sind. Das führt u.a. zu einer immer grösseren sozialen Ungleichheit im Gesundheitswesen. 

Hebel

Derzeit konvergieren diese verschiedenen Bestrebungen und Projekte in der Verstärkung von zwei Hebeln, welche dem Gesundheitssektor tiefgreifende Veränderungen aufzwingen sollen:

1. Krankenkassenprämien als Druckmittel: Die Erhöhung der gesundheitsbezogenen finanziellen Belastung. In erster Linie sollen die Krankenkassenprämien, die für einen grossen Teil der Bevölkerung immer weniger tragbar sind, weiter steigen. Dadurch wird der derzeitige Zustand immer weniger erträglich und ist somit ein entscheidendes Druckmittel zum Aufzwingen von Veränderungen, die sonst kaum eine Chance hätten. 

2. Marktmechanismen zur vermeintlichen Kostensenkung: Die Verbreitung von Marktmechanismen in den Gesundheitsdiensten. Sie werden als Wundermittel zur „Dämpfung“ der Kosten präsentiert, bei gleichzeitiger Ausweitung der Freiheit der Patient*innen/Konsument*innen. In Wirklichkeit dienen sie dazu, die Gesundheitsdienste so umzugestalten, dass neue rentable Investitionsfelder für private Investor*innen entstehen.

Auswirkungen

In der derzeitigen Phase können folgende Hauptauswirkungen unterschieden werden:

1. Angriffe auf die Grundversicherung: Die durch die Explosion der Krankenkassenprämien erzeugte Sackgasse verleitet zu einer Infragestellung der Deckung verschiedener Behandlungen. Es zeichnet sich ab, dass die Grundversicherung – auf welche Weise auch immer – keinen relativ vollständigen Behandlungskatalog mehr abdecken wird. Zudem wird der Teil, der von freiwilligen Versicherungen oder Direktzahlungen – also der Finanzkraft der Personen – abhängt, ansteigen.

Die Verbreitung von hohen Franchisen, Versicherungen, die ein bestimmtes Verfahren für die Senkung der Beiträge vorschreiben (Hausarzt, Telemedizin, Apotheke usw.) bedeutet bereits heute, dass für einen grossen Teil der Bevölkerung der Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen teilweise an Bedingungen geknüpft ist. Das von den Versicherungen gepushte Managed-Care-System wäre ein zusätzlicher Schritt in diese Richtung. Der Vorschlag der Geschäftsführerin der CSS von Jahresfranchisen in der Höhe von 10’000 Franken zeichnet die Fluchtlinie vor, weil sie einem Herausfallen fast aller gängigen Behandlungen aus der Deckung der Krankenversicherung entspricht. So entsteht zunehmend eine Stimmung, in der der finanzkraftunabhängige Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen nicht mehr als selbstverständlich erachtet wird. 

Die Ergebnisse des letzten Gesundheitsmonitors (im Auftrag der Interpharma, veröffentlicht am 19. Juni 2018) spiegeln die diesbezügliche Beunruhigung wieder: Das Festhalten am Status quo in Bezug auf den Zugang zu den Leistungen wächst, während sich gleichzeitig ein Fatalismus in Bezug auf die Erhöhung der Gesundheitskosten und der Krankenkassenprämien zeigt.

2. Spitäler im Zentrum der Gegenreformen: Die Spitäler, die das Zentrum des Gesundheitssystems bilden, stehen auch im Zentrum der Gegenreformen. Deren neue Finanzierung beginnt ihre volle Wirkung zu entfalten: 

– Der Unterschied zwischen öffentlich und privat wird durch das Gesetz de facto ausgehebelt und der – immer erbittertere – Wettbewerb ist für die Gewinnung rentabler Patient*innen/Kund*innen zur Regel geworden. 

– Die Institutionen sind einem immer grösseren Finanzdruck unterworfen. Dieser ergibt sich v.a. aus: a) der Kürzung der Rückerstattungen; b) dem Bestreben der Kantone, ihre Finanzierung von gemeinnützigen Leistungen zu reduzieren; c) der Notwendigkeit, neue Investitionen zu finanzieren; d) dem erzwungenen Transfer in Richtung ambulante Leistungen, der zu Investitionen zwingt, bei gleichzeitiger Reduktion der Einnahmen. 

Die Spitäler reagieren auf diesen finanziellen Druck mittels:

– einer Beschleunigung der Industrialisierung und der „Behandlungskette“

– einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen des Personals (Druck auf die Löhne und Arbeitsstunden, Erhöhung der Arbeitsbelastung, die die angestrebte und angebrachte Pflege verunmöglicht, was eine moralische Belastung darstellt usw.)

– einer Konzentration auf grössere Strukturen mit Schliessung von kleineren Strukturen (das Fusionsprojekt der Spitäler von Basel-Stadt und Basel-Land ist ein Beispiel hierfür),

– aber auch durch neue Investitionen. Einerseits zur Erneuerung ihrer technischen Ausstattung und/oder ihrer Hotellerie, um so „attraktiver“ zu sein. Andererseits für die Vertikalisierung ihrer Kontrolle von Behandlungsabläufen, durch den Einstieg in die ambulante Medizin (so baut z.B. in Luzern das Kantonsspital ein Ambulanzzentrum, das von Migros/Medbase (!) betrieben wird, in Konkurrenz zu den ansässigen, unabhängigen Ärztinnen und Ärzten, um sein „Rekrutierungspotenzial“ besser zu kontrollieren).

Der Spitalsektor ist in Wirklichkeit in einem Kreislauf von verschärftem Wettbewerb/Überinvestitionen gefangen, der in einer Krise, finanziellen Schwierigkeiten, Übernahmen, Schliessungen usw. münden wird. Diese Entwicklung wird von einer Stärkung des Privatsektors, einschliesslich der Privatisierung öffentlicher Einrichtungen, begleitet. 

3. Ausbreitung des Privatsektors: Der Privatsektor breitet sich auch im Bereich der Langzeitpflege aus, in dem sich in den nächsten drei Jahrzehnten ein Wachstum abzeichnet. Er nutzt den Druck zur Senkung der Kantons- und Gemeindebudgets, um Oberwasser zu gewinnen. Dies macht der Privatsektor im Namen der Behauptung, dass er „billiger“ wäre. Kapitalistischen Ketten – manche von ihnen international – kontrollieren bereits Teile des Angebots an Altersheimen. Private Spitex-Unternehmen sind dabei, sich mit Diskontpreisen (und entsprechenden Arbeitsbedingungen) als Alternative zu öffentlichen Diensten durchzusetzen. Dies findet mit Hilfe von Politiker*innen – wie dem Berner SVP-Politiker Schnegg – statt, deren Programm die Zerstörung des Sozialsystems ist.

4. Zunahme der Arbeitsbelastung: In allen Bereichen und auf allen Ebenen treffen diese Veränderungen Personen, die im Gesundheitsbereich arbeiten. Der verspürte Leidensdruck dieser Personen wird insbesondere verursacht durch die Erhöhung der Arbeitsbelastung, die Neudefinierung des Arbeitsinhalts im Widerspruch zur beruflichen Identität sowie die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen (Lohn, Stunden).

Lösungsansätze

Die Erzählung, mittels der die Gegenreformen umgesetzt werden, gibt vor: „Die Gesundheitsausgaben werden unerträglich; Markt und Wettbewerb sind unabdingbar für eine wachsende Effizienz der Gesundheitsdienste und die Reduzierung ihrer Kosten; die Patient*innen müssen Verantwortung übernehmen: jeder nach seinen Mitteln und seiner Leistung.“

Die Alternative könnte sein: „Es ist ein Skandal, dass es soziale Ungleichheit im Gesundheitsbereich gibt; der Zugang zur Gesundheitsdienstleistungen kann und muss für alle garantiert sein; nur ein öffentlicher Dienst, finanziert durch eine Sozialversicherung, kann garantieren, dass die Priorität der Gesundheit der Bevölkerung in Kombination mit dem Respekt des Personals gilt und nicht dem Geschäft einiger grosser Wirtschaftsgruppen und dem Wohlbefinden einer Minderheit.“

Daraus folgt insbesondere:

1. Eine einkommensgebundene, soziale Finanzierung der Krankenversicherung zur Garantie eines Zugangs Aller zur besten verfügbaren Behandlung.

Die derzeitige Behandlung führt unweigerlich zu einer einkommensabhängigen Differenzierung des Deckungsgrades und des Zugangs zu Behandlungen. Daraus ergibt sich eine immer grössere Behandlungslücke für einen immer grösseren Anteil der Bevölkerung. 

Die soziale Finanzierung muss auch die Langzeitpflege, die Pflege zu Hause und die Altersheime umfassen. Tut sie das nicht, so wird in diesen Bereichen – der in den kommenden Jahrzehnten von entscheidender Bedeutung für die Gesundheit der Bevölkerung sein wird – die soziale Ungleichheit bezüglich des Zugangs zur Pflege explosionsartig ansteigen. 

2. Gute Qualität im Gesundheitswesen bedingt gute Arbeitsbedingungen, gute Arbeitsbedingungen beinhalten die Möglichkeit, Behandlung und Pflege von guter Qualität anzubieten. 

Der vorgebliche Run auf Effizienz/Produktivität und die daraus resultierende Industrialisierung des Gesundheitswesens – in Spitälern genauso wie in der Pflege zu Hause oder den Altersheimen – sind der Feind Nummer 1 eines hochqualitativen Gesundheitswesens und guter Arbeitsbedingungen. Ein Überdenken der heutigen Behandlung und Pflege muss die Bedürfnisse des Personals und der Patient*innen als gemeinsamen Ausgangspunkt nehmen – und nicht eine vorgebliche Produktivität, die auf finanzielle Ziele ausgerichtet ist. Die unauflösliche Verbindung zwischen diesen zwei Dimensionen stellt die Grundlage einer möglichen konvergierenden, sozialen und gewerkschaftlichen Mobilisierung für ein humaneres Gesundheitswesen dar. 

3. Gesundheit ist keine Ware, die DRG-basierte Spitalfinanzierung gehört abgeschafft und umfassende öffentliche Gesundheitsleistungen müssen aufgebaut werden. 

Die neue DRG-basierte Spitalfinanzierung[3] dient dazu, in den Spitälern und darüber hinaus in Gesundheitsdienstleistungen die Bedingungen für ein Eindringen des gewinnorientierten und -geleiteten kommerziellen Sektors zu schaffen. Das bedeutet langfristig gesehen unweigerlich eine Infragestellung des Zugangs Aller zu hochqualitativen Gesundheitsdienstleistungen, sowie ein Angriff auf die Arbeitsbedingungen des Personals. 

Die Bekämpfung dieser Dynamik erfolgt über eine soziale Mobilisierung für: 

a) einen integrierten und kooperativen (und nicht wettbewerbsorientierten) Zugang der verschiedenen Gesundheitseinrichtungen. Diese sollen als Bestandteile öffentlicher Gesundheitsdienste konzipiert sein. Gesundheitsdienste dürfen nicht in der Hand von privaten, gewinnorientierten Unternehmen bleiben. 

b) eine Finanzierung auf der Grundlage der Aktivität der Gesundheitsdienste und ihrer tatsächlichen Kosten – und nicht basierend auf den Pseudopreisen und Wettbewerb. So werden Bildung und die öffentliche Sicherheit (und auch die Spitäler bis in die 2000er-Jahre) finanziert. Sprich auf Grundlage der tatsächlichen Kosten, die zur Erfüllung der als gemeinnützig identifizierten Bedürfnisse anfallen.

c) eine Teilhabe von Gesundheitsfachleuten und von Vertreter*innen der Nutzer*innen/Patient*innen an der Verwaltung dieser öffentlichen Dienste und ihrer Institutionen.


[1] Gesundheitskosten

Für die Rechtfertigung der Reformen im Gesundheitswesen wird pausenlos auf die „Explosion“ der Gesundheitskosten verwiesen. Dieses „Argument“ muss bekämpft werden, indem Folgendes in Erinnerung gerufen wird: 

1. Ein schnelleres Wachstum der Gesundheitsausgaben im Vergleich zum Wachstum des jährlich produzierten Reichtums, der z.B. mit dem Bruttoinlandsprodukt geschätzt wird, ist allen reichen Industrieländern gemeinsam. Es spiegelt die Bedeutung wieder, die der Gesundheit und dem medizinischen Fortschritt beigemessen werden – der seine Kosten hat. Angesichts des allgemeinen Produktivitätszuwachses auf gesamtgesellschaftlicher Ebene ist die Tatsache, dass die Gesellschaft einen steigenden Anteil ihrer Ressourcen für die Gesundheit verwendet, nicht an sich ein Grund dafür, dass diese Ressourcen bei anderen Grundbedürfnissen fehlen würden. In anderen Worten: auf gesellschaftlicher Ebene stellt die Finanzierung der Gesundheitsausgaben keine unüberwindbare Schwierigkeit dar. 

2. Ein paritätischer Lohnabzug von etwa 3,5% würde heute für die Krankenversicherung genügen. Das ist weniger, als für die AHV gezahlt wird. Diese mathematische Tatsache untermauert die oben gemachte Feststellung und zeigt, dass das Hauptproblem nicht die Höhe der Gesundheitsausgaben ist, sondern die Finanzierung der Krankenversicherung mit einkommensunabhängigen Pro-Kopf-Prämien.

[2] Managed Care

Das Managed-Care-System, auch integrierte Versorgung genannt, zielt – unter Kontrolle der Versicherungen – auf die Installierung eines doppelten Zwangs.

Erstens akzeptieren die Versicherten, dass sie ihre Auswahl an Leistungserbringenden einschränken. Sie treten einem Leistungsnetz bei, das nur eine gewisse Anzahl von Allgemeinmediziner*innen, Fachärzt*innen, Spitälern umfasst, und verzichten darauf, sich an Fachärzt*innen zu wenden, die nicht Teil des Netzwerkes sind. Sie akzeptieren auch, einen vordefinierten Ablauf einzuhalten: zuerst Konsultierung der behandelnden Allgemeinmedizinerin/des behandelnden Allgemeinmediziners, die/der anschliessend falls notwendig an Spezialist*innen oder ein Spital weiterverweist, usw. 

Zweitens akzeptieren die Leistungserbringenden ein Funktionieren im Netz. In den ausgereiftesten Modellen heisst das, dass das Netz das mit seiner Aktivität verbundene finanzielle Risiko übernimmt: Das Netz erhält ein vordefiniertes jährliches Budget pro eingeschriebener Patientin/eingeschriebenem Patient; es liegt an ihr/ihm, so vorzugehen, dass ihre/seine Ausgaben die Einnahmen nicht übersteigen. 

Die Versicherten werden durch niedrigere Krankenkassenprämien dazu angehalten, einem Managed-Care-Netz beizutreten. Sie riskieren allerdings im Falle eines Gesundheitsproblems, dass sie von einem Netz behandelt werden, das zur Sicherstellung seiner Rentabilität die angebotenen Leistungen begrenzt. Es wird also auf diese Weise eine Art von institutionalisierter Mehrklassen-Medizin eingeführt. Um die Ärztinnen und Ärzte zu verpflichten, Managed-Care-Systemen beizutreten, führen die Kassen seit Jahren eine Kampagne für die Abschaffung ihrer heutigen Verpflichtung der Rückerstattung von Leistungen aller Ärztinnen und Ärzte, die eine Berufsbewilligung haben. Zudem setzen sich die Kassen vehement für das Erreichen von „Vertragsfreiheit“ ein.

[3] Finanzierung durch die DRG (Fallpauschalen)

Seit dem Jahr 2012 ist eine neue Spitalfinanzierung in Kraft. Es handelt sich um eine Finanzierung auf Grundlage des Systems der DRG (diagnosis related groups). Dieses erstmals Anfang der 1980er Jahre in den USA eingeführte System beruht auf dem Prinzip, dass man zur Erzwingung von mehr Effizienz der Spitäler globale Pseudopreise (Pauschalen) für jede typische Spitalbehandlung fixieren muss (z.B. die Behandlung einer Blinddarmentzündung), anstatt die gelieferten Leistungen zu finanzieren (Übernachtungen, Mahlzeiten, Benutzung des Operationssaals, Honorare der Ärztinnen und Ärzte, Medikamente usw.). 

Zu diesem Zweck werden alle in Spitälern durchgeführten Behandlungen in Gruppen – die DRG – eingeteilt, die aus Finanzsicht relativ homogen sein sollen (mehr als 1000 DRG/Fallpauschalen in der Schweiz). Die Höhe der Rückerstattung jeder dieser Gruppen basiert auf den Durchschnittskosten der Behandlung dieser Gruppe. Wenn also die effektiven Kosten einer spezifischen Behandlung höher sind als der fixierte rückerstattete Betrag, dann macht das Spital einen Verlust. Umgekehrt bringt dem Spital eine Behandlung mit geringeren Kosten einen Gewinn. 

Dieses System hat zwei Folgen: 

1) Druck auf alle Spitäler, die vorgesehenen Rückerstattungsbeträge nicht zu überschreiten. Hierfür sind die Spitäler angehalten, ihre Behandlungen zu industrialisieren (Standardisierung) und die Dauer der Spitalaufenthalte zu reduzieren (mit dem Risiko von zu raschen Spitalsaustritten).

2) ein Anreiz, sich auf „rentable“ Behandlungen zu spezialisieren und die nicht rentablen Aktivitäten und Patient*innen zu vernachlässigen (z.B. ältere Menschen mit zahlreichen Komplikationen). Diese Möglichkeit besteht v.a. für private Kliniken. 

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