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Puerto Rico: Katastrophen-Kapitalismus und Klima-Ungerechtigkeit

Im September letzten Jahres wurde Puerto Rico, ein US-Aussengebiet in der Karibik, vom Hurrikan Maria heimgesucht. Unzählige Menschen verloren ihr Leben oder wurden obdachlos. Diese zerstörerische Kraft des Hurrikans ist aber nicht einfach auf eine Naturkatastrophe zurückzuführen. Die Verwundbarkeit der puerto-ricanischen Bevölkerung ist das Resultat von brutalen Sparmassnahmen, welche seit Jahrzehnten durch die US-Regierung aufgezwungen werden. Und nach der Katastrophe nutzten die Regierung und Konzerne die Gelegenheit, um diese Politik der  Sparmassnahmen und Privatisierungen weiter fortzuführen. Während Präsident Trump im letzten Jahr noch stolz eine Opferzahl von „nur“ 16 Personen verkündete, zeigte nun eine Studie, dass tatsächlich mehrere tausend Menschen ihr Leben verloren hatten. Puerto Rico ist somit ein erschreckendes Beispiel dafür, wie in Zeiten des Klimawandels eine rücksichtslose neoliberale Politik ganze Bevölkerungsgruppen hilflos zurücklässt. Wir veröffentlichen hier den Ausschnitt eines Interviews mit verschiedenen Journalistinnen und Aktivistinnen, welches am 6. Juni auf dem unabhängigen US-Rundfunk democracynow.org geführt wurde. (Red.)

von Amy Goodman und Juan González; aus democracynow.org

Puerto Rico erholt sich immer noch vom Hurrikan Maria, der die Insel im vergangenen September verwüstet hat. Forscher in Harvard haben kürzlich gezeigt, dass die Zahl der Todesopfer durch den Hurrikan um ein Vielfaches höher liegen könnte als die offizielle Zahl. Die offizielle Zahl der Todesopfer liegt immer noch bei 64, aber die neue Studie schätzt die Zahl auf mindestens 4’645, wobei andere Prognosen über 5’700 liegen. Die Harvard-Studie ergab, dass „die Unterbrechung der medizinischen Versorgung die Hauptursache für anhaltend hohe Sterblichkeitsraten in den Monaten nach dem Hurrikan war, ein Ergebnis, das aufgrund der weitverbreiteten Störung der Gesundheitssysteme plausibel ist. Die Unterbrechung der Gesundheitsversorgung trägt zunehmend zur Morbidität und Mortalität bei Naturkatastrophen bei.“ Wir sprechen mit Naomi Klein, Autorin, Journalistin und Korrespondentin von The Intercept. Ihr neues Buch trägt den Titel “ The Battle for Paradise: Puerto Rico Takes On the Disaster Capitalists.“ Wir sprechen auch mit Katia Avilés-Vázquez, einer puerto-ricanischen Umweltaktivistin sowie Elizabeth Yeampierre, Geschäftsführerin von UPROSE und Mitvorsitzende der Climate Justice Alliance.

AMY GOODMAN: Wir begrüßen alle bei Democracy Now! Du bist gerade von der Insel gekommen, Katia. Du warst dabei, als diese Harvard-Studie herauskam. Wie schätzt du die Situation ein? Und was sind deine größten Sorgen angesichts der nächsten Hurrikansaison?

KATIA AVILÉS-VÁZQUEZ: Also ich denke, dass wir die Arbeit von Omaya Sosa und dem Zentrum für investigativen Journalismus hervorzuheben müssen. Sie waren die ersten, die dokumentierten und schrieben, was wir alle fühlten, wussten und gesehen hatten, nämlich dass Tausende gestorben waren. Vor allem konnten sie gestern einen Sieg erringen, indem sie Zugang zu den öffentlichen Zahlen erhielten. Es gilt zu bedenken, dass die Zahl von 4’645 ein statistischer Mittelwert ist.

JUAN GONZÁLEZ: Entschuldigung. Wenn Sie sagen, dass sie sich Zugang verschaffen konnten, war das ein Richter, der dies anordnete?

KATIA AVILÉS-VÁZQUEZ: Ja, sie mussten die Todesurkunden veröffentlichen.

Wir wussten, dass es Tausende sein würden. Ich denke aber, dass man sich nicht darauf konzentrieren sollte, ob es 4’645 oder 5’700 sind. Die Studie konzentriert sich auf eine Periode von drei Monaten, d.h. Oktober, November, Dezember. Aber ältere und kranke Menschen, die verstorben sind, obwohl sie noch länger hätten leben können, wurden nicht mitgezählt. Sie sind verstorben, weil sie die Hitze oder den Mangel an Nahrung nicht mehr ertragen konnten. Man sollte nicht nur die Tatsache hervorheben, dass die Todeszahlen geheim gehalten wurden, sondern auch die Tatsache, dass es geheim gehalten wurde, um einer politischen Agenda zu dienen. In diesem Falle war es die Agenda von Gouverneur Rosselló. Einen Tag nach Trumps Besuch auf Puerto Rico, als ihm noch die Zahl von 16 Todesfällen genannt wurde, kommunizierte die puerto-ricanische Regierung, dass die Zahl auf 34 angestiegen sei. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Rosseló nicht bereits von der angestiegenen Zahl wusste, als er Trump die Zahl von 16 Todesopfern nannte. Dies weist erneut darauf hin, dass die Zahlen für die politische Agenda von Roselló und den Kapitalisten, die jetzt die Insel übernehmen, instrumentalisiert wurden. Es gilt auch zu berücksichtigen, dass die auf Maria zurückzuführenden Todesfälle seit Januar weiter zugenommen haben. Dazu zählen nicht nur die steigenden Selbstmordraten, sondern tatsächlich auch Ampeln, die buchstäblich auf die Menschen fallen und sie töten, Kraftwerke, die explodieren, Feuer fangen und Menschen töten, und dann Menschen, die weiterhin sterben, weil es an den notwendigen und angemessenen Mitteln fehlt. Wenn wir also diese indirekten Todesfälle berücksichtigen, kommen wir erneut auf mehrere tausend. Für die kommende Hurrikansaison ist die Infrastruktur noch immer sehr geschwächt. Die Häuser sind immer noch mit Planen versehen. Es sind noch sehr viele Trümmer auf den Straßen. Die Wasserversorgung ist noch immer nicht überall wiederhergestellt. Die Stromversorgung wurde auch nicht überall wiederhergestellt. Das Bootssystem, das von der Hauptinsel zu den Inseln Vieques und Culebra führt, funktioniert noch immer nicht ordentlich. Wir müssen somit in einem geschwächten Zustand die nächste Hurrikansaison meistern.

JUAN GONZÁLEZ: Naomi, ich wollte dich fragen, inwiefern du in Puerto Rico das beobachtet hast, was du bereits in zahlreichen früheren Texten einen „Katastrophen-Kapitalismus“ genannt hattest.

NAOMI KLEIN: Nun, ich war tatsächlich mit Elizabeth Yeampierre dort, und wir hatten das Glück, von Katia in einige Landesteile geführt zu werden. Wir haben noch im Februar Leute gesehen, die sehr lange Wege zurücklegen mussten, um ihre Sauerstoffmaschinen anzuschließen. Das waren ältere Menschen, die noch immer keinen Stromanschluss hatten. Das deutet darauf hin, dass die Todeszahlen auch noch nach der von der neuen Studie berücksichtigen Zeitspanne weiter anstiegen. Ich bin wirklich beeindruckt von der Aussage, die Todesfälle seien „wegen“ des Hurrikans Maria eingetroffen. Es liegt nicht am Hurrikan Maria. Maria war der Katalysator. Aber wenn man sich die Studie ansieht, war die wichtigste Todesursache in sehr vielen Fällen der Zusammenbruch des Gesundheitssystems, der eng mit dem Zusammenbruch des Elektrizitätssystems verbunden ist, der wiederum eng mit dem Zusammenbruch der Wasserversorgung verbunden ist. Also geht es hier wirklich um einen totalen Infrastrukturausfall. Ausserdem war die Infrastruktur nicht einfach zufällig instabil. Eine Gesellschaft hat nicht einfach so einen Zusammenbruch ihrer gesamten Infrastruktur, es sei denn, man zerstört diese systematisch und wissentlich. Wissen Sie, ich denke immer wieder an diesen Satz des großen investigativen Journalisten Rodolfo Walsh aus Argentinien. Als er die Wirtschaftspolitik der argentinischen Militärjunta beschrieb, nannte er sie „geplantes Elend“. Und ich denke, das gilt genauso für das, was gerade in Puerto Rico passiert. Auch hier handelt es sich um ein geplantes System der Verelendung. Ich suche ständig nach einem Begriff, um das zu beschreiben. Es ist keine Naturkatastrophe. Es ist nicht nur eine Tragödie. Das ist staatlich geförderter Massenmord. Das ist es, worüber wir hier reden. Vielleicht gab es nicht die Absicht zu töten, aber es gab das Wissen, dass die Infrastruktur zerstört wurde. Und selbst nachdem wir die Ergebnisse davon sehen, führen sie diese Politik weiter. Nun zur Frage, wie das mit dem Begriff des Katastrophen-Kapitalismus zusammenpasst, den ich erstmals im Buch „Die Schock-Strategie“ benutzt habe. Selbst nachdem man die Auswirkungen dieser brutalen Sparmassnahmen gesehen hat, was ist die Antwort? Mehr von denselben Dosen an Sparmassnahmen. Sie versuchen Hunderte von Schulen zu schließen, sie führen mehr Entlassungen durch und vernachlässigen die Menschen noch mehr. Und die Kosten dafür sind Tausende und Abertausende von Menschenleben.

AMY GOODMAN: Die Sprecherin des des Weißen Hauses meinte jüngst: „Wir tun das Beste, was wir können.“ Was meinst du dazu, Elizabeth Yeampierre?

ELIZABETH YEAMPIERRE: Nun, die FEMA [Bundesagentur für Katastrophenschutz, Anm. d. Red.] evakuiert Menschen, anstatt die zerstörten Regionen wieder aufzubauen. Wir wissen, dass schon vor dem Hurrikan viele Menschen aus Puerto Rico vertrieben wurden, viele von ihnen zogen nach Zentral-Florida. Wir schätzen, dass bis 2020 etwa 600’000 Puerto-ricaner*innen von der Insel vertrieben werden. Wir wissen, dass hier in New York City die Menschen, die sich in Notunterkünften befinden, ebenfalls mit Räumungen konfrontiert sind. Sie leben unter den schlimmsten Umständen. Sie werden durchsucht, wenn sie in ihre Häuser kommen. Sie müssen ihren Ausweis zeigen, als ob sie in irgendeiner Form inhaftiert wären. Eines der Dinge, die uns am meisten beunruhigen, ist dieser Versuch, die Insel zu evakuieren. Sie stellt eine wirkliche Gelegenheit dar, die gesamte Insel zu privatisieren. Wenn es dort keine Leute gibt, ist es für die Vereinigten Staaten leichter, die Unternehmensinteressen durchzusetzen. Eines der Dinge, die mir besondere Sorgen bereiten sind die 23 Reinigungsstätten von toxischen Abfällen, welche es in Puerto Rico gibt. Diese setzen die Menschen einer großen toxischen Belastung aus. Nichts davon wird von der US-Regierung angesprochen. Dabei geht es um Interessen von US-Firmen. Das sind Standorte, die von US-Unternehmen verwaltet werden. Dabei handelt es sich um eine weitere Todesursache für die Menschen in Puerto Rico. Es ist wirklich enttäuschend. Aber ich denke auch, dass in dieser Situation nicht viel von der US-Regierung erwartet werden kann. Wir sahen, was in New Orleans [Hurrikan im Jahr 2005, auf den die Bush-Regierung ähnlich reagierte, Anm. d. Red.] geschah und wie Menschen in New Orleans behandelt wurden. Den Menschen in Puerto Rico ging es nicht besser.

JUAN GONZÁLEZ: Elizabeth, Du sprachst über die Reaktion der Zentralregierung. Eines der Dinge, denen die Leute nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt haben, ist, dass die „Federal Communications Commission“ unter Trump kürzlich entschieden hat, dass sie das „Lifeline-Projekt“ reduzieren werden. Von diesem Projekt wissen nur die Wenigsten. Aber das ist ein Projekt, das Handy- und Breitbanddienste für einkommensschwache Amerikaner*innen bereitstellt. Und es gibt 500’000 Menschen in Puerto Rico, die diese Hilfe erhalten. Es ist ein staatlicher Zuschuss für die Kommunikation. Während wir von einer Kommunikationskatastrophe in Puerto Rico sprechen, kommen nun aufgrund dieser Sparmassnahmen noch 369’000 Menschen hinzu, welche diese Hilfe verlieren werden. In einer Notsituation werden sie nicht einmal Zugang zu dieser staatlich subventionierten Kommunikation haben. Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, wie die Bundesregierung in vielerlei Hinsicht das Volk von Puerto Rico im Stich lässt.

ELIZABETH YEAMPIERRE: Weisst du, wir leben im Zeitalter des Klimawandels. Und jede*r muss sich bewusst sein, dass ein gutes Kommunikationssystem zentral ist für Klimaanpassung, Resilienz und den sozialen Zusammenhalt. Nur so können die Menschen extreme Wetterereignisse überleben. Wir hörten gerade davon, wie Menschen ihr Leben verloren hatten, weil keinen Zugang zur Kommunikation gehabt hatten. Dadurch hatten sie keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung. Indem diese Hilfe abgebaut wird, erhöhen sich die Gefahr, dass noch mehr Menschen sterben werden. Die Verwundbarkeit der Menschen wird erhöht. Genauso wird der soziale Zusammenhalt zerstört. Es ist wirklich ein Angriff auf die Überlebensfähigkeit des puerto-ricanischen Volkes. Das ist nur eines der vielen Dinge, die in Puerto Rico passieren und den Menschen das Leben schwer macht.

Von der Redaktion übersetzt und überarbeitet

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