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Sozialismus für die Menschlichkeit

In den USA entsteht eine neue Generation von Menschen, die sich unvoreingenommen mit dem Sozialismus beschäftigt. Exponent*innen wie Bernie Sanders und die Wahlerfolge von Alexandria Ocasio-Cortez und Rashida Tlaib, beide Mitglieder der Democratic Socialists of America (DSA), trugen zu diesem Phänomen bei. Oft wird aber Sozialismus als rein ökonomische und politische Bewegung interpretiert. Daher ist der Zeitpunkt genau richtig, um sich mit den humanistischen Wurzeln des Sozialismus zu beschäftigen. (Red.)

von Adam J. Sacks; aus Jacobin Magazine

Das ultimative Ziel des Sozialismus ist so einfach wie schön: die Befreiung aller Menschen von der Herrschaft, die Ersetzung verkümmerter Träume und Entfremdungen durch menschlich blühende und grenzenlose Kreativität.

Marx hatte ein scharfes Auge für das Herz in einer herzlosen Welt. Schon in jungen Jahren sorgte er sich darum, wie der Kapitalismus die „menschlichen Probleme“ mit einem Kampf um das materielle Überleben verhüllte. Er freute sich auf den Tag, an dem sie deutlicher in den Fokus rücken würden, an dem der bedrückende Schleier des Kapitalismus gelüftet und endlich eine „humane Gesellschaft“ entstanden sei.

In einer Zeit, in der Sozialist*innen dazu angehalten werden, ihre Politik neu zu erklären, ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass der Sozialismus immer eine humanistische Bewegung war und ist, die versucht, Menschen von Herrschaft und Ausbeutung zu befreien – und individuelle Blütezeit, Kreativität und sogar spirituelle Bereicherung anstelle von verkümmerten Träumen und Entfremdung fördert.

Solche Ziele sind den Sozialist*innen nicht neu. Als der Sozialismus in den späten 1800er Jahren als Massenbewegung auftauchte, war es nicht ungewöhnlich, dass er als der grösste Fortschritt im Humanismus seit dem Neuen Testament bezeichnet wurde. Der Sozialismus, so dachten seine Anhänger*innen, könnte die Erneuerung des Gewissens ermöglichen, das für die Rettung der Gesellschaft notwendig ist.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahm der deutsche Sozialist Leo Kestenberg das Motto „Erziehung zur Menschlichkeit“ für ein Europa an, das vor einer Flut des Faschismus stand. Er hoffte, dass der Kampf für den Sozialismus als Brücke zu einem radikal neuen Humanismus dienen könnte, einer Gesellschaft, die Freundlichkeit statt Ausbeutung belohnte. Der so genannte „Papst desMarxismus“, Karl Kautsky, berief sich auf die Vorstellung eines „sozialistischen Gewissens“ als Mittel zur „Rettung der Nation“ (er hatte die USA im Sinn).

Einige Jahrzehnte später, in seiner Antrittsrede vor dem chilenischen Parlament, sprach Salvador Allende in ähnlich begeisterten Tönen und beschrieb den Sozialismus als eine „Mission“, die das Land mit Bedeutung erfüllen könnte:

Wie können sich Menschen im Allgemeinen – und insbesondere junge Menschen – einer Aufgabe widmen, welche sie mit neuer Lebensfreude inspiriert und ihrer Existenz Würde verleiht? Es gibt keinen anderen Weg, als sich der Verwirklichung grosser unpersönlicher Aufgaben zu widmen, wie z.B. der Erlangung einer neuen Stufe im menschlichen Zustand, die bisher durch ihre Aufteilung in Privilegierte und Enteignete beeinträchtigt wurde. […] Hier und jetzt, in Chile und in Lateinamerika, haben wir die Möglichkeit und die Pflicht, kreative Energien, insbesondere die der Jugend, in Missionen zu entfalten, die uns mehr als alle anderen in der Vergangenheit inspirieren.

Hier war das Herz der marxistischen Philosophie: der Elan des menschlichen Subjekts, das inspirierte Streben nach Wachstum. Rosa Luxemburg, die grosse polnisch-deutsche Sozialistin, verkörperte dies in ihrer Lebensweise und schrieb an einen Genossen:

Mensch sein, heisst, sein ganzes Leben auf des Schicksals grosser Waage freudig hinzuwerfen, wenn’s sein muss, sich zugleich aber an jedem hellen Tag und jeder schönen Wolke zu freuen.[…] Die Welt ist so schön bei allem Graus und wäre noch schöner, wenn es keine Schwächlinge und Feiglinge auf ihr gäbe.

Auch die amerikanische Bürger*innenrechtsorganisatorin und Sozialistin Ella Baker betonte den Humanismus in ihrer täglichen Praxis. Für sie war der Zweck der Organisation, den menschlichen Geist zu erwecken und die Menschen zu befähigen, die Welt zu verändern. „Gib Licht“, sagte Baker, „und die Leute werden den Weg finden.“ Die Behandlung von Menschen als Spielzeug, auch im Dienste eines letztlich befreienden Ziels, war ein Gräuel für den Geist des Sozialismus.

Zu oft haben Kritiker*innen die ethische und humanistische Seite des Sozialismus als eine Variante des „utopischen“ Sozialismus verwechselt, gegen den Marx Schriften gerichtet waren. Marx kontrastierte seine Schriften mit Denkern wie Charles Fourier und Robert Owen, deren Phantasien sie in das Reich des Hyper-Idealismus, wenn nicht gar quasi-magischer Fantasieflüge führten. Er identifizierte seine eigenen Arbeiten als „wissenschaftlich“. Der Begriff impliziert die ganzheitliche menschliche Suche nach Wissen sowohl innerhalb der Natur- als auch der Geisteswissenschaften. Marx‘ Kritik an den gegenwärtigen Bedingungen wurde mit der Verpflichtung zur Verwirklichung der Menschenwürde durchgespielt – er bedauerte die „seelenlosen“ Güter des Kapitalismus und ihre Auswirkungen auf das menschliche Selbst.

Der vielleicht grösste Theoretiker des Sozialismus als eine Art postsäkulare humanistische Metamoral war Jean Jaurès, der in den USA am bekanntesten ist für sein Buch A Socialist History of the French Revolution von 1911 (Sozialgeschichte der Französischen Revolution). Jaurès untersuchte die dominanten Diskurse des Frankreichs der Jahrhundertwende und fand sie schrecklich lähmend. Der Nationalismus war eine bewusste reaktionäre Strategie, um Gedanken an eine höhere Sphäre zu verhindern. Die offizielle Religion war eine schädliche Kraft, deren viel gepriesene Nächstenliebe einfach eine neue Form der Unterdrückung verhüllte. Und die modischen Spiritualismen der damaligen Zeit – wie die Theosophie, die Menschen von der organisierten Religion in neue postsäkulare Kulte lockte – waren dilettantische Mystiken, die den Mut der Menschen, sich den Kämpfen des realen Lebens zu stellen, dämpften. Nur der Sozialismus, so Jaurès, könne das menschliche Gewissen emanzipieren und ein Gefühl der unendlichen menschlichen Möglichkeiten wiederherstellen.

Später im zwanzigsten Jahrhundert war Isaac Deutscher eine der stärksten Stimmen für einen Marxismus des Gewissens, am bekanntesten für seine Biographien von Stalin und Trotzki. Als galizischer Jude, der in die Kommunistische Partei Polens eintrat, war Deutscher in einer einzigartigen Position, um sowohl die Ernüchterung der staatssozialistischen Macht im Osten als auch den Pessimismus der Neuen Linken im Westen zu beobachten. Er würde immer wieder zu diesem grundlegenden menschlichen Subjekt im Herzen mit dem Marxismus zurückkehren. Deutscher beobachtete, dass dieses menschliche Subjekt, das bereits in jedem von uns als Potential existiert, durch den Kapitalismus verzerrt, zerschlagen und verdummt wird. Es reduziert buchstäblich unsere Persönlichkeit, was sowohl unser soziales Wohlbefinden als auch unsere wirtschaftliche Existenz beeinträchtigt. Das Versprechen des Sozialismus lag für Deutscher in der Erweiterung und Wiedereingliederung unserer Persönlichkeit, in der Wiederentdeckung von verlorenen Teilen von uns selbst.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 war die kubanische Physikerin Celia Hart eine kritische Stimme für die sozialistische humanistische Hoffnung. Celia Hart, eine Tochter der Gründer*innengeneration der Revolutionär*innen, starb bei einem Autounfall tragisch jung – aber nicht vor der Wiederbelebung dessen, was sie die „schöne Schlacht“ nannte. Als interne Kritikerin des kubanischen Staatssozialismus verteidigte sie dennoch die Rolle der politischen Parteien bei der „Verbesserung der Menschlichkeit“ und nahm als Slogan ein Zitat des kubanischen Dichters José Martí an: „Heimat ist Menschlichkeit.“ Sie forderte eine Rückkehr zu den Ursprüngen des Sozialismus und sprach sich für eine Art marxistischen Ökumenismus aus – „wir brauchen alle, die der Menschheit eine Wahrheit gesagt haben“. Im Jahr 2016, kurz vor ihrem Tod, wurden Harts Schriften in einem englischsprachigen Band mit dem Titel „It’s Never Too Late to Love or Rebel“ gesammelt.

In diesen Traditionen und Figuren sehen wir einen Sozialismus, der versucht hat, nicht nur den Mangel an materiellen Gütern, sondern auch den Mangel an immateriellen, humanistischen Werten wie Respekt, Achtung und Selbstverwirklichung zu bekämpfen. Angelegenheiten der Moral, der Psyche und der Seele sind nie an den Rand gedrängt worden, denn sie sind integraler Bestandteil des freien Wachstums und der Blüte des menschlichen Subjekts.

„Spirituell, nicht religiös“ ist ein Klischee unserer Zeit; in dieser Tradition könnten wir es durch das Motto „sozialistisch, nicht religiös“ ersetzen – und ein anderes Ziel verfolgen: nicht das Ende der Menschheitsgeschichte, sondern ihren wahren Anfang.


Übersetzung und geringfügige Anpassungen durch die Redaktion.

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