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Lateinamerika: Autonome Projekte gegen die Zivilisationskrise

Die Autonomie stellt zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine zentrale Forderung und eine Vielzahl von Praktiken und politischen Projekten dar, meist orientiert an emanzipatorischen Gesellschaftstransformationen. In den verschiedenen Emanzipationsbewegungen bedeutet die Autonomie eine Praxis der Selbstbestimmung, eine Aneignung der kollektiven Reproduktion des Lebens und eine neue und alltägliche Form des Politikverständnisses, welche «die Politik», fokussiert auf staatliche Poltik und politische Parteien, in Frage stellt. In Lateinamerika werden die mannigfaltigen Autonomiepraktiken und -projekte nicht aussschliesslich aber häufig von indigenen Gemeinschaften praktiziert, welche innerhalb der heterogenen und plurinationalen lateinamerikanischen Gesellschaftsformationen ihr Recht auf Selbstbestimmung einfordern.

von Anne Kaspar, UNAM[1], México

Die zunehmende Bedeutung der Autonomie für weltweite Emazipationsbestrebungen steht in direktem Zusammenhang mit einer allgemeinen Intensivierung und Expansion der kapitalistischen Herrschaft. Im Besonderen gilt die Autonomie als eine Antwort auf den Abbau des Sozialstaates und diverse neoliberale Privatisierungen, sowie die gescheiterten Erfahrungen des sogenannten Realsozialismus.

Die gegenwärtige Zivilisationskrise

Ich schlage daher vor, die Autonomiebewegungen als Antwort auf eine globale Zivilisationskrise zu verstehen. Gegenwärtig von einer Zivilisationskrise zu sprechen, bedeutet anzuerkennen, dass das kapitalistische Weltsystem eine tiefschürfende und multidimensionale Krise durchlebt, welche zugleich eine wirschaftliche, soziale, politische und umwelttechnische Krise darstellt. Die Zivilisationskrise betrifft alle Dimensionen des Lebens im kapitalistischen System: unsere Ernährung, unsere physische und psychische Gesundheit, traditonelle Institutionen wie die Familie und die Schule, unsere zwischenmenschlichen Beziehungen.

Angesichts des düsteren Panoramas der Zivilisationskrise – welche in Lateinamerika im Besonderen durch zahlreiche Enteignungsprozesse, Abbau von Bodeschätzen in Minen und andere kapitalistische Grossprojekte sowie massive Gewalt gegen jeglichen Widerstand gekennzeichnet ist – gilt für viele Menschen die kollektive Selbstorganisation als einziger Weg, das Überleben zu sichern, aber auch als einzige Möglichkeit, überhaupt würdevolle Lebensumstände zu erreichen. Die autonomen Praktiken entspringen daher dem Umstand, dass das kapitalistische System das Überleben (und noch weniger das würdevolle Leben) von konkreten Gemeinschaften nicht zu gewährleisten beabsichtigt. So spriessen gewissermassen im Schatten des Systems neue soziale Bewegungen und die Projektion alternativer Gesellschaftsformen hervor.

Eine Welle sozialer Bewegungen

Mit dem zapatistischen Aufstand am 1. Januar 1994 begann eine neue Periode der Mobilisierung und Rebellion auf dem lateinamerikanischen Kontinent, welche mit dem von Francis F. Fukuyama verkündeten «Ende der Geschichte» brach und neue Horizonte für Emazipationsbewegungen eröffnete. Während der 90er Jahre und inbesondere nach der Jahrtausendwende, manifestierte sich eine Welle sogenannter «neuer» sozialer Bewegungen: Zuvor marginaliserte Gruppen, wie Frauen, indigene Völker, Arbeitslose und Obdachlose, erscheinen nun als Hauptdarsteller*innen auf der politischen Bühne. So unter anderem die brasilianische Bewegung der Landarbeiter ohne Boden (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra, kurz MST), die piqueteros (eine Arbeitslosenbewegung in Argentinien, welche sich unter anderem mittels Strassenblockaden und der Besetzung von Fabriken organisiert) und die indigenen Völker, Nationen und Gemeinschaften Ecuadors, Mexikos, Boliviens und Chiles, um nur einige wenige Bewegungen zu nennen.

In der Geschichte der indigenen Völker Lateinamerikas und im Besonderen im aktuellen Rahmen der Zivilisationskrise, ist die Selbstorganisation ein wesentlicher Bestandteil des gemeinschaftlichen Lebens.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts lassen sich eine Territorialisierung der sozialen und politischen Konflikte, eine besondere Sichtbarkeit der indigenen Gemeinschaften und des gemeinschaftlichen Lebens und eine besondere Bedeutung der Autonomiekonstruktion als alltägliche Erfahrung beobachten. Die verschiedenen sozialen Bewegungen teilen trotz ihrer jeweiligen Einzigartigkeit einige Merkmale: so die wichtige Rolle der territorialen Kontrolle, welche die Aneignung der Fähigkeit zur Produktion und Reproduktion des Lebens seitens der Bewegungen bedeutet; aber auch die Autonomiesuche mit Hinblick auf den Staat und politische Parteien; der Kampf für eine Aufwertung der Kulturen und Identitäten der Völker und verschiedener sozialer Sektoren; die Schaffung eines eigenen Bildungswesens und die Herausbildung eigener Intellektueller; eine steigende Sichtbarkeit und Zentralität der Frauen mit einem tiefschürfenden Umbruch der Geschlechterverhältnisse; die Sorge mit Bezug auf die Arbeitsorganisation und das menschliche Verhältnis zur Natur.

Autonome Praktiken und Projekte heute

In der Geschichte der indigenen Völker Lateinamerikas und im Besonderen im aktuellen Rahmen der Zivilisationskrise, ist die Selbstorganisation ein wesentlicher Bestandteil des gemeinschaftlichen Lebens. Die autonomen Praktiken ermöglichen würdige Lebensumstände und entsprechen jeweils konkreten Bedürfnissen: dem öffentlichen Zugang zu Trinkwasser in Cochabamba, Bolivien; einem Gesundheits- und Bildungssystem für die auf dem Land lebende und indigene Bevölkerung des mexikanischen Bundesstaates Chiapas; der kollektiven Sicherheit der Bewohnerinnen und Bewohner in einem Stadtviertel von El Alto (Bolivien), Buenos Aires oder Mexiko-Stadt; dem kollektiven Widerstand gegen die Landenteignung aufgrund von Grossprojekten. Nicht immer werden die autonomen Praktiken von den Akteuren und Akteurinnen selbst als wertvoll wertgeschätzt und erscheinen manchmal nur als notwendige Übergangslösung. In anderen Erfahrungen hingegen, wie diejenige der Zapatist*innen in Chiapas und der anderen indigenen Gemeinschaften Mexikos, welche dem Nationalen Indigenen Kongress (Congreso Nacional Indigena, CNI) angehören, erscheint die Autonomie nicht nur Mittel zum Zweck, sondern Mittel und Zweck zugleich. Hier erscheinen die diversen Autonomieprojekte jeweils als politische Gesellschafsalternativen zum kapitalistischen System.

Grenzen der Autonomie

Da die autonomen Praktiken im emanzipatorischen Sinn in offener Konfrontation zum kapitalistischen System stehen, sind sie stets verschiedenen Agriffen ausgesetzt. Aus diesem Grund spielt die Selbstverteidigung gegen die kontraaufständischen Attacken eine zentrale Rolle. Ohne Selbstverteidigungsstrategien können die Gemeinschaften und ihre autonomen Praktiken leicht gewaltsam zerstört werden oder deren Mitglieder korrumpieren. Die Zerstörung von Gemeinschaften in Städten wie auf dem Land stellt daher ein grosses Problem dar.

Da die territoriale Aneignung und Kontrolle eine wichtige Grundlage für autonome Praktiken und Projekte darstellt, besteht eine besonders grosse Herausforderung bei der Realisierung von derselben in den grossen Städten, welche allgemein die Zentren des kapitalistischen Systems sind. In den Städten exisitieren weniger materielle Grundlagen für Autonomiebewegungen, es fehlt an (bebaubarem) Boden und Wohnraum, und es besteht eine beinahe absolute Abhänigkeit vom kapitalistischen Markt.

Im Rahmen der aktuellen Zivilisationskrise mit deren vielfältigen Facetten, spielen die verschiedenen Autonomiebewegungen eine zentrale Rolle im Kampf um das (Über-)leben. Die Diskussion darüber, inwiefern sie Gesellschaftsalternativen anbieten und die verschiedenen Zerstörungsprozesse des Kapitals aufhalten können, bleibt jedoch offen. In keinem Moment hingegen erscheinen die Autonomieerfahrungen als Inseln, blosse lokale und konjunkturelle Erscheinungen, sondern stets ist ihre gegenseitige Solidarisierung und ein Austausch zwischen verschiedenen Erfahrungen elementarer Bestandteil des Kampfes, wenn wir Auswege aus der Zivilisationskrise finden möchten.


[1] Nationale Autonome Universität von Mexiko (Universidad Nacional Autónoma de México, kurz UNAM).

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