Die Proteste am Taksim-Platz, deren Niederschlagung und ihr Wiederaufflackern haben gezeigt, dass in der Türkei auch wegen der Wirtschaftspolitik von Premierminister Erdogan einiges im Argen liegt. Ein Gespräch mit dem an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität lehrenden Turkologieprofessor Christoph Neumann, der bei den Protesten zugegen war.
Herr Neumann, sie waren am 14. und 15. Juni in Istanbul. Wie haben sie den Machtkampf zwischen Erdogan und den Demonstranten erlebt?
Christoph Neumann: Der Protest, der sein symbolisches Zentrum im Gezi-Park hatte, aber in großen Teilen der Türkei seinen Widerhall fand, war ausgesprochen friedlich. Der Slogan „Der Taksim-Platz ist überall; und überall ist Widerstand“ drückte weniger Militanz aus als eine produktive, wenn auch recht unklare politische Vision vom anderen Leben. Ich war am Tag vor der Räumung und dann am Tag der Räumung selbst, dem Samstag, dort: Nachmittags herrschte eine Stimmung wie auf einem politischen Rockfestival, mit all den kleinen Zelten, den Volksküchen, Musikern und natürlich den Foren, auf denen diskutiert wurde, wie es weitergehen soll. Am Abend aber wurde es dann richtig voll, weil außer den Aktivisten tausende von Leuten da waren, aus allen Schichten der Stadt, die diese Atmosphäre genossen, in der eine Art von utopischer Demokratie erprobt wurde.
Die Räumung erfolgte dann schnell und brutal; aber innerhalb von zwei Stunden waren die Straßen voll von Demonstranten, die gar nicht im Park gewesen waren, aber nun tatsächlich militanten Widerstand zu leisten bereit waren.
Und was hat Erdogan unternommen?
Christoph Neumann: Erdogan hat mit eigenen Versammlungen und den ihm folgenden Massenmedien versucht, die Protest-Bewegung als illegitim und gewalttätig zu kennzeichnen, dazu aber den Leuten Furcht einzujagen. Zum Beispiel wird gegen Ärzte vorgegangen, die verletzte Demonstranten versorgten; und es gibt hunderte von Festnahmen. Die Proteste gehen aber auch weiter; und wie kreativ die ganze Bewegung ist, zeigt die Protestform der Stehenden Männer und Frauen – die gibt es inzwischen auch in Deutschland. Die Sache ist also noch lange nicht vorbei. Keiner weiß, wie das ausgeht, aber die Legitimität und das Ansehen der Regierung sind ausgehöhlt.
Die türkische Regierungspartei AKP hält sich seit zehn Jahren an der Macht und hat auch bei der letzten Wahl, was Erdogan zur Zeit ständig betont, fünfzig Prozent der Stimmen erhalten. Was war das Erfolgsrezept und was hat nun das Fass zu Überlaufen gebracht?
Christoph Neumann: Man kann vereinfacht sagen, dass Regierungen sich halten können, solange es ein Wirtschaftswachstum gibt; und die Türkei konnte in der Tat von 2002 bis 2013 einen zum Teil sehr kräftigen Zuwachs der ökonomischen Leistung verzeichnen, woran die Regierung Erdogan auch ihren Anteil hatte. Deshalb konnte die AKP bis zuletzt Stimmengewinne verbuchen. Die Regierung hat hier sehr geschickt agiert, indem sie dieses Wirtschaftswachstum durch eine neoliberale Politik ermöglicht und gefördert hat. In einem Land wie der Türkei mit relativ geringen Löhnen, relativ hohem Ausbildungsniveau und verkehrsgünstigen Lage zu den reichsten Zentren der Welt hat das für eine gewisse Zeit gut funktioniert.
Welche neoliberalen Maßnahmen hat denn die Regierung Erdogan eingeführt?
Christoph Neumann: Im wesentlichen wurden sämtliche Investitionshindernisse beseitigt und dabei auch hingenommen, dass einige sehr wichtige eigene Industriezweige wie die Textilindustrie extrem geschädigt wurden, um insgesamt im neoliberalen Freihandel so mitmischen zu können, wie andere Nationalökonomien auch. Andererseits sind andere Branchen wie die Pharma- oder Automobilindustrie extrem gewachsen. Der Kapitalverkehr wurde sehr liberalisiert. Solche Maßnahmen gehen zwar nur für eine gewisse Zeit gut, jedoch hatte die Regierung eigentlich gut vorgebaut. Zum einen war das Wirtschaftswachstum sehr stark. Obwohl sich die Schere zwischen arm und reich sich weiter geöffnet hat, sind durch die günstige ökonomische Lage auch die Armen reicher geworden.
Außerdem hat die Regierung einen konservativen und nationalistischen Kurs gesteuert, der zunächst einmal so wirkt, als befinde er sich im Gegensatz zu der neoliberalen Politik, in Wahrheit aber ergänzt er sie. Denn er bietet für die Bevölkerung eine Identifikationsmöglichkeit in einer Situation, in der es ständig Probleme gibt, weil zum Beispiel Arbeitsverhältnisse, die früher stabil waren, inzwischen prekär geworden sind.
Überdies hat diese Art des Regierens ohne viel Kosten zum Teil den kleinen Leuten durchaus etwas gebracht: Früher hat es beispielsweise mehrere parallele staatliche Sozialversicherungssysteme gegeben, die jetzt vereinheitlicht und verbilligt worden sind. Damit existiert heutzutage eine medizinische Grundversorgung, die auch die Bevölkerungsteile erfasst, die sich früher keinen Arzt leisten konnten.
Auf der anderen Seite ist eine anständige Gesundheitsversorgung oder Bildung heutzutage in der Türkei fast ausschließlich nur noch privat zu haben: Soweit ich weiß, gehen sieben Prozent der Schüler auf Privatschulen, da kann man sich in etwa vorstellen, wie der Unterschied zwischen Elite und Nicht-Elite aussieht. In der Situation also, wo die Reichtumsschere weiter aufgeht, hat die Regierung nach meinem Eindruck tatsächlich auf die Bevölkerungsmehrheit gesetzt, die ihr ideologisch, aber auch zum Teil sozial nahe steht. Diese sind konservative, turkophone Sunniten, die in der Provinz leben oder einen provinziellen Hintergrund besitzen und die relativ immun gegen sozialdemokratische oder gar sozialistische Verführungen sind. Die Regierung hat außerdem den Bürgerkrieg in Ost-Anatolien und Nord-Mesopotamien beendet und eine Einigung mit der PKK auf den Weg gebracht, was der AKP in diesem Gebiet gewisse Grundsympathien verschafft hat.
Andere Gruppen scheinen allerdings von der Regierung abgeschrieben worden zu sein: Die Aleviten werden zum Beispiel ganz unnötig provoziert: Nach wie vor haben sie keine institutionelle Unterstützung wie die Sunniten und zuallerletzt wurde die dritte Brücke über Istanbul nach Yavuz Sultan Selim benannt, der im 16. Jahrhundert die Kizilbas, die sich dann zu den heutigen Aleviten entwickelt haben, in großer Zahl hat hinmassakrieren lassen. Das ist so eine ganz deutliche Provokation.
Dann gibt es eine Verschlechterung der Lebenssituation durch die neoliberale Politik: Zerschlagung von sicheren Arbeitsverhältnissen, Interventionen im städtischen Raum, Vernichtung von ökologisch intakten Umweltsystemen, Zerstörung von Wirtschaftssegmenten durch die Öffnung aller Türen für internationale Investoren bei gleichzeitiger Patronage für die eigene Anhängerschaft, das heißt besondere Förderung in den staatlichen Institutionen, also für Polizisten, Lehrer etcetera. Das alles hat dazu geführt, dass sich in den letzten Jahren immer mehr Enttäuschung und Erbitterung angesammelt hat und viele Menschen glauben, dass sie von der Regierung alleine gelassen und nicht mit dem nötigen Respekt behandelt werden.
Wie weitreichend ist die Protestwelle in der Türkei und aus welchen Gruppierungen setzt sich diese zusammen?
Christoph Neumann: Der Protest ist regional ziemlich weitreichend und geht auch bis auf die Ebene kleiner Städte und Dörfer. Gleichwohl ist der Protest nicht überall auf dem Land gleichmäßig dicht, er ist an den Küsten und im Westen deutlich stärker als in der Mitte und in größeren Siedlungen stärker als in kleineren Siedlungen. Was den Protest meiner Meinung nach auszeichnet ist, dass man nicht sagen kann, es sei ein Protest des organisierten Kemalismus, also der säkularen, nationalistischen Staatsideologie Atatürks, der in der Türkei normalerweise gegen die AKP die Opposition stellt.
Es existiert vor allem in Istanbul ein weites Spektrum von organisierten politischen Gruppen, aber auch von Umweltgruppen, Studenten und als marginal bezeichneten Gruppen wie Homosexuellen, Transsexuellen, Migranten. Aber auch Berufsverbände wie die der Architekten und Stadtplaner beteiligen sich an den Protesten.
Gibt es auch islamistische Proteste?
Christoph Neumann: Das Wort „Islamismus“ ist problematisch zu verwenden, weil es zwei Bedeutungen in sich schließt: Zum einen die frommen Leute, zum anderen der politische Islam. Aus beiden gibt es Teilnehmern an den Protesten, aber sie sind nicht die Hauptströmungen und repräsentieren auch innerhalb ihrer eigenen Gruppen Minderheitenpositionen.
Gibt es Ansätze, dass sich der politische Protest sich in Form von Streiks zu einer wirtschaftlichen Dimension auswächst?
Christoph Neumann: Es hat von einigen Gewerkschaften Streikaufrufe gegeben, allerdings ist in der Türkei deren Organisationsgrad außergewöhnlich gering und die Gewerkschaftsbewegung in drei Teile gespalten: Es gibt islamisch und konservative ausgerichtete, kemalistische und weiter links stehende Gewerkschaften, die miteinander konkurrieren und so haben die Streikaufrufe nicht sehr tief gegriffen. Ein Generalstreik, zu dem ein Gewerkschaftsverband für letzten Montag aufgerufen hatte, ist stillschweigend im Sande verlaufen.
Was allerdings nicht unwichtig ist, sind die wirtschaftlichen Dimensionen der Vorfälle auf Seiten der Regierung, denn fast unbemerkt ist in den Tagen des Protestes wieder mal ein besonders heftiges Gesetz verabschiedet worden, indem bislang geschützte Naturgebiete wie Wälder und Küsten für die Bodenschatzsuche frei gegeben worden ist. Das heißt, wenn es zum Beispiel um Ölförderung geht, gelten Bestandsgarantien für Natur oder gewachsene Infrastrukturen künftig nicht mehr.
Agiert Erdogan aus einer Perspektive der Selbstüberschätzung oder ist er von Panik getrieben?
Christoph Neumann: Wir haben bei der Regierung das Bemühen beobachtet, gute und schlechte Demonstranten auseinander zu dividieren: Die radikalen Steineschmeißer und die ökologisch motivierten Parkschützer. Das ist völliger Unsinn, denn es ist sehr offenbar geworden, dass viele Steineschmeißer keine Demonstranten, sondern V-Männer oder Polizisten waren. Die Motivation dahinter verstehe ich allerdings nicht so ganz: Ich habe immer gedacht, dass Erdogan nicht Klügeres tun könne, als einfach abzuwarten bis es Winter wird, beziehungsweise die Sommerferien beginnen. Stattdessen haben all seine Reaktionen auch noch vor seiner Afrikareise die Börse heftig beunruhigt.
Ich kann nur spekulieren, ob Erdogan inzwischen so sehr im U-Boot sitzt, dass ihn die äußere Welt fast nicht mehr erreicht oder ob er in Panik geraten ist, was ich aber nicht annehme. Vielleicht möchte er durch seine schnelle harte Reaktion verhindern, dass sich innerhalb seiner Partei eine Opposition herausbildet und eine Spaltung eintritt.
Allerdings bin ich über seine Vorgehensweise einigermaßen erstaunt, weil ich sie nicht nur für ausgesprochen verbrecherisch, sondern auch für politisch dumm halte. Schließlich verkleinert er seine eigene Basis im Land, indem er den Nimbus als jemand, der alle ansprechen kann, den er bislang hatte, egal ob nun zu Recht oder nicht, völlig zerstört hat. Das wird ihm jetzt keiner abnehmen, weil er auch deutlich gemacht hat, wie viel Macht er wirklich besitzt: Die Polizei gehorcht ihm und das Militär hält still. Das alles ist nun nicht von Vorteil für ihn, deswegen glaube ich auch, es ist auch der Anfang vom Ende der Regierung Erdogan.
Welche politischen und sozialen Auswirkungen werden die Proteste auf das Land haben?
Christoph Neumann: Solche Vorgänge haben ganz klar politische Auswirkungen, aber ich denke nicht, dass es zur Bildung einer neuen großen Koalition gegen die Religiösen kommen wird. Ich glaube auch nicht, dass die Türkei auf einmal zu ein Land mit einer lebendigeren, partizipatorischeren Demokratie wird als beispielsweise Holland, oder dass es zu einem Militärputsch und zu einem Bürgerkrieg kommt. Ich kann mir aber vorstellen, dass die Proteste insofern etwas bringen, als sie die Regierung kurz- und mittelfristig schwächen werden und zumindest auf lokaler Ebene zu einem etwas höheren Organisationsgrad der Gesellschaft führen werden. Jedoch wird bis auf weiteres die Türkei insgesamt immer konservativer werden.
Meine Hoffnung dabei ist, dass die Regierungspartei darüber zerbricht. Denn die Mehrheit der Bevölkerung, auf die sie setzt, hat gerade in der Türkei ein ausgesprochen starkes Bedürfnis nach sozialer Harmonie, die durch Erdogans Konfrontationskurs empfindlich gestört wird. Politik gilt diesen Leuten als schmutzig und anrüchig; deswegen entfremdet politischer Streit diese Leute von Erdogan – auch in dem ihm verbundenen ideologischen Lager. Sogar Präsident Gül hat in den letzten sich selbst sehr distanziert zur Regierungspolitik geäußert.
Repräsentieren die Proteste die Bevölkerungsmehrheit in der Türkei?
Christoph Neumann: Ich fürchte nein, aber das ist auch nicht nötig. Proteste repräsentieren erst einmal nur sich selbst. Was aber ganz wichtig ist, ist dass sie klar gemacht haben, dass Erdogan gleichfalls nicht die ganze Türkei vertritt.
Haben die Proteste auch damit etwas zu tun, dass Erdogan in letzter Zeit versucht hat verschiedene repressive Konzepte wie die Beschränkung des Alkohol- und Tabakkonsums einzuführen?
Christoph Neumann: Das hat nur eine Nebenrolle gespielt, und zwar deswegen, weil zum Beispiel die Einschränkung des Alkoholkonsums die Erdogan durchgesetzt hat, in Bayern zum größten Teil auch gilt. Hier wie dort ist der Verkauf von Alkohol in Läden ist zwischen zehn Uhr abends und sechs Uhr morgens nicht erlaubt. Als durchgesetzt wurde, dass der Konsum von Alkohol an vielen Stellen von Istanbul nicht mehr unter freiem Himmel erlaubt war, hat das dazu geführt, dass das bislang recht diszipliniert eingehaltene Rauchverbot von Kneipen und Gaststätten de facto ignoriert wurde. Außerdem wird das Alkoholverbot von der Bevölkerungsmehrheit der Türkei für gut befunden. Das heißt, diese Maßnahme hat der Bevölkerungsmehrheit gefallen, aber eine weitere kleinere Gruppe der Regierung entfremdet.
In welchen Kontext würden Sie die Proteste setzen: Arabellion oder Occupy?
Christoph Neumann: Ich denke, die Türkei ist zu einem guten Teil ein modernes europäisches Land, deswegen tendieren die Proteste meiner Auffassung nach eher in Richtung Occupy/Bloccupy. Der Protest ist typisch einundzwanzigstes Jahrhundert: Es gibt nicht viele konkrete Ziele, es existiert auch kein direkter Ansprechpartner außer natürlich Erdogan und es gibt keine feste Organisation, geschweige denn Führer. Es ist ein Protest, der sich in der schwammigen und nebligen Atmosphäre der Globalisierung des 21. Jahrhunderts genauso schwammig und neblig wie diese verhält. Ich denke, so etwas entspricht der Vorgehensweise von Occupy/Bloccupy.
Der Antikapitalismus, insbesondere wenn es um Finanzoperationen, Prekariate und Ungleichheiten geht, wird mit konkreteren menschlichen Verhältnissen wie etwa Sexualität und Geschlecht, Stadt und Raum, Natur und Umwelt verknüpft. Diese beiden Bereiche werden miteinander verschränkt. Die Motive der Arabellionen dagegen richteten sich konkret gegen das jeweilige korrupte Regime und auf den Wunsch nach mehr Partizipation.
Was aber parallel ist: Der Protest entspricht bis zu einem gewissen Grad der Konkurrenz zweier Mediensysteme: Zum einem die alten Massenmedien Presse und vor allem Fernsehen, das in den ersten Tagen gar nicht und später aus einer sehr regierungsfreundlichen Perspektive über die Proteste berichtet hat, und alternativ dazu die sozialen Medien und das Internet, bei denen ganz andere Filtermechanismen einsetzen. Durch letztere hat die Bevölkerung mitbekommen, dass es Protest in ihrem Land gibt, die eine ziemlich weite Basis haben, aber von den offiziellen Medien verschwiegen werden. Die Proteste haben das Land verändert. Das Vertrauen in Erdogan wurde schwerwiegend beschädigt.
* Dieses Interview wurde von Reinhard Jellen geführt und am 23. Juni 2013 auf telepolis veröffentlicht.